Motonormativität

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Straßenszene in Island 2014: Kinder tragen auffällige normierte Kleidung, um nicht überfahren zu werden, da der Autoverkehr angeblich eine zu akzeptierende Gefahr ist, an die sich andere anpassen müssen.

Motonormativität (englisch motornormativity, windshield bias oder car brain) ist ein aus dem Englischen stammender Begriff für eine kognitive Verzerrung, bei der davon ausgegangen wird, dass Besitz und Nutzung von Kraftfahrzeugen eine unauffällige Soziale Norm ist.[1] Dabei werden u. a. der Nutzen von Personenkraftwagen über- und die Risiken unterschätzt (siehe auch Halo-Effekt). Diese Fehleinschätzung treffen allerdings nicht nur Autofahrende,[2] sondern auch andere Verkehrsteilnehmende.[3]

Begriffsprägung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Begriff wurde von dem Psychologen Ian Walker und Kollegen in einer 2023 veröffentlichten Studie geprägt.[3][4]

Beschreibung und Bedeutung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Motonormativität ist kein Vorurteil, das sich nur auf Autofahrer beschränkt, sondern ein Merkmal autozentrierter Gesellschaften.[5] Walker hat argumentiert, dass eine Folge der motonormativen Voreingenommenheit darin besteht, dass jeder Versuch, die Autonutzung zu reduzieren, nicht als das gesehen wird, was er ist, sondern als Versuch interpretiert wird, die persönliche Freiheit zu beschneiden.[5] Dieser Effekt wurde nicht nur im bekanntermaßen autoabhängigen Nordamerika, sondern weltweit dokumentiert.[6][7]

Während der Begriff in den 2020er-Jahren geprägt wurde, haben bereits im frühen 20. Jahrhundert erste Kritiker wie Lewis Mumford die Entwicklung hin zur Motonormativität beschrieben und kritisiert. Als Ursache von Motonormativität kann man die Sozialisierung in einer vom Automobil abhängigen Gesellschaft sehen. Eine solche hat sich in westlichen Ländern und insbesondere in den USA gegen Ende des Zweiten Weltkriegs unter dem Einfluss der Automobil- und Ölindustrie durch massiven Lobbyismus und Beeinflussung der öffentlichen Debatte rasch entwickelt.[8]

Farbholzschnitt-Plakat aus dem Jahr 1937 mit einer Mahnung vor dem „Jaywalking“ (Überqueren einer Straße an einer willkürlichen Stelle).

Als Beispiel für die Entwicklung der öffentlichen Debatte um den Vorrang im Straßenraum wird oft der im Englischen eingeführte Begriff des „Jaywalkings“ angeführt (Englisch für das Überqueren einer Straße bei roter Ampel oder jenseits von Zebrastreifen).[9] Dieser wurde in den 1930er Jahren geprägt und führte zu einer Verschiebung der öffentlichen Wahrnehmung in der Diskussion um soziale Normen und akzeptierte Verhaltensformen in der Stadt, mit der auch eine Verschiebung der Schuldzuweisung einherging.[9]

Walker hat bestimmte Verkehrssicherheitskampagnen, die sich an Kinder richten, als Beispiel für Motonormativität angeführt: Indem sie Kinder ermutigen, bunte Kleidung zu tragen, um nicht überfahren zu werden, normalisieren solche Kampagnen die Vorstellung, dass der Autoverkehr eine zu akzeptierende Gefahr ist, an die sich andere anpassen müssen, und zwar in einer Weise, die in anderen Zusammenhängen als Täter-Opfer-Umkehr erkannt werden würde.[5] Ein weiteres Beispiel für Motonormativität ist gesundheitsschädliche Luftverschmutzung. Während drei von vier Befragten es für inakzeptabel hielten, in der Nähe von Unbeteiligten zu rauchen, wird die enorme gesundheitliche Belastung durch Kraftfahrzeuge mit Verbrennungsmotor weitestgehend akzeptiert.[1][10]

Die Motonormativität kann sich auf Planungsentscheidungen auswirken, so dass z. B. ein neues Krankenhaus außerhalb der Stadt gebaut wird, obwohl es dadurch für Stadtbewohner, die kein Auto benutzen, schlechter erreichbar ist.[3] Aktivist Raúl Aguayo-Krauthausen und Autorin Katja Diehl argumentieren, dass bei der konventionellen, autofokussierten Städteplanung die Belange von Menschen, die beispielsweise aus körperlichen oder finanziellen Gründen nicht Auto fahren können, nicht ausreichend berücksichtigt werden.[11]

Lösungsansätze

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Durch bewusste Infrastrukturplanung kann der negative Einfluss von Motonormativität verringert werden. Obwohl die Probleme einer auf das Automobil fokussierten Infrastrukturplanung seit Jahrzehnten bekannt sind[12], wurde bisher nur wenig dagegen unternommen. Als entscheidende Faktoren für den Umstieg auf umweltfreundlichere Alternativen werden oft Verfügbarkeit und Sicherheit derselben angesehen.[13] Als Vorreiter gelten Städte wie Utrecht, wo das Fahrradfahren erfolgreich als alternative Fortbewegungsmethode gefördert wurde.[14]

  1. a b Ian Walker, Alan Tapp, Adrian Davis: Motonormativity: how social norms hide a major public health hazard. In: International Journal of Environment and Health. 11. Jahrgang, Nr. 1, 2023, S. 21–33, doi:10.1504/IJENVH.2023.135446 (englisch).
  2. Joël Hazan, Benjamin Fassenot, Ammar A. Malik, Joanna Moody: What Drives Drivers? How to Influence Mobility Behaviors. In: Boston Consulting Group. Henderson Institute, 2020, abgerufen am 1. September 2024 (englisch).
  3. a b c Walker P: 'Motonormativity': Britons more accepting of driving-related risk In: The Guardian, 17. Januar 2023 (englisch). 
  4. Hawkins AJ: Cars are rewiring our brains to ignore all the bad stuff about driving. In: The Verge. 31. Januar 2023; (englisch).
  5. a b c Ro C: 'Motonormativity': The bias that leads to dangerous driving. In: BBC Home. 7. März 2024; (englisch).
  6. Kaitlin T: 'Everyone has Car Brain'. In: Atlantic. 23. Mai 2023; (englisch).
  7. Tara Goddard: Windshield Bias, Car Brain, Motornormativity: Different Names, Same Obscured Public Health Hazard. In: Findings. August 2024, doi:10.32866/001c.122974 (englisch).
  8. Spencer R. Scott: A Grand Theft Auto Industry: Stole Our Streets and Our Future. In: Medium. 28. August 2023, abgerufen am 1. September 2024 (englisch).
  9. a b Emily Badger: The Invention of Jaywalking: How the Car Industry Outlawed Crossing the Road. In: Vox. 15. Januar 2015, abgerufen am 1. September 2024 (englisch).
  10. Elmar Uherek, James Haskins, Steve Smith, Stephan Thiel, Marc Gruppe: Transport impacts on atmosphere and climate: Land transport. In: Atmospheric Environment. 41. Jahrgang, Nr. 37, 2007, S. 8597–8601, doi:10.1016/j.atmosenv.2007.02.002 (englisch).
  11. Sind autofreie Innenstädte die Zukunft? | 13 Fragen. (YouTube) In: ZDFheute Nachrichten. 20. September 2023, abgerufen am 1. September 2024.
  12. Peter Newman, Jeffrey Kenworthy: Sustainability and Cities: Overcoming Automobile Dependence. Island Press, 1999, ISBN 978-1-55963-660-5 (englisch).
  13. Kevin O'Brien: Experimental Investigation into the Effect of Electric Vehicle Charging on the Power Grid. In: Utrecht University Student Theses Repository. 2023, abgerufen am 1. September 2024 (englisch).
  14. Radeln Richtung Verkehrswende. (YouTube) In: ARTEde. 11. Juli 2024, abgerufen am 1. September 2024.

Weitere Informationen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]