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Rote Insel

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Die Rote Insel ist ein Viertel im Berliner Stadtteil Schöneberg. Damit gehört die Insel seit der Bezirksreform von 2001 zum VII. Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg, sie stellt aber selbst keine offiziell gebräuchliche administrative Einheit dar. Als soziales Bezugssystem, mithin als typischer Berliner Kiez, fungiert die Insel jedoch in umso ausgeprägterer Weise.

Das Viertel hat sich in seiner Insellage zwischen verschiedenen Bahngleisen als Schönebergs East End herausgebildet und weist eine „rote“ politische Orientierung seiner Arbeiterbevölkerung auf, die erheblichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet hat. Baugeschichtliche Bedeutung haben die Königin-Luise-Gedächtniskirche von 1912 und ein markanter Gasometer – das Industriedenkmal überragt als architektonisches „Wahrzeichen“ die gesamte Rote Insel.

Wahrzeichen der Roten Insel: ein Gasometer

Lage

Im Stadtbild des heutigen Berlin

Das Viertel liegt am südwestlichen Rand der Innenstadt innerhalb des markanten spitzwinkligen Dreiecks, dessen Seiten von den Gleisen der Wannseebahn, der Ringbahn und der Dresdener Bahn gebildet werden. Die Eckpunkte der annähernd dreieckigen Insel sind die Bahnhöfe der Berliner S-Bahn: Schöneberg, Papestraße (ab 2006 voraussichtlich Berlin-Südkreuz) und Yorckstraße (letztere Bezeichnung teilen zwei eigentlich verschiedene, aber nur ca. 300 Meter voneinander entfernt liegende Bahnhöfe, von denen derjenige mit dem Zusatz Großgörschenstraße an der Wannseebahn liegt).

Langenscheidtbrücke, früher Siegfriedsbrücke, an der Monumentenstraße

Im Westen grenzt der ehemalige Ortskern von Schöneberg an die Rote Insel (Kaiser-Wilhelm-Platz und Hauptstraße – die ehemalige Dorfaue). Im Nordosten schließt sich Kreuzberg an, östlich und südöstlich Wohn- und vor allem Gewerbegebiete, die größtenteils bereits zu Tempelhof gehören.

Der „zentrale“ Insel-Kiez

Zwei Straßen durchqueren die Insel als Hauptachsen in west-östlicher Richtung, die (kleinere) Monumentenstraße und die Kolonnenstraße, die bis etwa in die 1980er Jahre hinein als Haupteinkaufsstraße der Insel fungierte.

Die Strassenzüge südlich der Kolonnenstraße und westlich der Naumannstrasse bilden traditionell den eigentlichen Kern des Kiezes. Diese fünf parallel und in Nord-Süd-Richtung angelegten Straßen sind (von West nach Ost) die Cherusker-, Goten-, Leber-, Gustav-Müller- und die Naumannstraße. Diese werden nur von kleineren Straßen gequert, der Leuthener und der Torgauer, sowie der nur wenige Meter langen Roßbachstraße.

Heutzutage ist nicht mehr ohne weiteres erkennbar, dass die außerhalb dieses Kerns gelegenen Straßen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges nur begrenzt als der Insel zugehörig empfunden wurden. Jedoch waren die wie völlig normale Gründerzeit-Wohnhäuser wirkenden Gebäude etwa in der Czeminski- (früher Siegfried-) oder der Hohenfriedbergstraße vielfach Sitz kleiner Büros militärischer oder sonstiger staatlicher Dienststellen bzw. Unterkünfte für Militärangehörige. Die eigentliche Wohnbevölkerung der nördlichen Insel war daher lange Zeit eher klein, stark fluktierend und recht inkohärent; es gab keine Grundlage für die Entstehung des "kiezigen" sozialen Geflechts, das den südlichen Teil schon früh prägte.

Schönebergs East End

Das auf dieser Karte von 1885 noch unbebaute Gebiet der Roten Insel im Dreieck zwischen den Bahngleisen im Schriftzug „Alt“

Der in der nördlichen Dreieckspitze gelegene Alte St. Matthäus-Kirchhof verdeutlicht mit seinem sanft zum Berliner Urstromtal, also zum Spree-Tal abfallenden Gelände die geologische Lage der Insel auf der Hochfläche des Teltow. Der Kirchhof liegt als Inselausläufer auf dem Teltowhang, der sich, wie die nebenstehende Karte von 1885 noch gut erkennen lässt, nach Osten im Kreuzberg und in der Hasenheide fortsetzt. Die Bahngleise, die das Inseldreieck bilden, sind auf der historischen Karte bereits fast vollständig eingezeichnet. Das Gebiet der Insel selbst – genau im Schriftzug Alt von „Alt-Schöneberg“ gelegen– ist zu dieser Zeit noch unbebauter märkischer Sand.

In der komplexen Topographie des modernen Berlin ist kaum mehr erkennbar, warum der Kiez genau dort entstand, wo er liegt. Dabei bietet Schöneberg, das während des 19. Jahrhunderts eine rasante Entwicklung von einer dörflichen Landgemeinde zur selbständigen Stadt erlebte, ein besonders anschauliches Beispiel für ein in ganz Europa erkennbares Phänomen in der Siedlungsgeschichte des Industriezeitalters.

Vom alten Schöneberger Ortskern aus wurden um 1900 zwei sehr unterschiedliche Wohngebiete erschlossen: das noble Bayerische Viertel mit seinen weitläufigen Erholungseinrichtungen wie dem angrenzenden Rudolph-Wilde-Park im Westen, im Osten aber, zwischen Bauernhöfen, Fabriken und den „beiden Eisenbahnen (...) mit ihrem ununterbrochenen Getöse und die Luft verpestenden Kohlendunst“ (so Max Schasler 1868) das zukünftige Arbeiterviertel Schönebergs.

Das angeführte Zitat beinhaltet den Grund dafür, dass in den aufstrebenden Industriestädten Europas die Wohngebiete der einfachen Leute fast immer „im Osten“ zu liegen kamen: in Europa ist die vorherrschende Windrichtung Westen und in den Abgasschwaden und dem Lärm der boomenden Städte siedelte sich vorzugsweise die Bevölkerungsschicht an, die sich nichts Besseres oder Gesünderes leisten konnte. Da diese Tendenz zuerst in England (London, Manchester, Birmingham) erkennbar wurde, spricht man vom East End-Phänomen.

Zur Herkunft des Namens

„Insel“

Gleise begrenzen die „Insel“; Blick vom neuen S-Bahnhof Papestraße
Blick von der Langenscheidtbrücke zum S-Bahnhof Großgörschenstraße (Yorckstraße)

Die geschilderte Lage des Kiezes – „von Trassen umschlossen“ – hat in seiner Entwicklung sowohl in historischer wie soziologischer Hinsicht eine bedeutende Rolle gespielt. Zu Beginn der koordinierten Bebauungsmaßnahmen um 1870–1890 in diesem Teil der damals noch selbständigen Stadt Schöneberg wirkten die bereits im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts angelegten Eisenbahnstrecken unplanmäßig eher als Hindernis für die Erschließung.

Erst in der späten Kaiserzeit zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg verbesserte sich die Verkehrsanbindung nach Alt-Schöneberg und Berlin. Das lag zum einen am rasanten Wachstum der Hauptstadt in das Umland hinein, zum anderen daran, dass der nördliche und östliche Teil der Insel intensiv durch das preußische Militär genutzt wurden.

Insgesamt vier Brücken verbinden seit dem frühen 20. Jahrhundert die Insel mit dem Rest der Stadt: Julius-Leber-Brücke (früher Sedan-Brücke) und Langenscheidt-Brücke (früher Siegfrieds-Brücke) nach Westen und damit Alt- und Neu-Schöneberg sowie Monumenten- und Kolonnenbrücke nach Osten, also Kreuzberg bzw. Tempelhof.

1901 wurde in Höhe der heutigen Julius-Leber-Brücke unter dem Namen Schöneberg ein Bahnhof der Wannseebahn errichtet. Mit der Umbenennung des ehemaligen Bahnhofs Ebersstraße (vorher Maxstraße) in Schöneberg erhielt die weiter nördlich gelegene Station den Namen Colonnenstraße. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und bis heute nicht wieder aufgebaut; die Wiedereinrichtung eines Bahnhofs Kolonnenstraße an der heutigen S1 ist allerdings geplant. Ein weiterer Schritt aus der Isolation war die Einrichtung zweier Straßenbahnlinien (23 und 95), deren Betrieb in den 1960er Jahren eingestellt wurde. Die heutigen Buslinien 187 und 104 folgen auf der Insel weitgehend demselben Verlauf wie die ehemaligen Tramlinien.

Ferner gab es östlich der heutigen Naumannstraße an der Dresdener Bahn seit der Kaiserzeit den „Militärbahnhof“ (fertiggestellt 1874/75). Dieser hatte für die Bevölkerung der Insel kaum eine direkte Bedeutung. Von historischem Interesse ist er, weil von dort im Ersten Weltkrieg ein Großteil der Truppentransporte aus der Hauptstadt abgingen.

„Rot“

Die folgende Anekdote trägt zwar Züge eines Großstadtmythos, aber sie erklärt auf zutreffende Weise, warum die Insel mit dem Attribut „rot“ belegt wurde:

„Als im Jahre 1878 – die SPD war zu dieser Zeit durch das ‚Sozialistengesetz‘ verboten – Kaiser Wilhelm I. nach zwei Attentaten von einer mehrmonatigen Kur nach Berlin zurückkam und die Stadt im Hurra-Patriotismus und einem schwarz-weiß-roten Fahnenmeer versank, hatte der Schöneberger Bierverleger Bäcker aus der Sedanstraße (vor 1937 Name der heutigen Leberstraße) die rote Fahne aus dem Fenster gehängt. Für diese unerhörte Tat wurde er des Landes verwiesen. Das ‚Sedanviertel‘ wurde von da an die ‚Rote Insel‘ genannt.“ (Wenzel, 1983).
Leberstraße/Ecke Gustav-Müller-Platz

Bereits zur Zeit ihrer Entstehung in der Kaiserzeit war die Insel ein Wohngebiet der „kleinen Leute“. Nach der Abschaffung des Sozialistengesetzes (1890) konnte die SPD in diesem Teil Schönebergs ungewöhnlich hohe Stimmenanteile erzielen, was im Lichte des damals in Preußen geltenden Dreiklassenwahlrechts besonders aussagekräftig ist.

Die Bevölkerung der Insel musste im Gefolge der Inflation nach dem ersten Weltkrieg einen spürbaren sozialen Abstieg hinnehmen. In den Jahren der Weimarer Republik gab es hier deshalb einen hohen Anteil von Wählern „roter“ Parteien wie der SPD, USPD und KPD.

Bei der Niederschlagung des Kapp-Putsches von 1920, in dessen Verlauf sich dramatische Ereignisse um das alte Schöneberger Rathaus am Kaiser-Wilhelm-Platz abspielten, kam der „linken“ Bevölkerung der Roten Insel eine wichtige Rolle zu. Eine Gedenktafel am Standort des Alten Rathauses erinnert heute an die Opfer.

Im selben Jahr 1920 wurde die Insel, wie ganz Schöneberg, nach Groß-Berlin eingemeindet. Im Vergleich zu den großen Arbeitervierteln der Hauptstadt wie dem „Roten Wedding“, Neukölln oder Friedrichshain nahm sich das noblere und immer noch vorstädtisch geprägte Schöneberg freilich eher bescheiden aus. Dennoch wagte sich bis zum Ende der Weimarer Republik die SA nur schwerbewaffnet, überfallartig und in großen Trupps auf das von Sympathisanten linker Parteien dominierte Gebiet der Insel.

Gedenktafel an der Julius-Leber-Brücke

Julius Leber (1891–1945), einer der führenden politischen Köpfe der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, arbeitete während der Kriegsjahre unter Tarnung in einer Kohlenhandlung an der Kreuzung Torgauer-/Ecke Gotenstraße. Die ehemalige Sedanstraße und -brücke sind heute nach Leber benannt.

Seit Beginn der 1980er Jahre hat sich das Wahlverhalten der „Inselbewohner“ insofern verändert, als dass die Grünen im Kiez Wahlanteile von oft weit über 20% erzielen.

Andere Benennungen des Viertels

Die Sedanstraße war in der auf die Reichsgründung 1871 folgenden Boomperiode die erste Straße auf der Insel, die planmäßig erschlossen, angelegt, bebaut und besiedelt wurde. Aufgrund dieses „Primats“ sprach man bis etwa zum II. Weltkrieg vom Sedanviertel. Die Sedanstraße wurde auf Weisung der NSDAP 1937 in „Franz-Kopp-Straße“ umbenannt – nach einem SA-Mann, der am 30. März 1933 auf der Roten Insel erschossen worden war.

Bei dieser Umbenennung blieb es nur für die wenigen Jahre bis 1945, und darüberhinaus erklärt auch die oben geschilderte vorherrschende politische Grundeinstellung der „Rotinsulaner“, warum niemals von einem „Koppkiez“ oder etwas Vergleichbarem die Rede war. 1945 erfolgte die bis heute gültige Umbenennung in Leberstraße. Sie hatte jedoch für die Bezeichnung des Kiezes keine Auswirkungen.

Heute wird in bestimmten Zusammenhängen, wie in politisch eher konservativen Kontexten lieber von der Schöneberger Insel gesprochen. Die Insel wird ferner in Zusammenhängen „entfärbt“, in denen ausgesprochene Objektivität oder Neutralität suggeriert werden soll. An dieser Sprachregelung wird dann wiederum kritisiert oder belächelt, dass es sich um eine Form der „Schere im Kopf“ handele – denn der Name Rote Insel ist ja in der Geschichte und Tradition der Gegend begründet und sagt zunächst nichts weiter über die politischen Anschauungen dessen aus, der die Bezeichnung verwendet.

Architektur

Der Gasometer

Gasometer-Detail

Das markanteste Bauwerk der Roten Insel und ihr architektonisches Wahrzeichen ist der 1910 errichtete Riesengasometer. Er war ursprünglich über 50m hoch und konnte bis zu 160.000 m³ Stadtgas speichern, das seinerzeit zur Beleuchtung von Straßen und Wohnungen sowie zum Heizen und Kochen genutzt wurde. Die Englische Gasanstalt wurde von der Imperial International Continental Gas Association betrieben, aber schon 1916 enteignet. Im Ersten Weltkrieg wollte man dieses kriegswichtige Unternehmen in ausschließlich deutschem Besitz wissen.

Bis zu seiner Stillegung 1993 war der Gasometer den Rotinsulanern eher ein Dorn im Auge, was teilweise verständlich ist, da die riesige Anlage den Bewohnern „Luft und Sonne verdrängte“. Zu katastrophalen Explosionen ist es – entgegen vielen Befürchtungen – in der Betriebszeit des Gasometers nie gekommen. Inwieweit es für Menschen und Umwelt Spätfolgen gibt, die direkt auf die giftigen Abfallprodukte der Gasaufbereitung (z. B. Toluol) zurückzuführen sind, ist derzeit nicht bekannt.

Der Gasometer wurde nach seiner Stilllegung unter Denkmalschutz gestellt, da er ein bedeutendes Stück Industriekultur repräsentiert. Heutzutage markiert die kilometerweit sichtbare Stahlkonstruktion deutlich die Lage der Roten Insel im Berliner Häusermeer. Pläne für eine kulturelle Nutzung gibt es seit geraumer Zeit, doch ist deren Umsetzung infolge der schlechten Haushaltslage der deutschen Hauptstadt in näherer Zukunft unwahrscheinlich.

Bahnhof Berlin Papestraße

Blick vom neuen Bahnhof Papestraße zum „Wahrzeichen“

Mit dem Bahnhof Berlin Papestraße soll 2006 einer der größten hauptstädtischen S- und Fernbahnhöfe in Betrieb genommen werden, der in Zukunft voraussichtlich Berlin Südkreuz heißen wird. Ob sich Spekulationen über gravierende Veränderungen in der Lebenswelt der Roten Insel durch den Bahnhof bewahrheiten, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehbar.

Kirchen und öffentliche Gebäude

Die beiden wichtigsten Kirchen der Roten Insel sind

Katholische St. Elisabethkirche von 1911 in der Kolonnenstraße

Wie im kaiserzeitlichen Berlin üblich, wurde der evangelischen Kirchengemeinde ein vergleichsweise repräsentativer Platz für den Bau einer freistehenden Kirche zuerkannt, in diesem Fall der Gustav-Müller-Platz. Die in Berlin eher seltene Bauform der „Saalkirche“ und die markante Kuppel des Baus geben dem Platz bis heute sein Gepräge.

Die katholische Gemeinde der Insel war zur Zeit der Weihe von St. Elisabeth für Berlin verhältnismäßig groß – mit über 5000 Gläubigen stellte sie annähernd 20 % der Bevölkerung, was wiederum dafür spricht, dass im Kiez viele Zuwanderer aus anderen Teilen Preußens und des Deutschen Reiches lebten. Dennoch ist St. Elisabeth recht unscheinbar in die nördliche Häuserzeile der Kolonnenstraße eingezwängt.

Auf der Insel gibt es zwei historische, kleine und schöne Friedhöfe, den Zwölf-Apostel- und den berühmteren Alten St. Matthäus-Kirchhof. Beide gehören nicht zu einer Insel-Gemeinde, der letztere nicht einmal zu einer aus Schöneberg: St. Matthäus befindet sich im südlichen Tiergarten (dem ehemaligen „Geheimratsviertel“). Ihren Begräbnisplatz hatte die Gemeinde jedoch an der Großgörschenstraße. Hier liegen die Gräber solcher großbürgerlichen Berühmtheiten wie Jacob und Wilhelm Grimm, Rudolf Virchow und Max Bruch.

Als die Bevölkerung der Insel zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf knapp 30 000 Menschen angewachsen war, begannen der preußische Staat und die Stadt Schöneberg die dortige Infrastruktur auszubauen. Auf einem Gelände an der Kolonnenstraße wurden ab 1892 die IV. und V. Gemeindeschule errichtet. Auf dem straßenseitigen Teil desselben Grundstücks entstand 1908 die Fichte-Realschule und eine zehnklassige Höhere Mädchenschule. Diese beiden Gebäude sind noch erhalten und beherbergen heute die Robert-Blum-Oberschule.

Historischer Zwölf-Apostel-Friedhof

Viele öffentliche Bauten der Kaiserzeit auf der Insel standen im Zusammenhang mit der hier stationierten Garnison des 1. Preußischen Eisenbahnbataillons. Neben der eigentlichen Kaserne an der „Fiscalischen Straße“ (1920–36 Immelmannstraße, heute Kesselsdorfstraße) gab es zahlreiche der militärischen Infrastruktur dienende Zweckbauten. Diese wurden im Laufe der Jahre mehr und mehr abgerissen oder stark umgebaut.

Selbst die heute rein „zivil“ genutzten Wohnhäuser der nördlichen Insel, etwa an der Czeminski-, Brunhild- und Hohenfriedbergstraße, waren vielfach von der Armee in Beschlag genommen. Hier gab es nicht nur die Büros verschiedenster militärischer Dienststellen. Auch die Wohnungen wurden zur Unterbringung von Armeeangehörigen genutzt, da die staatlich verordneten Einquartierungen bei den Hausbesitzern der südlichen Insel äußerst unbeliebt waren.

Die kaiserzeitliche Wohnbebauung

„Einfachere“ Bebauung in der Leberstraße
„Großbürgerliche“ Bebauung Naumann-/Ecke Kolonnenstraße

Diese macht den Großteil der Bauten auf der Insel aus und unterscheidet sich nicht wesentlich von anderen innerstädtischen Berliner Ortsteilen. Es handelt sich in der Regel um höchstens fünfstöckige Gebäude, in denen außer Wohnungen auch kleine Läden und Gewerbebetriebe untergebracht waren. Die heute noch weitgehend vorhandene Bausubstanz wurde in drei Phasen errichtet:

  • 1882–1895
  • 1898–1907
  • 1912–1918

Auf der Insel ermöglichten es einige glückliche Umstände, das spezielle Flair des Kiezes bis auf den heutigen Tag zu bewahren. Zunächst sah der Bebauungsplan der Insel (festgesetzt in den Jahren 1884 und 1892/93) relativ kleine Parzellen vor. Das hatte zur Folge, dass die Häuser höchstens zwei Quergebäude und ein Hinterhaus haben: die als Folge des Hobrechtplans (1862) entstandenen prekären Wohnverhältnisse der Mietskasernen anderer Berliner Arbeiterviertel mit vielen aufeinanderfolgenden Hinterhöfen ohne Licht und Luft entwickelten sich hier nicht.

Der Hobrechtplan hatte zwar eine Bebauung der nördlichen Insel mit großen Mietskasernen vorgesehen, doch bewirkten der Ausbau der Gleisanlagen und der Widerstand des Schöneberger Ortsvorstands, dass es dazu nicht kam.

Wären die gigantomanischen Planungen von Adolf Hitler und Albert Speer für die Umgestaltung Berlins zur Welthauptstadt Germania auch nur im Ansatz realisiert worden, so wäre die Insel vermutlich als einer der ersten Berliner Kieze komplett dem Abriss anheim gefallen. Wie greifbar diese Aussicht war, zeigen nicht nur etliche erhaltene Dokumente aus Speers Behörde, in denen dieser Abriss des so genannten „Bezirkes 25“ bis ins Detail projektiert wurde. Besonders makaber ist die Episode um die „Arisierung“ des Kaufhauses Lesser (Kolonnen-/ Ecke Leberstr.): Susette Lesser, der Witwe des Gründers, war es 1939 gelungen, einen Verkauf des Grundstücks und Geschäfts zu für die Zeitumstände günstigen finanziellen Konditionen zu arrangieren, die ihr die Emigration ermöglicht hätten. Die NS-Verwaltung untersagte den Verkauf mit eben der Begründung, das Gebäude werde ohnehin in kurzer Zeit abgerissen und sei daher wertlos. Frau Lesser wurde im Oktober 1941 ins Getto von Lodz deportiert, über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt – das Haus, das ihr Mann im Jahre 1906 erworben hatte, steht noch heute.

Auch von den Folgen der alliierten Luftangriffe während des Bombenkriegs, die Berlin 1944 und 1945 besonders hart trafen, blieb die Insel weitgehend verschont [1]. Die kaiserzeitliche Bausubstanz ist größtenteils intakt erhalten – wenn man von einigen „Bausünden“ der 1960er bis 1980er Jahre absieht.

Schließlich bewirkte das Engagement der Bevölkerung in den 1970er und 1980er Jahren, dass die so genannte „Kahlschlagsanierung“, die den Kiez womöglich dem Konzept der „autogerechten Stadt“ geopfert hätte, der Insel erspart blieb.

Die Insel seit der „Wende“

Die beengten Wohnverhältnisse des vorigen Jahrhunderts – bedingt durch Wohnungsknappheit, große Familien, Schlafgänger und Einquartierungen – existieren gegenwärtig nicht mehr. In der Zeit von 1920–1960 hatte die Einwohnerzahl der Insel gleichmäßig um die 35.000 betragen, heute wohnen etwa 13.000 Menschen im Kiez, bei einem Ausländeranteil von rund 20 %.

Wie erwähnt, befanden sich früher in der Mehrzahl der Insel-Wohnhäuser kleine Läden, Kneipen und Gewerbebetriebe, deren Zahl seit den 1980er Jahren stark zurückgegangen ist. Das lag zum einen an der seit dieser Zeit betriebenen Verkehrsberuhigung vieler Straßenzüge, ist aber auch eine Folge der Wiedervereinigung Berlins: aus dem – seit 1989 bei weitem nicht mehr so zentral gelegenen – Schöneberger Ortskern fand eine Auswanderung in Richtung Berlin-Mitte statt, und die Insel befand sich vollends in einer ungünstigen Randlage.

Für die Lebensqualität des Kiezes erwiesen sich diese Entwicklungen aber als keineswegs ausschließlich negativ. Die leerstehenden Flächen wurden und werden vielfach in einer für Berlin ohnehin typischen Weise als Ladenwohnungen genutzt. Der Altersdurchschnitt der Inselbevölkerung ist selbst für die Situation des modernen Berlin auffallend niedrig (unter 15 % über 60-Jährige), was vor allem die südliche Insel zu einer sehr kinderreichen Gegend macht. Dabei fällt auch die bemerkenswert hohe Dichte an Kinderläden auf.

In ihrer politischen Grundhaltung haben sich die Rotinsulaner dagegen ihre Tradition bewahrt. Bei Wahlen ergibt sich seit Jahren immer ein ähnliches Bild: SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU erringen jeweils um die 30 % der Stimmen, die PDS brachte es zuletzt auf bis zu 7 %.

(Alle Zahlen basierend auf Angaben des Statistischen Landesamts Berlin)

Persönlichkeiten

Detail der Gedenktafel am Geburtshaus von Marlene Dietrich, Leberstraße 65
  • Mit Sicherheit die berühmteste Tochter der Roten Insel ist Marlene Dietrich (1901–1992), die im Haus Leberstraße 65 geboren wurde. Der „Blaue Engel“ ist eine allgegenwärtige Figur im Lokalkolorit des Kiezes: das reicht von Wandgemälden bis zu einem Restaurant, das nach einem ihrer populärsten Filme benannt ist.
  • Der expressionistische Schriftsteller Paul Zech (1881–1946) lebte von 1925–1933 im Haus Naumannstraße (bis 1929 Königsweg) 78.
  • Der erwähnte Widerstandskämpfer Julius Leber (1891–1945) gab der Leberstraße den Namen
  • Der CDU-Politiker und zweite Bundestagspräsident Hermann Ehlers (1904–1954) wurde in der Gotenstraße 6 geboren.
  • Willi Stoph (1914–1999), SED-Politiker und unter anderem langjähriger Vorsitzender des Ministerrats der DDR, verlebte seine Kindheit und Jugend ebenfalls auf der Roten Insel – auch seine Eltern wohnten in der Sedanstraße (Leberstraße).
  • Hildegard Knef (1925–2002) verbrachte einen großen Teil ihrer Kindheit (sie war Halbwaisin) bei ihren Großeltern auf der Insel.
  • Alfred Lion (1909–1987), der 1939 mit seinem (aus dem Bezirk Tiergarten stammenden) Jugendfreund Frank Wolff im New Yorker Exil das später weltberühmte Jazz-Label Blue Note Records gründete, wurde in der Gotenstraße 7 geboren.
  • Friedrich Naumann (1860–1919), liberaler Politiker und Theologe der Kaiserzeit, nach dem heute die der FDP nahestehende Stiftung benannt ist, wohnte von 1901–1906 in der Hohenfriedbergstraße 11 und von 1906–1919 am Königsweg 4 (heute Naumannstraße 24).
Naumannstraße 24/Ecke Gustav-Müller-Platz, Wohnhaus von Friedrich Naumann zwischen 1906 und 1919

Trivia

  • Rote Insel heißt auch das Haus Mansteinstraße 10/10a. Es wurde während des so genannten West-Berliner „Häuserkampfs“ am 7. Januar 1981 als erstes Haus in Schöneberg besetzt. Da es einige Meter westlich des S-Bahnhofs Großgörschenstraße steht, befindet es sich allerdings strenggenommen außerhalb des Kiezes, auf dessen linke Tradition sich das Hausprojekt bis heute so prononciert bezieht.
  • Ein anderer mit dem Industriezeitalter eng verbundener Ort heißt ebenfalls Rote Insel, nämlich der US-Bundesstaat Rhode Island (ursprünglich niederländisch: roode eiland).

Literatur

  • Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.): Die Rote Insel Berlin-Schöneberg. Bruchstücke zu einer Stadtgeschichte. Dirk Nishen Verlag, Berlin 1987, ISBN 3-88940-131-7
  • Helmut Winz: Es war in Schöneberg. Aus 700 Jahren Schöneberger Geschichte. Berlin 1964
  • Ulf Mailänder/Ulrich Zander: Das kleine West-Berlin Lexikon. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2003, ISBN 3-89602-518-X
  • Gisela Wenzel: Die Rote Insel. in Spurensicherung in Schöneberg 1933 hrsg. von der Berliner Geschichtswerkstatt, Berlin 1983

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