Harvard-Preisausschreiben von 1939

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Das Harvard-Preisausschreiben von 1939 war ein wissenschaftliches Preisausschreiben, das von drei Forschern der amerikanischen Harvard University als eine Studie über die Konsequenzen der Machtergreifung der Nazis in Deutschland angelegt war. Über Flugblätter[1] sowie weltweiten Anzeigen in Tages- und Exilpresse[2][3] wurden deutsche und österreichische Emigranten aufgerufen, ihr Leben vor und nach dem 30. Januar 1933 zu beschreiben. Ausgesetzt war ein teilbares Preisgeld von 1000 $, über 260[4] Manuskripte wurden zum Abgabeschluss am 1. April 1940 eingereicht. Der Berufswechsel und frühe Tod des Hauptinitiators, des Soziologen Edward Hartshorne, verhinderten die geplante Veröffentlichung, die Manuskripte wurden archiviert und dann vergessen. Erst seit den 1990er Jahren[4] beschäftigen sich neue Forscher mit der Analyse der in der Houghton Library der Harvard University konservierten Biografien.[5]

Die Vorläuferstudie 1934 von Theodore Abel

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Die Methode, durch literarische Preisausschreiben autobiografische Beiträge zu sammeln, folgte einem früheren Beispiel: 1934 hatte ein Soziologe der Columbia-Universität in New York, Theodore Abel, ein ähnliches Preisausschreiben lanciert. Während eines Forschungsaufenthaltes in Deutschland schrieb Abel in Zusammenarbeit[6] mit der NSDAP einen Wettbewerb aus, um Selbstauskünfte von Nationalsozialisten zu erhalten, die vor schon 1933 in die Partei eingetreten waren. Damit sollten persönliche Berichte über Eintrittsmotive und Lebensläufe der frühen Anhänger gesammelt und erforscht werden. Abels Aufruf stieß bei den stolzen „Alten Kämpfern“ auf enthusiastische Resonanz: Er erhielt über 600 Einsendungen[7][8][9][10], die er 1938 in Buchform mit dem Titel: "Warum Hitler an die Macht kam"[11] veröffentliche. Doch gab es auch Vorwürfe: die unreflektierte Wiedergabe des NS-Vokabulars in den Texten grenze an Verharmlosung, so ließ es Edward Hartshorne in einer Rezession des Buches anklingen[4]. 1939 initiierte Hartshorne mit zwei weiteren Forschern einen Wettbewerb zu einer neuen Studie. Nun sollten die vor der Regierung ins Exil Geflüchteten zu Wort kommen.

Das als Studie geplante Preisausschreiben

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Zur Forschergruppe der Harvard University gehörte neben dem Soziologen Edward Hartshorne der Sozialpsychologe Gordon Allport sowie der Historiker Sidney Fay. Die Vorgaben der Wissenschaftler waren präzise: Persönlichen Erinnerungen sollten "möglichst einfach, unmittelbar, vollständig und anschaulich" niedergeschrieben werden, könnten "beliebig lang" sein, sollten aber "ein Minimum von "20.000 Worten betragen"[1]. Teilnehmen dürfe jeder, der aus eigener Erfahrung berichten könne, wie sich der Alltag unter den Nationalsozialisten verändert habe. Durch eine Zusammenarbeit mit der Zeitschrift The Atlantic Monthly[12] waren die Wissenschaftler in der Lage, das stattliche Preisgeld von 1000 $ zur Verfügung zu stellen. Gedacht war, Beitrage später in der Zeitschrift zu veröffentlichen.

Einsendung und Inhalt der Manuskripte

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263 Manuskripte[10] trafen bis zum Einsendeschluss am 1. April 1940 ein. Geschrieben von Emigranten, die inzwischen in den USA lebten, in Palästina, England, Frankreich, in der jüdischen Diaspora in Shanghai, in Südamerika und Australien[13]' oft isoliert oder finanziell in prekären Situationen. Andere schrieben unter einem Pseudonym, die Möglichkeit war eingeräumt, und verschlüsselten Namen und frühere Wohnorte aus Furcht um das Wohlergehen der noch in Deutschland lebende Familie. So wurde aus der Heimatstadt Kiel des in die Schweiz geflüchteten Autors Eric Munk[14] „eine Hafenstadt in Norddeutschland“, er selbst nannte sich „Peter“, sein Bruder Hans-Ulrich[15] wurde zu „Marius“.[16] Gemein war den Autoren der Zeitdruck,[17] acht Monate für das Verfassen des Manuskripts, weniger Zeit, wenn sie erst später von der Ausschreibung erfahren hatten.

Die jüdischen Teilnehmer, meist mit Schreibkompetenz[17] und höherer Schulbildung, waren in Deutschland Geisteswissenschaftler, Ärzte und Ärztinnen, Angestellte, Rechtsanwälte gewesen. Was sie verband waren Erinnerungen an die grausame Brutalität, die Brandstiftungen, Zerstörungen und Plünderungen der Pogromnacht: "Nichts von dem, was an Leiden, an Entbehrung, an Demütigungen und an Schrecklichem dieser Zeit vorherging, ist mit dieser einen Nacht zu vergleichen" formuliert der aus Köln emigrierte Hugo Moses[18] in seinem Rückblick[4]. Erinnert wird an "Tage der Erstarrung – Nächte des Grauens"[19] im Konzentrationslager, die folgende Haft im Untersuchungsgefängnis empfand Hilde Schottlaender im Vergleich als fast human. Die Berliner Ärztin Hertha Nathorff beschloss in ihrem Tagebuch, Ende November 1938: "Nie mehr zurück in dieses Land, wenn wir es erst lebend verlassen haben"[20]. Doch vor dem Verlassen gab es die Schwierigkeiten der Ausreise mit fast unüberwindbaren, bürokratischen und kostspieligen Hürden. Zurück lassen mussten sie die, deren „Pässe von der Regierung entzogen“ und damit jede Möglichkeit zur Ausreise genommen wurde, meistens eine Garantie für den Tod.[21]

Die eingereichten Preisschriften wurden von den Juroren unter Einbeziehung ihrer wissenschaftlichen Methoden[10] bewertet. Entschieden wurde eine Aufteilung zwischen dem sozialdemokratischen Journalisten Carl Paeschke, der die erste Preisprämie von 500 $ mit der geborenen Österreicherin Gertrud Wickerhauser Lederer teilte.[4] Weitere Prämien wurden ebenso gespaltet, so dass die fünften Plätze jeweils 20 $ erhielten. Nichtberücksichtigte Teilnehmer mussten sich mit dem Verzicht auf die schwer erhoffte finanzielle Unterstützung abfinden.[22]

Der weitere Verlauf

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Geplant hatte Hartshorne, aus den Aufsätzen ein Buch mit dem Titel "Nazi Madness: November 1938" zu machen. Seine Veröffentlichung sollte die amerikanische Bevölkerung wachrütteln, die Bedrohung durch den Nationalsozialismus ernst zu nehmen[4]. Das Buchprojekt wurde verschoben, als Hartshorne im September 1941 einen Posten beim US-Nachrichtengeheimndienst antrat, der ihm eigene Publikationen verbot. Bei Kriegsende zog er als Verantwortentlicher für die Wiedereröffnung deutscher Universitäten der amerikanischen Besatzungszone nach Marburg, später wurde er zum Entnazifizierungsoffizier für Bayern ernannt[23]. Am 28. August 1946 wurde Hartshorne durch einen Kopfschuss aus einem vorbeifahrenden Jeep der US-Armee auf der Autobahn in der Nähe von Nürnberg getötet[24]. Da der mutmaßliche Täter kurze Zeit später von US-Truppen erschossen wurde[25], soll, einer Legende nach, das Motiv[4] für Hartshornes Tod sein eigenes Engagement bei der Entnazifizierung in Deutschland gewesen sein. Das Counter Intelligence Corps, die Spionageabwehr des US-Heeres, hatte 1946 begonnen, hochrangige Nationalsozialisten aus Osteuropa nach Südamerika zu schleusen, um sich so ihre Spionagekenntnisse über die Sowjetunion zu sichern[26]. Hartshorne hätte aus Empörung darüber Informationen an die Ostmächte weitergegeben[4] und wäre so zum Feind des Geheimdienstes geworden.

Die Manuskripte wurden archiviert. Unveröffentlicht blieb die geplante Studie, die den Kandidaten als „eine Untersuchung der (...) seelischen Wirkungen des Nationalsozialismus auf die deutsche Gesellschaft“[1] angepriesen wurde. Darauf hatte die in Berlin geborene Ida Fanny Lohr in ihrem Aufsatz gehofft: Wenn sie es schaffen würde, „dem Leser ein (...) Bild jener Weltseuche zu verschaffen, die sich Nationalsozialismus nennt, so ist damit ein Hauptzweck erfüllt, der Kulturwelt zu zeigen, auf welche niedere Stufe die deutsche Zivilisation gesunken ist“.[27] Erst Jahrzehnte später bemühten sich Forscher wieder um diesen Ansatz der analytische Aufarbeitung.

Veröffentlichung ausgewählter Zeugnisse und ihre Analyse:

  • Detlef Garz: Von den Nazis vertrieben. Verlag Barbara Budrich, 2021, ISBN 978-3-8474-2578-6, doi:10.3224/84742578 (oapen.org [abgerufen am 12. August 2024]).
    Garz erklärt das forschungspraktische Vorgehen der Datenerhebung und -auswertung. Er kategorisiert die Motive der Teilnehmer und beschreibt die Rolle der Frau in der Emigration. Analysiert werden unter sozialpsychologischen Aspekten Biografien ausgesuchter Teilnehmer, zusätzlich belegt er mit ausgewählten Manuskripte „biografische Veränderungsprozesse“ und das Konzept der „moralischen Aberkennung“.
  • Mary Fulbrook: Bystander Society. Conformity and Complicity. Oxford University Press, 2023, ISBN 978-0-19-769171-7, doi:10.1093/oso/9780197691717.001.0001.
    Fulbrook erforscht anhand der Manuskripte die Gleichgültigkeit der deutschen Bürger, den Zuschauereffekt und die Bedingungen, unter denen Menschen passiv bleiben. Mit Auszügen aus den Biografien der Opfer dokumentiert sie den Weg von der Konformität zur Fügsamkeit, von der Komplizenschaft zum Täter.[28]
  • Detlef Garz, Nicole Welter: Autobiographien von überzeugten Nazis und von vertrieben Deutschen. Neue Ansichten auf zwei Forschungsprojekte aus den 1930er Jahren. Verlag Barbara Budrich, 2024, ISBN 978-3-8474-2743-8. Betrachtung der zwei Preisausschreiben im Vergleich, auch unter Einbeziehung der Lebensverläufe der Nachkriegszeit.

Kommentierte Editionen der Originaltexte:

  • Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, Dokumentarfilm Sigrid Faltin (2002)[29]
  • Ma vie dans l'Allemagne d'Hitler, Dokumentarfilm, Jérôme Prieu. ARTE editions (2017)
  • My life in Germany contest papers. Autobiographical essays submitted for a Harvard-sponsored contest by those who lived in Germany in 1933. In: Houghton Library. Harvard University; (englisch, Archiv der Originalmanuskripte).

Einzelnachweise

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  1. a b c Harvard Preisausschreiben. In: uni-kiel.de. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 15. November 2021, abgerufen am 12. August 2024.
  2. PRIZE FOR NAZI STORIES; Harvard Faculty Men Seek Personal Histories of Experiences. In: NYtimes.com. NY Times, 7. August 1939, abgerufen am 28. Juli 2024 (englisch).
  3. Ein $1000-Preisausschreiben für Berichte aus dem Dritten Reich. In: Deutsche Digitale Bibliothek. 15. August 1939, abgerufen am 13. August 2024 (deutsch, englisch).
  4. a b c d e f g h Norbert F. Pötzl: "Nie mehr zurück in dieses Land". In: Spiegel. Der Spiegel GmbH & Co. KG, 8. Mai 2018, abgerufen am 28. Juli 2024.
  5. My life in Germany contest papers. In: Houghton Library. Harvard University, abgerufen am 28. Juli 2024 (englisch, Archiv der Originalmanuskripte).
  6. Detlef Garz: Von den Nazis vertrieben. Verlag Barbara Budrich, Opladen/Berlin/Toronto 2021, ISBN 978-3-8474-2578-6, S. 22.
  7. Detlef Garz: Von den Nazis vertrieben. Verlag Barbara Budrich, Opladen/Berlin/Toronto 2021, ISBN 978-3-8474-2578-6, S. 25.
  8. Theodore Fred Abel Papers. In: digitalcollections.hoover.org. Stanford University, abgerufen am 11. August 2024 (englisch, deutsch).
  9. Norbert F. Pötzl: Wie Nazis erklärten, warum sie Nazis wurden. In: Der Spiegel. 30. April 2018, abgerufen am 11. August 2024.
  10. a b c Detlef Garz, Nicole Welter: Autobiographien von überzeugten Nazis und von vertriebenen Deutschen. Neue Ansichten auf zwei Forschungsprojekte aus den 1930er Jahren. Hrsg.: Nicole Welter. Verlag Barbara Budrich, Opladen/Berlin/Toronto 2024, ISBN 978-3-8474-2743-8, S. 95,162, 221, 296.
  11. Theodore Abel: Why Hitler Came into Power. Harvard University Press, 1986, ISBN 978-0-674-95200-3 (englisch).
  12. Detlef Garz: Von den Nazis vertrieben. Verlag Barbara Budrich, Opladen/Berlin/Toronto 2021, ISBN 978-3-8474-2578-6, S. 40.
  13. Detlef Garz: Von den Nazis vertrieben. Verlag Barbara Budrich, Opladen/Berlin/Toronto 2021, ISBN 978-3-8474-2578-6, S. 40.
  14. Online-Archivkatalog des Stadtarchivs Zürich: Eric Munk (1902-1991)
  15. Siehe Stolpersteine für die Familie Haller-Munk in Kiel (der Name auf den Stolpersteinen ist fehlerhaft).
  16. Mary Fullbrook: Bystander Society. Conformity and Complicity in Nazi Germany and the Holocaust. Oxford University Press, New York 2023, ISBN 978-0-19-769171-7, S. 406, Anmerkung 11.
  17. a b Bianca Patricia Pick: Preisschriften als Zeitdiagnosen im Exil. Käthe Vordtriede, Anna Siemsen, Käte Frankenthal. (PDF) In: Academia.edu. 2020, abgerufen am 13. August 2023.
  18. Vergleiche Stolperstein für Hugo Moses in Dinslaken.
  19. Detlef Garz: Von den Nazis vertrieben. Verlag Barbara Budrich, Opladen/Berlin/Toronto 2021, ISBN 978-3-8474-2578-6, S. 96.
  20. Wolfgang Benz: Das Tagebuch der Hertha Nathorff : Berlin - New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945. Fischer, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-596-18375-3.
  21. Detlef Garz: Von den Nazis vertrieben. Verlag Barbara Budrich, Opladen/Berlin/Toronto 2021, ISBN 978-3-8474-2578-6, S. 323.
  22. Detlef Garz: Von den Nazis vertrieben. Verlag Barbara Budrich, Opladen/Berlin/Toronto 2021, ISBN 978-3-8474-2578-6, S. 56.
  23. Edward Hartshorne und die Wiedereröffnung der deutschen Universitäten in der US-Besatzungszone. In: JLUpub Justus-Liebig-Universität. Abgerufen am 13. August 2024.
  24. U.S. Official in Germany Dies of Bullet Wounds. In: The NY Times. 1. September 1964, abgerufen am 13. August 2024 (englisch).
  25. HARTSHORNE KILLER SLAIN IN GERMANY. In: NYtimes. nytimes.com, 5. September 1946, abgerufen am 12. August 2024 (englisch).
  26. The Night of Broken Glass edited by Uta Gerhardt and Thomas Karlauf – review. In: The Guardian. Abgerufen am 12. August 2024 (englisch).
  27. Detlef Garz: Von den Nazis vertrieben. Verlag Barbara Budrich, Opladen/Berlin/Toronto 2021, ISBN 978-3-8474-2578-6, S. 68.
  28. Dan Stone: ‘Bystander Society’ by Mary Fulbrook review. In: History Today. Januar 2024, abgerufen am 12. August 2024 (englisch).
  29. Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. In: White Pepper Filmgesellschaft. 2002, abgerufen am 12. August 2024.