Benutzer:Schwaf/Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch

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Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch. Sieben Kapitel ein und derselben Geschichte (serbokroatisch: Grobnica za Borisa Davidoviča / Гробница за Бориса Давидовича, ins Deutsche übersetzt von Ilma Rakusa) ist eine Sammlung von 7 Kurzgeschichten des jugoslawischen Autors Danilo Kiš, die 1976 in Belgrad erschienen. Die Erzählungen setzten sich radikal mit dem Stalinismus auseinander und basieren auf historischen Ereignissen. Durch Montagetechniken vermengt Kiš hierbei Fiktion und Fakten und behandelt so Themen wie politische Täuschung, Verrat und Mord in Osteuropa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Kurzgeschichten

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"Das Messer mit dem Griff aus Rosenholz"

"Die Sau, die ihre Jungen verschlingt"

"Die mechanischen Löwen"

"Der magische Kreislauf der Karten"

"Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch"

"Hunde und Bücher"

"Kurzbiographie von A. A. Darmolatow"

„Die folgende Geschichte, aus Zweifel und Ratlosigkeit entstanden, ist zu ihrem Unglück (andere nennen es Glück) wahr: sie wurde aufgezeichnet von der Hand ehrlicher Menschen und zuverlässiger Zeugen.“[1]

In "sieben Kapiteln ein und derselben Geschichte" werden sieben Lebensläufe erzählt, deren Protagonisten dem politischen Terror zum Opfer fallen. Die sieben Geschichten der Revolutionäre in Russland, Polen, Rumänien oder Ungarn, stellen sieben ähnliche Schicksale dar. Die Geschichten sind jedoch nicht willkürlich hintereinander gesetzt, sondern durch subtile Nennung und Fußnoten oder in scheinbar unwichtigen Randbemerkungen wieder zu erkennen. Zum Beispiel im Kapitel „Das Messer mit dem Griff aus Rosenholz“ sagt sich Hanna Krzyzewska, auf der Flucht vor der Polizei im eiskalten Wasser des Lokomotivreservoirs fünf Stunden Gedichte von Władysław Broniewski auf, um ihren Geist zu stärken. Letztendlich wird sie von dem Verräter Miksa, dessen Spezialgebiet darin liegt, einem lebendigen Iltis das Fell abzuziehen, erstochen und in den Fluss geworfen. „Die Sau, die ihren Jungen verschlingt“ erzählt die Geschichte des irischen Spanienkämpfers Gould Verschoyle, dessen Leben 1945 in den Lagern von Karaganda endet. Sein steif gefrorener Körper soll als „Abschreckung jener, die vom Unmöglichen träumen“[2] dienen und wird vor dem Lager aufgehängt. Auch die Biographie des Revolutionärs Boris Dawidowitsch Nowskij besitzt den radikalen Erzählverlauf. Ihn führt es letztendlich in das Straflager nach Norilsk. Die Geschichte erzählt von einer kurvenreichen Biografie, deren viele Stationen ein Geflecht von Montagen verschiedenster Lebensläufe deutlich macht. Boris Dawidowitsch versucht 1937 die Flucht, springt jedoch kurz bevor ein Rudel Hunde auf ihn gehetzt werden können, in einen Kessel mit flüssiger Schlacke «Die Wächter sehen ihn verschwinden und wie einen Rauchfaden wieder auftauchen – taub gegen jeden Befehl, unbeugsam, befreit von Wolfshunden, von Kälte und Hitze, von Strafe und Reue.»[2] Auch die restlichen Erzählungen folgen dem Muster des Terrors und zweifelnder Revolutionäre. Am Schluss unterliegen sie alle den Machtgefügen und begehen Selbstmord, um den Verhören und Folter zu entgehen oder enden im Gulag. Zusammengesetzt zeigen sie dem Leser, dass alles miteinander in Verbindung steht.

Boris Dawidowitsch

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Besonders an der Kurzgeschichte „Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“ lässt sich Kiš literarische Verarbeitung der historischen Geschehnisse aufzeigen. Der Ich-Erzähler der Titelgeschichte beginnt seinen Bericht wie folgt:

„In der Geschichte ist er unterm dem Namen Nowskij eingegangen, was ohne Zweifel ein Pseudonym war (genauer gesagt: eines seiner Pseudonyme). Fraglich ist nur, ob er in die Geschichte überhaupt eingegangen ist. In der Enzyklopädie Granat und in deren Supplementband ist sein Name unter den zweihundertsechsundvierzig autorisierten Biographien und Autobiographien der Helden und Mitkämpfer der Revolution nicht verzeichnet“[2]

Boris Dawidowitschs Lebensweg wird von dessen Kindheit angefangen, mit wenigen Unterbrechungen, in denen keine dokumentarischen Nachweise vorzufinden waren, bis zu seinem Tod im Jahr 1937 geschildert. Hierbei flechtet Kiš um die Glaubwürdigkeit der Person und ihren Lebensweg aufrecht zu erhalten, immer wieder außerliterarische Fakten ein und macht Anmerkungen, die den schon genannten Aufforderungscharakter bestärken. Trotz zahlreicher Bezüge zu verschiedenen sowjetischen Helden und Ereignissen, macht der Autor klar, dass es keinen Boris Dawidowitsch gibt. Schon an der Namensgebung ist deutlich abzulesen, dass die spezifische Verwendung nicht auf ein Individuum verweisen, sondern auf performative Kontexte. Boris trägt viele Pseudonyme und ist unter mehreren Namen bekannt. Die Identitäten, die er annimmt, sind als Revolutionär selbst gewählte Namen, die Eigenschaften spiegeln. Hinter Tarnnamen soll der Mensch zu Wort kommen. Besonders Nachnamen treten gehäuft auf, sind jedoch unzuverlässig in der Typennennung. Die Namen tauchen in der Erzählung in Dokumenten auf, haben jedoch keinen Zugang zur Wahrheit und kein Bezug zur realen Person. Hierdurch entsteht eine Art Tarnung der wirklichen Persönlichkeit, deren Zugang Kiš durch dieses Mittel nicht zulässt. Die Seele scheint sich im Vornamen und dem Vaternamen zu verstecken. Beispielhaft steht hierfür Boris Dawidowitschs Vater: David Abramowitsch, im Vergleich mit dem Stammvater der Juden: Abraham.

Die Eigenschaften der Figur decken keine einzelne historische Persönlichkeit ab, noch die einer fiktionalen Figur. Weiter beispielhaft für diese Uneinheitlichkeit sind besonders auch seine Berufe und Tätigkeiten; so wird er u.a. als Geschirrwäscher, Sortierer von Geschützgranaten, Organisator von Straßendemonstrationen, Zuchthäusler, Redakteur, Bombenleger, Insasse einer Irrenanstalt und vieles mehr beschrieben. Auch seine Aufenthaltsorte wechseln zwischen verschiedenen Ländern und Strafanstalten. Er erweist sich nicht als historische Person, sondern als kollektiver Typ des Menschen. Boris bleibt eine abstrakte Figur.  

Auch weitere wichtige Motive, wie Religion, lassen sich anhand der Namen und der symbolischen Taufe erkennen. Boris Vater wird zu Beginn der Erzählung, aufgrund seines Fehlen des Gottesdienstes, von seinen Kameraden ausgepeitscht und anschließend gewaltsam in Eiswasser getauft. In der Krankenstation wird er von einer Krankenschwester gepflegt und aus dieser Begegnung kommt Boris Dawidowitsch hervor. Die Zwangstaufe findet sich auch in der folgenden Erzählung „Hunde und Bücher“ wieder. Während seiner Gefangenschaft wird Dawidowitsch vor eine nur scheinbare Wahl gestellt, entweder er unterzeichnet ein falsches Geständnis oder vor seinen Augen werden unschuldige Häftlinge unter seinem Namen erschossen.  Er soll also zwischen seiner eigenen Biografie und der Existenz anderer entscheiden. Somit erschließt sich eine dialektische Beziehung der Konflikte. Hierbei spielt vor allem Ähnlichkeit eine Rolle, denn als er sich in einem der Gefangenen wiedererkennt, erkennt er auch einen anderen Modus des Bezugs, die existenzielle Erkennung des Nächsten. Danilo Kiš legt mit seiner Figur des Boris Dawidowitsch offen, dass dieses ethische Dilemma kein moralisch richtiges Handeln möglich macht.

Unter Kiš Romanen zählt Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch zu seinen einflussreichsten und erhält durch seine literarische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus eine besondere Aufmerksamkeit, deren Aufarbeitungstechnik vor allem bei der Erscheinung 1976 einen heftigen Skandal entfachte. Jede Geschichte zeigt ein und das selbe ethische Dilemma, in dem kein richtiges moralisches Handeln möglich zu sein scheint. Besonders tritt hierbei Kiš Vermischung von Dokumenten, Fakten und Fiktion hervor, deren politischer Gehalt mit poetischen Mitteln zu einer Verdichtung führen. In dem Roman treten keine jugoslawischen Figuren auf, dennoch sind die beschriebenen Ereignisse eng mit den Erfahrungen vieler Jugoslawen verbunden. Vor allem entfachte GBD nach seinem Erscheinen eine folgenreiche Debatte durch die Ablehnung der Lagerthematik der französischen Gesellschaft und lieferte somit einen wichtigen Beitrag zur französisch jugoslawischen Situation.[3]

Konzeptionsgeschichte

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Das Konzept des Romans wird auch als ästhetische Entfremdung beschrieben, die als Erschließung von „Erinnerungsräumen“[4] dienen soll. Hierbei lehnt sich Kiš an Baudelaires Verständnis von Kunst und Wirklichkeit an und fasst auch die individuelle Darstellung mit Mitteln der Imagination als seine Aufgabe als Schriftsteller auf. Die Pflicht des Schriftstellers ist die Wirklichkeit zu dokumentieren in ihrem verzweigten Bedingungssystem. Aufgrund der Verbindung der Formen, die sich nach dem Verhältnis von schon vorhandenen Formen-Assoziationen bestehen und die Technik der Benutzung von Zitaten und Dokumenten, die eine Verdichtung des Stoffes ermöglichen, wurde Kiš relativ schnell den Formalisten zugeordnet und litt dadurch an Geringschätzung.[4] Für ihn zählte das Dokument als sicherste Methode, um überzeugend und wahrhaftig zu wirken und somit einem neuen literarischen Zugang zur Realität zu erschaffen.[5]

Zur Literarisierung von Fakten

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Durch metafiktionale Äußerungen, Lücken und den Kommentaren in Klammern wird eine Leseaktivierung vollzogen, die den Leser dazu bewegt stetig den Text zu hinterfragen. Hierbei entsteht ein Aufforderungscharakter der Verweise. Die Quellen sind keine verlässlichen Anlaufstellen für den Leser, sondern eine Vermischung aus verschiedenen Dokumenten, neu zusammengesetzt. Der Leser soll die Referenzen, Personen, Werke und Taten prüfen. Da es sich jedoch um Fiktion handelt, wird es dem ‚ästhetischen Verstehenden‘ nicht in den Sinn kommen, den Text auf solch faktische Wahrheit zu befragen. Hier zeigt sich wieder der besondere Umgang mit den gesammelten Informationen, die über den gesamten Text mit eingeflochten sind.[4]

Als scheinbare Quellen erwähnt die Erzählerstimme über das Werk hinweg zahlreiche Bezüge wie zum Beispiel Biographien der genannten Figuren, Polizeiarchive, Geburtsurkunden, Zeugenaussagen (die meist auf eine Charakterisierung der Figur beschränkt sind, dienen im Werk jedoch als zuverlässige Dokumentation), Namensnennung und Orte. Auch bezieht er sich auf eine Revolutionschronik, in der die Titelfigur Boris Dawidowitsch nicht verzeichnet zu sein scheint, dies vom Erzähler jedoch als Irrtum der Chronisten hervorgehoben wird. Als Prätexte dienten nach Kiš gesammelte Erfahrungsberichte von Opfern des Gulags. Das Phantastische nimmt durch seine literarische Füllung Züge einer wertenden Kategorie an und kann als Dokumentation entgleister Realität betrachtet werden. Die Erzählerstimme spricht somit aus der Position eines Historikers, der durch seine Datensammlung tatsächliche Erlebnisse zusammengetragen hat und davon berichtet.[3]

Hieraus stellt sich die Frage, wer der adressierte Leser sein soll und inwiefern der Text als geschlossene Erzählung wahrgenommen werden kann.

Rezeptionsgeschichte

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Danilo Kiš erlangte trotz seiner relativ kurzen Schaffenszeit (1960 veröffentlichte er sein erstes relevantes Werk und verstarb 1989) breite internationale Anerkennung und Popularität. Seine Werke wurden in die meisten großen europäischen Sprachen übersetzt, wobei er sowohl von westlichen Schriftstellern als von seiner Leserschaft hochgeschätzt wurde.

Obwohl er als stark pro-jugoslawisch wahrgenommen wurde, wurde Kiš weder mit dem jugoslawischen Staat noch mit dem kommunistischen Projekt identifiziert. Tatsächlich nahm man ihn zumindest ab Mitte der 1970er Jahre als eine Art Dissident wahr. Seine Verbindung von postmodernen Stilmittel mit einer modernistischen Denkweise prägte seinen Stil. Sein Werk „Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“ brachte ihm den Preis für den besten Jugoslawische Roman des 20. Jahrhunderts ein, der von der Zeitschrift Slobodna Bosna verliehen wurde.[3]

Das Buch war Gegenstand einer langen und langwierigen Plagiatskontroverse. Die Kontroverse über die Art der "Entlehnung" dauert bis heute an. Insbesondere wurde Kiš von Karlo Štajner beschuldigt, "7000 Tage in Sibirien" zu plagiieren. Das Werk wurde auch als Provokation aufgegriffen. Was Kiš als Umgang mit Wahrhaftigkeit versteht, sahen seine Gegner als Aneignung fremden Eigentums durch Dokumente. Ein Versuch sein Buch zu neutralisieren wurde vor allem durch die Plagiats Vorwürfe bestärkt. In „Anatomiestunde“ von 1978 legt Kiš Rechenschaft über seine Ästhetik und Ansätze ab.[6]

„Dem Autor wurde vorgeworfen, er habe die Erinnerungen von GULAG-Häftlingen geplündert, Schicksale abgekupfert bei Solschenizyn, Jewgenija Ginsburg, Nadeschda Mandelstam, Roy Medwedjew.“[7]

Auch wurde ihm Verleumdung vorgeworfen und antisemitische Untertöne in der Kritik an der Idee des Sozialismus genannt. Kiš Argumentation gegen diese Vorwürfe lag besonders in seiner Vorstellung der sekundären Zeugenschaft, die eine Möglichkeit bietet durch die Anreicherung phantastischer Elemente einen Dokumentarismus herzustellen. Hierbei entsteht die Wirkungsästhetik über dokumentarische Elemente hinaus durch Wahrhaftigkeit. Das Aufzeigen des Konflikts einer existenziellen Dimension soll eine Verarbeitung schaffen stellvertretend für Leute, die nicht mehr selbst darüber sprechen können.

Einzelnachweise

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  1. Danilo Kiš: Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch. R. Piper & Co., München 1983, ISBN 3-492-02776-8, S. 163.
  2. a b c Kiš, Danilo: Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch sieben Kapitel ein und derselben Geschichte. R. Piper & Co. Verlag, München 1983, ISBN 3-492-02776-8, S. 163.
  3. a b c Andrew Wachtel: The Legacy of Danilo Kiš in Post-Yugoslav Literature. In: The Slavic and East European Journal. Band 50, Nr. 1, 1. April 2006, ISSN 0037-6752, S. 135, doi:10.2307/20459238.
  4. a b c Petzer, Tatjana: Geschichte als Palimpsest : Erinnerungsstrukturen in der Poetik von Danilo Kiš/ Tatjana Petzer. Lang, Frankfurt am Main u.a. 2008, ISBN 978-3-631-56200-0.
  5. Danilo Kiš: Homo poeticus: Gespräche und Essays. Hrsg.: Ilma Rakusa. Hanser, München u.a. 1994, ISBN 3-446-17052-9, S. 279.
  6. Angela Richter (Hrsg.): Entgrenzte Repräsentationen gebrochene Realitäten. Danilo Kiš im Spannungsfeld von Ethik, Literatur und Politik. Band 10. Otto Sagner, München 2001, ISBN 3-87690-783-7.
  7. Kurz und Bündig – Danilo Kiš: Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch. Abgerufen am 16. März 2020.