Benutzer:Sigma^2/Wahrscheinlichkeitsinhalt

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Ein Wahrscheinlichkeitsinhalt ist in der Wahrscheinlichkeitstheorie eine Verallgemeinerung des Konzeptes des Wahrscheinlichkeitsmaßes. Während ein Wahrscheinlichkeitsmaß eine sigma-additive Mengenfunktion ist, ist ein Wahrscheinlichkeitsinhalt eine lediglich endlich additive Mengenfunktion. Während bei einem Wahrscheinlichkeitsmaß die Ereignisse, denen das Wahrscheinlichkeitsmaß eine Wahrscheinlichkeit zuordnet, eine Sigma-Algebra bilden, bilden die Ereignisse, denen ein Wahrscheinlichkeitsinhalt eine Wahrscheinlichkeit zuordnet, lediglich eine Algebra.

Das System der Ereignisse sei durch eine Algebra auf einer nichtleeren Ergebnismenge gegeben. Eine Mengenfunktion heißt Wahrscheinlichkeitsinhalt auf genau dann, wenn die folgenden Eigenschaften erfüllt sind:

  • Die Wahrscheinlichkeit der Vereinigung von zwei unvereinbaren Ereignissen ist die Summe der Wahrscheinlichkeiten der beiden Ereignisse;
  • Für endlich viele paarweise unvereinbare Ereignisse ist die Wahrscheinlichkiet des Vereinigungsereignisses durch die Summe der Wahrscheinlichkeiten der Ereignisse gegeben;
.
Diese Eigenschaft ist die endliche Additivität der Mengenfunktion . Diese folgt für beliebige durch vollständige Induktion aus der Additivität für zwei disjunkte Ereignisse. Dabei gilt , da eine Algebra ist.
  • Wenn ein Wahrscheinlichkeitsraum ist, dann ist ein Wahrscheinlichkeitsinhalt auf , da die Sigma-Algebra auch eine Algebra ist und da aus der Sigma-Additivität die endliche Additivität folgt.

Sei . Eine Algebra über ist durch das Mengensystem

gegeben. Ein Wahrscheinlichkeitsinhalt auf ist durch

definiert.

Folgende Eigenschaften dieses Beispiels sind bemerkenswert:

  • Die Algebra ist keine Sigma-Algebra, da die einelementigen Mengen für alle in enthalten sind, aber z. B.
nicht in enthalten ist.
  • Der Wahrscheinlichkeitsinhalt ist keine sigma-additive Mengenfunktion auf der Algebra , da beispielsweise
gilt.
  • Es existiert keine Fortsetzung von zu einem Wahrscheinlichkeitsmaß auf der von erzeugten Sigma-Algebra , da bereits auf nicht sigma-additiv ist.
  • Es ist nicht offensichtlich, ob eine Fortsetzung der auf definierten Mengenfunktion zu einem Wahrscheinlichkeitsinhalt auf existiert.

Spätestens mit der axiomatischen Fundierung der Wahrscheinlichkeitstheorie durch Kolmogoroff wurde die axiomatische Postulierung der Sigma-Additivität als Eigenschaft der Wahrscheinlichkeit zur dominierende Richtung in der Wahrscheinlichkeitstheorie. Die Sigma-Additivität ist dabei das entscheidende Bindeglied zur Maßtheorie. Die Modellierung der Wahrscheinlichkeit durch eine sigma-additive Mengenfunktion auf einer Sigma-Algebra von Ereignissen führt zum Konzept des Wahrscheinlichkeitsmaßes, das aus maßtheoretischer Sicht ein normiertes endliches Maß ist.

Allerdings gab es auch die Gegenposition, dass das Konzept der Wahrscheinlichkeit durch einen Wahrscheinlichkeitsinhalt adäquater beschrieben ist als durch ein Wahrscheinlichkeitsmaß. Zwei prominente Vertreter dieser Gegenposition waren Bruno de Finetti[1] und Leonard Jimmie Savage.[2] Dabei sind insbesondere diejenigen Wahrscheinlichkeitsinhalte von Interesse, die kein Wahrscheinlichkeitsmaß sind.

Konstruktion und Fortsetzung

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Ein Wahrscheinlichkeitsinhalt ist ein durch die Bedingung normierter Inhalt. Ein Inhalt im Sinn der Maßtheorie wird in der englischsprachigen Literatur als charge[3] oder finitely additive measure[4] bezeichnet, wobei die letzte Bezeichnung missverständlich ist, da es nicht um ein Maß handelt. Entsprechend gibt es auch die Bezeichnung probability charge[5] für einen Wahrscheinlichkeitsinhalt.

Ein sigma-additiver Wahrscheinlichkeitsinhalt auf einer Algebra ist ein Prämaß und kann nach dem Maßerweiterungssatz von Carathéodory zu einem Wahrscheinlichkeitsmaß auf fortgesetzt werden. Diese Fortsetzung ist eindeutig, da ein Wahrscheinlichkeitsinhalt endlich und damit auch σ-endlich ist.

Ein Wahrscheinlichkeitsinhalt, der nicht sigma-additiv ist, wird als purely finitely additive bezeichnet und wirft folgende Fortsetzungsprobleme auf: Kann ein nicht sigma-additiver Wahrscheinlichkeitsinhalt auf einer Algebra über zu einem Wahrscheinlichkeitsinhalt auf der Sigma-Algebra fortgesetzt werden? Falls ja, ist die Fortsetzung eindeutig?

Wahrscheinlichkeitsinhalte auf Teilmengen von haben besondere Beachtung gefunden[6][7], insbesondere im Zusammenhang mit dem Konzept einer gleichförmigen Verteilung der Wahrscheinlichkeit auf [8][9].

Der Wahrscheinlichkeitsinhalt aus dem Abschnitt Beispiel wird durch das Konzept der asymptotischen Dichte (oder natürlichen Dichte) auf ein Mengensystem fortgesetzt, für das gilt. Das Mengensystem enthält alle Teilmengen von , für die der Grenzwert

existiert. Dabei bezeichnet die Mathematik einer Menge. Für alle ist ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf dem Messraum . Allerdings ist keine Algebra[10], da es Teilmengen und von gibt, die eine asymptotische Dichte besitzen, während die Menge keine asymptotische Dichte besitzt.

Ein Wahrscheinlichkeitsinhalt, der auf einer Algebra über definiert ist, die eine echte Teilmenge der Algebra über ist, kann zu einem Wahrscheinlichkeitsinhalt auf fortgesetzt werden; die Fortsetzung ist aber im allgemeinen nicht eindeutig.[11]

  • Patrick Billingsley: Probability and Measure (= Wiley Series in Probability and Mathematical Statistics). 3. Auflage. Wiley, New York 1995, ISBN 0-471-00710-2.
  • Nicolas H. Bingham: Finite additivity versus countable additivity. In: Journal Electronique d'Histoire des Probabilités et de la Statistique / Electronic Journal for History of Probability and Statistics. Band 6, Nr. 1, 2010, S. 1–35 (jehps.net [PDF]).
  • A. Blass, R. Frankiewicz, G. Plebanek, C. Ryll-Nardzewski: A note on extensions of asymptotic density. In: Proceedings of the American Mathematical Society. Band 129, Nr. 11, 2001, S. 3313–3320 (ams.org [PDF]).
  • Pierre Druilhet, Erwan Saint Loubert Bié: Improper versus finitely additive distributions as limits of countably additive probabilities. In: Annals of the Institute of Statistical Mathematics. Band 73, 2021, S. 1187–1202, doi:10.1007/s10463-020-00779-8.
  • Bruno de Finetti: Theory of Probability. Band 1. Wiley, Chichester 1974, ISBN 978-0-471-92611-5.
  • Bruno de Finetti: Theory of Probability. Band 2. Wiley, Chichester 1975, ISBN 0-471-92612-4.
  • Joseph B. Kadane, Anthony O'Hagan: Using finitely additive probability: uniform distributions on the natural numbers. In: Journal of the American Statistical Association. Band 90, Nr. 430, 1995, S. 626–631, JSTOR:2291075.
  • Ryoichi Kunisada: On the Additive Property of Finitely Additive Measures. In: Journal of Theoretical Probability. Band 35, 2022, S. 1782–1794, doi:10.1007/s10959-021-01115-3.
  • Dorothy Maharam: Finitely Additive Measures on the Integers. In: Sankhyā: The Indian Journal of Statistics, Series A (1961–2002). Band 38, Nr. 1, 1976, S. 44–59, JSTOR:25050025.
  • Alan H. Mekler: Additive measures on N and the additivity property. In: Proceedings of the American Mathematical Society. Band 92, Nr. 3, 2001, S. 439–444, JSTOR:2044852.
  • Oliver Schirokauer, Joseph Kadane: Uniform distributions on the natural numbers. In: Journal of Theoretical Probability. Band 20, 2007, S. 429–441, doi:10.1007/s10959-007-0066-1.

Einzelnachweise

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  1. Nicolas H. Bingham: Finite additivity versus countable additivity. 2010, S. 4–5, 9–12.
  2. Nicolas H. Bingham: Finite additivity versus countable additivity. 2010, S. 12–15.
  3. K. P. S. Bhaskara Rao, M. Bhaskara Rao: Theory of charges. Academic Press, 1983.
  4. Alan H. Mekler: Additive measures on N and the additivity property. 2001, S. 439.
  5. Oliver Schirokauer, Joseph Kadane: Uniform distributions on the natural numbers. 2007, S. 429.
  6. Dorothy Maharam: Finitely Additive Measures on the Integers. 1976.
  7. Alan H. Mekler: Additive measures on N and the additivity property. 2001.
  8. Joseph B. Kadane, Anthony O'Hagan: Using finitely additive probability: uniform distributions on the natural numbers. 1995.
  9. Oliver Schirokauer, Joseph Kadane: Uniform distributions on the natural numbers. 2007.
  10. A. Blass et al.: A note on extensions of asymptotic density. 2001, S. 3313.
  11. Dorothy Maharam: Finitely Additive Measures on the Integers. 1976, S. 44.

Kategorie:Stochastik Kategorie:Wahrscheinlichkeitsrechnung