Benutzer:Moneo/Arbeitsdaten

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

1. Ein paar Gedanken zu Beginn

Geschichtsträchtig, wechselhaft und widersprüchlich war jene Epoche, die mit der Blütezeit der Wiener Kaffeehausliteratur zusammenfiel. Dabei handelte es sich um jene Periode zwischen 1890 und 1938, zu deren Beginn sich der Untergang der Habsburger Monarchie vollzogen hat, bis zum Anschluss Österreichs an Deutschland. Aber nicht nur die wechselhaften politischen Ereignisse haben Österreich während dieser Jahre gebeutelt und schließlich geformt. Seine großen schöpferischen Leistungen in der Literatur, Architektur, Malerei und Musik sowie das Kunstschaffen im Allgemeinen haben nicht unwesentlich dazu beigetragen jene verhängnisvollen Jahre in die Erinnerung der Menschheit einzumeißeln.


2. Eingrenzung von Raum und Zeit

Scharf eingrenzen lässt sich die Zeit der Kaffeehausliteratur nicht. Wenn auch die Hochblüte der Wiener Kaffeehausliteratur seit dem Zeitpunkt des Einmarsches Hitlers in Österreich vorbei zu sein scheint, so gibt es doch spärliche Reste davon bis in unsere Gegenwart, immer wieder tauchen Spuren davon auf, wenn auch in veränderter Form und Gestalt. Der Beginn der Hochblüte der Wiener Kaffeehausliteratur fällt in die Zeit des »Fin de Siécle«, dem vom Verfall geprägten Ende des 19. Jahrhunderts, und ihr Ende zwangsläufig auf den Zeitpunkt des Anschlusses Österreichs und den Beginn der Judenverfolgung. Das typische Wiener Kaffeehaus gab es natürlich schon lange Jahre zuvor und existiert heute in veränderter Form noch immer, aber seine besondere Ausprägung erfuhr es während der Hochblüte der Wiener Kaffeehauskultur. Man möchte fast behaupten, das eine Phänomen wäre ohne dem anderen nicht möglich gewesen. Das Kaffeehaus selbst wurde durch sein intellektuelles Klientel geadelt und erreichte nie wieder dagewesene Höhen. Geist und Kultur jener Zeit hätten sich ohne das Ambiente des Kaffeehauses nie im erreichten Maße ausbilden und verbreiten können. Insgesamt fielen diese Ereignisse in die Zeit der, zumindest teilweisen, Emanzipation des Jüdischen Bürgertums in der Habsburger Monarchie. Gerade das jüdische Großbürgertum war es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das die Säulen von Kultur und Wissenschaft in jener widersprüchlichen Epoche bildete. Das Phänomen »Wiener Kaffeehausliteratur« beschränkte sich nicht nur auf Wien selbst, sondern ist auf alle Städte der Monarchie übertragbar, die sich im direkten Einflussbereichs der Hauptstadt befanden, so zum Beispiel auf Budapest, Pressburg, Brünn, Iglau und besonders natürlich auf Prag. Ob überall dort das Ambiente und der Charme des typischen Wiener Kaffeehauses herrschten ist jedoch mehr als fraglich. Sein Einfluss indes reichte, getragen durch den multi-kulturellen Charakter seiner Hauptakteure auch auf anderer Herren Länder. So gab es ähnliche Wirkungsstätten in Zürich, Berlin und natürlich auch in Paris. Man traf sich im »Romanischen Café« oder im »Größenwahn« in Berlin, ebenso wie im Prager »Continental« oder »Arco«, im Budapester »Abbazia« oder im Züricher »Odeon«, im Pariser »Dome« oder »Café Flore« und im Café »Verbano« in Ascona. Überall bewegte man sich in einer hochintellektuellen aber wirklichkeitsfremden Gesellschaft. Zu einem letzten zaghaften Aufflackern des Geistes der Wiener Kaffeehauskultur kam es schließlich und endlich in jenen Ländern und Städten, in die es die Akteure in die Emigration getrieben hat, bevor er schließlich endgültig verglomm. Wie gesagt, war das Wiener Kaffeehaus wie auch das Literaturkaffee in seiner arttypischen Ausprägung nicht nur in Wien selbst, sondern in allen Ecken der Monarchie anzutreffen, genauso wie das jüdische Bürgertum seine Güter und Besitztümer in allen Habsburger–Landen verteilt hatte. In allen größeren Städten konnte man diese einmalige Kaffeehauskultur antreffen, kurzum überall dort, wo es zu einer besonderen Anhäufung der jüdischen Bohemiens kam und daher einen regen Kulturbetrieb gab. Das Kaffeehausleben in Prag, besonders im Kaffe »Urban« zeichnete sich durch seine deutsch–tschechische Mischung aus. Man darf nicht vergessen, das auch der Gutsbesitzer vom Land seine gesellschaftliche Ablenkung in den Städten suchte, und das nicht zu knapp. Die Kaffeehauskultur wurde von den Benützern selbst von einem Ort zum anderen getragen, da auch sie stete Wanderer waren und selten das ganze Jahr über an nur einem Ort verbrachten. So entstand eine anregenden Vermengung und Verschmelzung der Kulturkreise aller Herren Länder und nur so konnte es zu einer derartigen Anhäufung an geistiger Schaffenskraft kommen. Der Begriff »Wiener Kaffeehauskultur« steht also stellvertretend für die gesamte Kaffeehauskultur der Habsburgermonarchie, wie sie in ihrer ausgeprägten Form besonders in den kulturellen Zentren anzutreffen war und das gesamte Geistesleben jener Zeit nachhaltig beeinflusste.


3. Die Epochen – Vom zaghaften Erblühen bis zum Niedergang

Insgesamt gab es während der Blütezeit der Wiener Kaffeehausliteratur zwei Höhepunkte mit einem jeweils folgenden Niedergang. Die erste Hochblüte fiel auf den »Fin de Siécle« und endete mit dem Ersten Weltkrieg, da das Ende der Monarchie auch ein Ende des Einflusses des Großbürgertums auf die Geschicke der Zeit bedeutete. Der Geist der Monarchie konnte sich jedoch beinahe unverändert in die Zwischenkriegszeit hinüberretten, bevor er mit dem Einmarsch Hitlers in Österreich endgültig und unwiderruflich ausgelöscht wurde. Es waren dann auch dieselben Charaktere, im Tun und Denken noch der untergegangen Monarchie verhaftet, welche die zweite Hochblüte der Kaffeehausliteratur, die etwa mit der Zeit der Weltwirtschaftskrise zusammenfiel, begründeten. Jedenfalls ist festzustellen dass zu Zeiten besonderer wirtschaftlicher Not immer ein ausgeprägter Drang zum Kaffeehausleben herrschte. Daher ist es mehr als verständlich, dass zu jenen Epochen besonders viele Kaffeehäuser entstanden sind.


4. Der geschichtliche Hintergrund

Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, also jene Jahre in die der Beginn der Wiener Kaffeehausliteratur fällt, zeigen sich im Hause Habsburg–Lothringen, nach jahrhundertelanger Herrschaft, erste Auflösungs- und Verbürgerlichungserscheinungen. Der Thronfolger Franz Ferdinand geht eine unebenbürtige Ehe ein. 1889 erschießt sich Kronprinz Rudolf mit seiner Geliebten in Mayerling. Das Haus Habsburg scheint auseinander zufallen. Innenpolitisch beginnt es zu gären und brodeln. Neben dem aufkeimenden Nationalismus ist eine neue Kraft getreten: der Sozialismus. Dr. Viktor Adler gründete 1888/1889 die »Sozialdemokratische Partei«, die ab 1907, als das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht eingeführt wird, rasch an Bedeutung gewinnt. Gegen das aufkommende Proletariat gründen Kleingewerbetreibende und Landwirte den »Christlich–Sozialen Verein« unter Dr. Karl Lueger. Diese Partei hat ausgesprochen antisemitische Neigung, weil sie in ihren Gegnern, Sozialisten und Großkapital, vor allem den jüdischen Einfluss sieht. Die »Deutschnationalen« unter Georg von Schönerer schließlich, demonstrieren für die Eindeutschung und den Nationalismus. Gleichzeitig kommt es zu einer zunehmenden Isolierung der Donaumonarchie. Russland schürt den Panslawismus, ab 1903 geht die panslawistische Propaganda gegen Österreich–Ungarn von Belgrad aus. Hier arbeitet der Geheimdienst an der Zerstörung des Habsburger–Reiches. Franz Ferdinand sucht den Ausgleich mit den Slawen, doch der alte Kaiser und sein Kabinett verteidigen die Monarchie mit Polizei, Zensur, Gericht und Militär. Jedoch gerade gegen diesen Mann des Ausgleichs richten sich die Pistolenschüsse am 28. Juni 1914 in Sarajevo. Österreich reagiert, indem es ein Ultimatum an Serbien richtet, Russland mobilisiert daraufhin und ein Krieg wird unvermeidbar. Die sterbende bürgerlich–feudale Welt tritt mit der Kriegserklärung an Serbien am 28. Juli 1914 in den 1. Weltkrieg und damit in die Phase ihres Untergangs ein. Die Macht des 54–Millionen–Reiches, bestehend aus Österreichern, Tschechen, Slowenen, Kroaten, Dalmatinern, Südslawen und Ungarn zieht ein letztes Mal gemeinsam für ihren Kaiser gegen eine Übermacht zu Feld. Mitten im Krieg – 1916 – stirbt der alte Kaiser. Sein Nachfolger – Karl I – versucht zu retten, was noch zu retten ist. Doch der Versuch, den Frieden herbeizuführen, scheitert. Zu spät suchte das Haus Habsburg–Lothringen die auseinanderstrebenden Völker durch Zugeständnisse an sich zu binden. Am 3. November 1918 wurde der Waffenstillstand unter Annahme der drückenden Bedingungen der Entente abgeschlossen. In Versailles schmiedeten die Sieger eine neue Weltordnung aus Hass, Rache und Machstreben, wie könnte es anders sein, unter der Dominanz des US–Präsidenten Wilson. Dieser war so uninformiert über Europa, dass er unter anderem ständig Bukarest mit Budapest verwechselte (Welch eine Parallele zum jetzigen US–Präsidenten: Geschichte wiederholt sich). Die Aufteilung der Länder erfolgte so willkürlich, dass bereits jetzt die Zündladung für den nächsten Krieg gelegt wurde. Bereits am 30. Oktober wurde die erste österreichische Regierung unter Dr. Karl Renner gebildet. Am 11. November unterschrieb Kaiser Karl I seine Rücktrittserklärung. Die Geschichte des Habsburgerreiches ist zu Ende gegangen, Österreich hat sich wieder in das kleine Land im Osten zurückverwandelt, mit Wien als weltstädtischem »Wasserkopf«. Die Geißeln jener Zeit suchten Österreich fürchterlich heim. Inflation, Arbeitslosigkeit, Hunger und revolutionäre Unruhen erschütterten das Land. Die Entwicklung Österreichs wurde durch den Streit der beiden Großparteien – der Christlichsozialen und Sozialdemokratischen – wesentlich behindert. Deren ständige Radikalisierung lähmte das Wirtschaftsleben und die politische Entwicklung immer mehr. Die Parteien schufen militärähnliche Formationen, den »Heimatschutz« und den »Republikanischen Schutzbund«. Bei Demonstrationen kam es häufig zu tödlichen Auseinandersetzungen. 1922 gelingt es der Regierung des Prälaten Ignaz Seipel eine namhafte Völkerbundanleihe zu bekommen, am 1.1.1925 wird der Schilling eingeführt. Selbst in diesen leidvollen Notzeiten entstehen bedeutende kulturelle Schöpfungen. Oskar Kokoschka, Rainer Maria Rilke, Arthur Schnitzler, Karl Kraus, Karl Schönherr, Robert Musil, Hermann Broch und Anton Wildgans erlangen Weltberühmtheit. In der Musik treten Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton Webern und Ernst Krenek auf. Die Salzburger Festspiele unter Max Reinhardt erlangen Weltruf, ebenso wie die Bühnenwerke Hugo von Hofmannsthals. Die Wissenschaft dokumentiert ihre Leistungen durch eine Reihe von Nobelpreisträgern wie Karl Landsteiner, Erwin Schrödinger, Julius Wagner–Jauregg, Robert Bàrany, Franz Viktor Hess und Wolfgang Pauli. Die neue soziale Gesetzgebung wird vorbildlich für viele Staaten Europas. Die Gemeinde Wien schafft viele soziale Einrichtungen, wie Gemeindewohnungen. Aber die Unruhen eines beengten, verarmten Volkes bleiben, antidemokratische Tendenzen werden immer stärker. Am 15. Juni 1927 steht in Wien der Justizpalast in Flammen. Jeden Sonntag gibt es bei Demonstrationen und Zusammenstößen der Parteigegner Tote und Verwundete. Der Zusammenbruch der Boden–Creditanstalt (1929) und der Österreichischen Creditanstalt (1931) sowie die Weltwirtschaftskrise (1932) führen zu einer hohen Arbeitslosigkeit. Bei einer Nationalratssitzung im März 1933 treten alle drei Präsidenten zurück, der Bundeskanzler Engelbert Dollfuß schaltet das Parlament aus und regiert, aufgrund eines Ermächtigungsgesetzes aus dem 1. Weltkrieg, autoritär. In Deutschland hat der in Braunau geborene, gescheiterte Malschüler Adolf Hitler seine Bewegung zur stärksten Kraft im Deutschen Reich gemacht. Kurz darauf eröffnen die Nationalsozialisten die Offensive gegen Österreich. Antisemitische Parolen und Pseudosozialismus bringen den Hitler–Anhängern bald auch in Österreich regen Zulauf. Nach zunächst kleineren Zusammenstößen kommt es im Februar 1934 – zunächst in Wien und Linz – zu blutigen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen. Das festungsartig gebaute Arbeiterviertel Floridsdorf und andere Gemeindebauten in Wien werden von den Regierungstruppen mit Kanonen erstürmt. Die Sozialdemokratische Partei und ihre Arbeiterorganisationen sowie die Gewerkschaften werden verboten. Dollfuß errichtet im Mai 1934 einen autoritären Ständestaat. Am 25. Juli 1934 kommt es nach einer Terrorwelle zum Putschversuch der Nationalsozialisten in Österreich, bei dem Dollfuß ermordet wird. Dr. Kurt Schuschnigg übernimmt die Regierung und führt sie im Sinne Dollfuß’ autoritär weiter. Die wirtschaftliche Lage beginnt sich allmählich zu bessern, die Weltwirtschaftskrise scheint überwunden zu sein. Am 12. Februar 1938 bestellt Hitler Dr. Schuschnigg zu sich, doch alle Zugeständnisse um Österreich vor einer Annexion zu bewahren sind umsonst. In den Morgenstunden des 12. März 1938 marschieren deutsche Truppen in Österreich ein. Ein Großteil der österreichischen Bevölkerung empfängt die »deutschen Brüder« jubelnd. Die Nazis kommen jedoch nicht als Brüder, sondern als Tyrannen. Österreich wird aufgelöst und der Name ausgelöscht. Viele Österreicher werden verhaftet und kommen in Konzentrationslager, andere müssen emigrieren. Doch alles versinkt in einem Trommelfeuer von Propaganda, so brachte die Volksabstimmung vom 10. April 1938 das gewünschte Ergebnis von 99,73 Prozent für »Großdeutschland«. Hitler besetzt die Tschechoslowakei und zwingt Ungarn, Rumänien und Jugoslawien zu Bündnissen. Als er am 1. September 1939 über Polen herfällt, erhält er als Antwort den Zweiten Weltkrieg. Leider ist es Tatsache, dass die Literaten, Journalisten und Tagträumer dem politischen Geschehen jener Zeit so tatenlos, vielleicht sogar überheblich, zusahen. Die Welt brach für sie zusammen als dann die Katastrophe tatsächlich hereinbrach. Für viele von ihnen war es dann zu spät zu reagieren oder sie waren wie gelähmt und verharrten ihres Schicksals. Einigen gelang zwar die Flucht in die Emigration aber viele andere wanderten in Konzentrationslager.


5. Gedanken zu jener Zeit

Wenn man an die junge Generation denkt, die damals das »Herrenhof« bevölkerte, müsste man sich die außerordentlichen Bedingungen vergegenwärtigen, unter denen sich ihre Entwicklung vollzog. Ihr Leben war von den Katastrophen der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts geprägt, von politischen, kriegerischen und wirtschaftlichen Umwälzungen, Umsturzversuchen, totaler Inflation, Bürgerkriegen und Attentaten. Heute spricht man von vom »goldenen Zeitalter« der Zwanzigerjahre und hat dieses Jahrzehnt mit einer romantischen Glorie versehen. Doch was man an der Zeitspanne zwischen den beiden Weltkriegen bewundert – das neu Hervorsprühende auf allen Gebieten des Geistes, der Künste und der Wissenschaften – all das muss man vor dem dunklen Hintergrund des Zerfalls der bürgerlichen Epoche sehen. Nicht die Enttäuschungen über den verlorenen Krieg, sondern die nachfolgenden Entbehrungen durch Hunger und Kälte, sowie die völlige Geldentwertung lösten das wahre Elend aus. Das Gehalt, das man am Ersten des Monats erhielt, bestand bereits fünf Tage später aus einem Bündel wertloser Papierfetzen. Das Brot kaufte man am Morgen, weil die Inflation den Brotpreis bis zum Abend zu verdoppeln pflegte. Niemand glaubte mehr daran, dass es überhaupt Werte gäbe, die Bestand haben könnten, Weder auf materiellem noch auf geistigem Gebiet. Solche Zeiten rufen so genannte »starke Männer« auf den Plan, einer davon war Adolf Hitler. Es lässt sich erkennen, dass die idealisierte Zwischenkriegsphase zugleich die Inkubationszeit für den zweiten Akt der europäischen Tragödie, die Herrschaft des Totalitarismus und den Ausbruch des zweiten Weltkrieges gewesen ist. Diese Doppelgesichtigkeit der Zwanzigerjahre sollte man nie außer acht lassen, wenn man in schwärmerischer Weise von dieser Zeit spricht. Auch sollte man sich vergegenwärtigen, dass diese ersten Jahrzehnte des Zwanzigsten Jahrhunderts bei aller Fülle an geistigen und künstlerischen Impulsen zugleich eine Loslösung von überkommenen sittlichen Bindungen mit sich gebracht hatten. Wertbegriffe, die durch Jahrhunderte als unantastbar galten, waren unter dem Flammenstoß des Ersten Weltkrieges zerborsten, und nichts war da, um das Verlorene zu ersetzen.


6. Das Jüdische Bürgertum in Wien als Träger der Kultur

Den Juden eigen war ihr ausgeprägter Sinn für Humor, der durchaus pessimistisch sein konnte. Ihre eigentümliche Sprache, mit dem Unvermögen Umlaute zu verwenden, machte sie unverwechselbar. Die Farbe »Grün« war eben »Grien« und »Flöhe« hüpften als »Flehe« durch die Gegend. Häufig verwendete Floskeln waren ihnen gemeinsam. Besonders der liebe »Gott« musste häufig dafür herhalten: „Gott möge behüten . . . , so Gott will . . . , mit Gottes Hilfe . . . “ oder das Wort »Glück«: „Noch ein Glück . . .“. Der Ausspruch der Tante Jolesch: „Mege mich Gott behieten vor allem, was gewesen ist grad noch ein Glieck“ erlangte einigermaßen Weltberühmheit. Den Juden war es dank ihrer finanziellen Lage möglich, ein hohes Maß an Bildung gepaart mit vorbildlicher Erziehung zu genießen. Neben höchster Belesenheit war ihnen Scharfsinn und Wortwitz zueigen. Fast alle Anekdoten dieser Zeit (siehe Tante Jolesch) beruhten auf den humoristischen Scharfsinn der betreffenden Personen. Das Stammpublikum dieser Kaffeehäuser war, wie das geistig und künstlerisch interessierte Publikum insgesamt, zu großem Teil jüdisch. Vor 1938 lebte in Wien fast eine Viertelmillion Juden. Heute zählen sie knapp Zehntausend. Das macht sich auch auf anderen Gebieten des öffentlichen Lebens geltend, aber auf keinem so nachhaltig und mit so einschneidenden Folgen wie in der Literatur. Natürlich gibt es noch Literaten, Intellektuelle, geistig und künstlerisch interessierte Menschen, aber sie sind nicht nur in ihrer Anzahl reduziert, sie sind es auch in ihren Möglichkeiten zum Kaffeehausbesuch. Die Hauptträger der Wiener Kaffeehausliteratur waren, mit wenigen Ausnahmen, das Jüdische Großbürgertum und dessen Abkömmlinge. Wenn wir aber von Kaffeehauskultur sprechen dürfen wir die verschiedenen Künstler, Architekten, Journalisten, Mäzene und Sonderlinge nicht vergessen, die zu eben jener Kultur in nicht zu unterschätzenden Weise durch ihren Geist, Witz, Intellekt und ihr Gönnertum beigetragen haben. Sie haben gemeinsam mit den Literaten jenen fruchtbaren Boden in den Kaffeehäusern gebildet, der eine derart reiche Ernte an kulturellen Ergüssen ermöglicht hat. Otto Friedländer meinte: „Sokrates hätte sich im Wiener Kaffeehaus wohlgefühlt. Das Wiener Kaffeehaus ist jener Ort auf Erden, an dem das gelöste, witzige, phantasievolle, grüblerische, scharfsinnige, zynische Gespräch der Griechen sich am längsten lebendig erhalten hat.“


7. Das Kaffeehaus - Nicht zu Haus und doch nicht an der frischen Luft

Peter Altenberg – Kaffeehaus „Du hast Sorgen, sei es diese, sei es jene - - - ins Kaffeehaus! Sie kann aus, irgendeinem, wenn auch noch so plausiblen Grunde, nicht zu dir kommen - - - ins Kaffeehaus! Du hast zerrissene Stiefel - - - ins Kaffeehaus! Du hast 400 Kronen Gehalt und gibst 500 aus - - - Kaffeehaus! Du bist korrekt sparsam und gönnst dir nichts - - - Kaffeehaus! Du bist Beamter und wärst gern Arzt geworden - - - Kaffeehaus! Du findest Keine, die dir passt - - - Kaffeehaus! Du stehst innerlich vor dem Selbstmord - - - Kaffeehaus! Du hasst und verachtest die Menschen und kannst sie dennoch nicht missen - - - Kaffeehaus! Man kreditiert dir nirgends mehr - - - Kaffeehaus!“

Wiener Kaffeehäuser gab es so viele verschiedene, wie es menschliche Charaktere gibt. So fand jeder früher oder später sein Stammkaffee. Alfred Polgar hat es so formuliert: „Ins Kaffeehaus gehen Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen“. Das Kaffeehaus galt als das erweiterte Wohnzimmer des Wieners. Bei Hans Weigel kann man nachlesen: „Kaffeehaus verhält sich zu Wohnung, wie Liebe zu Ehe“ sowie „Kaffee ist im Café nicht Zweck, sondern Mittel“. Damit ist schon viel gesagt, wenn nicht gar alles. Man geht also nicht ins Kaffeehaus um Kaffee zu trinken, sondern man geht ins Kaffeehaus und trinkt Kaffee. Im Kaffeehaus herrscht jene Formlosigkeit, die der Wiener zu seinem Behagen braucht. Der Kaffeehausgast konnte sich einen kleinen Braunen bestellen und damit Stunden sitzen bleiben. Der »Mocca« ist sozusagen der Eintrittspreis. Das obligate Glas Wasser wurde von den dienstbaren Kellnern, Ober genannt, ohne Aufforderung jede halbe Stunde nachgefüllt. Das konnte man ohne weiteres als Aufforderung zum Bleiben auffassen. Zum Nachbestellen wurde man nicht aufgefordert. So konnte man Stunden oder gar den ganzen Tag damit zubringen Zeitungen zu lesen, Leute zu studieren oder an anregenden Diskussionen teilzunehmen. Im Kaffeehaus ist man in erster Linie Mensch und wird als solcher behandelt. Daran ändern auch die individuelle Weltanschauung oder gar Herkunft und Abstammung der Kaffeehausbesucher nichts. Das Angebot einer Unmenge Zeitungen und Zeitschriften war immer eine Stärke des Wiener Kaffeehauses, Wo sonst konnte die Neugier Interessierter besser befriedigt werden? Außerdem standen immer ein Telefon, Adressbuch, Schreibzeug und meist ein Lexikon unentgeltlich zur Verfügung. Im Kaffeehaus war es meist heiß und die Luft war stickig und mit Rauch gefüllt. Bei den Türen und undichten Fenstern zog es herein. Die Wände waren mit Spiegeln in Goldrahmen und Ölgemälden geschmückt. Die paar guten, helleren Plätze mit den bequemen, gut gepolsterten Plüschsesseln gehören den Stammgästen. Jeder Mensch kann ins Kaffeehaus gehen, ausgenommen waren Damen. Sie waren nicht gerne gesehen, außer sie wollten dort Herrenbekanntschaften machen. Dabei wurden sie jedoch vom Ober tatkräftig unterstützt. Sonst gehen Damen nur nach dem Theater oder Ball in Herrenbegleitung in das Kaffeehaus. Das war eher selten und sie kamen sich dann ungemein verrucht vor, so liest man wenigstens. Das Kaffeehaus war also eher eine Männerdomäne, ähnlich den englischen Clubs, in denen Damen überhaupt nicht zugelassen waren. Das Kaffeehaus war also eine Männerwirtschaft: prächtig, unbequem, schlampig. Ein Kaffeehaus hatte unverwechselbar zu sein, es war nicht gleichgültig ob man in Paris oder in Wien in einem Kaffeehaus saß, ob im Sperl oder im Grünsteidl. Solche Unverwechselbarkeit machte das typische Wiener Künstlerkaffee so herausragend und einzigartig.

Heimito von Doderer über das Wiener Kaffeehaus (aus »Kaffee Hawelka – Ein Wiener Mythos«, 1982): „Ein Wiener Café hat jene meditative Stille und das zweckfreie Vergehenlassen der Zeit in sich aufgenommen, die jeder kennt, der ein orientalisches, ein türkisches Café besucht hat . . . Zugleich doch ist es, das Café, unsere eigentliche Öffentlichkeit, ein in Hunderte von kleinen Teilen zersprungenes Forum, aber überall und für jedermann betretbar.“


8. Die Geschichte des Wiener Kaffeehauses – So könnte es gewesen sein

Entstanden ist es in Wien, der Legende nach, im Jahre 1683 nach der zweiten Türkenbelagerung. Der Begründer soll der Serbe, Franz Georg Kolschitzky gewesen, sei, der sich als Belohnung für seine Verdienste zur Befreiung Wiens einen Sack Bohnen ausbedungen hat, den die Türken zurückgelassen hatten. Er soll dem Vernehmen nach auch der Erfinder der Melange gewesen sein, da er den Kaffee als erster mit Milch versetzte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhielten die Kaffeehäuser elegantere Einrichtungen. Um 1900 gab es in Wien bereits 600 Kaffeehäuser, von denen etwa zwei Dutzend wegen ihrer Besucher besondere Bedeutungen zukamen. Dazu gehören die Literatencafés »Griensteidl« und »Central«. Den Damen standen zu jener Zeit die Kaffeehäuser nicht offen, und wenn dann nur in schicklicher Männerbegleitung. Es gab ein ständiges Auf und ab in der Geschichte der Wiener Kaffeehäuser. So wurden nach dem Krieg um 1920 viele Kaffeehäuser in Bankfilialen verwandelt, zur Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs um 1930 aber ebenso viele Banken in Kaffeehäuser zurückverwandelt. Man möchte fast sagen, dass jeweils zu Krisenzeiten ein besonderer Hang zum Kaffeehaus bestand, während in guten Zeiten die Gäste ausblieben. Der Zeitenwandel ist zu allen Epochen beklagt worden. Jede kleine Veränderung im Stammcafé hat zu Entrüstungsstürmen geführt. Daher ist in den Kaffeehäusern die Zeit immer ein wenig stehen geblieben. Heute besinnt man sich wieder verstärkt auf alte Traditionen und erinnert sich wieder alter Kaffeezubereitungsarten. Freilich, das Altwiener Kaffeehaus ist fast vollständig verschwunden. Es ist den Tod durch Renovierung und Modernisierung gestorben. Verschwunden sind die Pfeiler, Nischen und gewölbten Decken, die für die besondere Atmosphäre sorgten. Das große Kaffeehaussterben nach dem zweiten Weltkrieg in den 50er und 60er Jahren betraf jedoch vorwiegend die Café Restaurants. Während der krisengebeutelten 70er Jahre sind wieder eine Menge Kaffeehäuser entstanden, darunter einige im Stile vergangener Zeit. An längst vergangene Tage erinnern bestenfalls noch das »Havelka« und das »Raimund«, das eine für bildende Künstler, das andere für Journalisten und Schriftsteller, doch die Grenzen verschwimmen. Ernst Hinterberger beschreibt das Kaffeehaus von heute folgendermaßen: „ . . . in die Gschisti-Gschasti-Kaffeehäuser am Ring sind die angeblichen Frau Gräfinnen lauter schiache alte Brunzbutten, dass d’ zum Homosexuellen wirst, wennst sie näher anschaust. . .“ und „ . . . durch die Bank miese Hütten, wo die Kellner aufgemascherlt wie Dirigenten von die Philharmoniker herumrennen, man aber einen schlechten und viel zu teuren Kaffee kriegt, oder ein Gebäck, was ausschaut, wie wenn’s AIDS und Lepra miteinander hätt.“ Nun Ernst Hinterberger zählt nicht zum typischen Klientel des Wiener Kaffeehauses, er hätte sich auch damals nicht wohlgefühlt. Wie er selber schreibt sind die die Wiener Vorstadtkaffeehäuser, die so genannten »Arbeitercafés«, sein zu Hause. Den Berühmtheitsgrad des Kaffeehauses vergangener Tage kann man indirekt an der Zahl der Texte, die darüber verfasst worden sind, erkennen. Diese Berühmtheit kann verschiedene Ursachen haben, sei es eine besondere Wohnzimmeratmosphäre, ein besonders gelungener Apfelstrudel oder eben ein besonderer Kreis an Stammgästen.

Die Geschichte des Wiener Kaffeehauses ist eine Geschichte mit einer tragischen Seite. Über der Leichtigkeit, dem Witz und dem Charme, die den Texten Anton Kuh's, Alfred Polgar’s oder Friedrich Torberg’s zu eigen sind, sollte man nicht vergessen: viele von den Stammgästen der Wiener Kaffeehäuser wurden in den dreißiger Jahren aus ihrer Heimat vertrieben – und längst nicht alle kehrten nach 1945 zurück.


9. Das Angebot - Vielfalt und Nuancen

Wenn man im Wiener Kaffeehaus einfach Kaffee bestellt gibt man sich als Dilettant zu erkennen oder als Auswärtiger. Die Kellner blicken ratlos oder rümpfen schlimmstenfalls die Nase. Die Vielfalt des Angebotes übersteigt das Fassungsvermögen jedes nicht mit der Wiener Kaffeehauskultur vertrauten Nicht-Wieners. „ . . . Denn die Anzahl der Gattungen, Zubereitungsarten, Farben und Quantitäten, unter denen es zu wählen gibt, hat keine Grenzen oder hat sie erst in nebelhafter Ferne . . .Es war der auf Wiener–Art zubereitete Kaffee, der den Ruhm des Wiener Kaffeehauses begründet hat und die Vielfalt der möglichen Bestellungen bis heute gewährleistet, dem wir die »Melange« verdanken und den »Kapuziner«, den »Braunen« und die »Schale Gold« – Bezeichnungen, deren manche bereits offenbaren, in welchem Verhältnis Kaffee und Milch gemischt sind. Die Kenntnis dieser Kombinationen ist für eine halbwegs fachmännische Bestellung unbedingt erforderlich. Hinzu kommen der keiner Erklärung bedürftige >Schwarze< oder »Mokka«, der »Einspänner« (ein Schwarzer im Glas mit sehr viel Schlagobers), der »Mazagran« und eine schier unübersehbare Menge von Variationen der Grundfarben, je nach Neigung und Sekkatur des Gastes, und gewöhnlich durch ein an die Bestellung angehängtes »mehr licht« oder »mehr dunkel« angedeutet“, so Friedrich Torberg in seinem »Traktat über das Wiener Kaffeehaus«. „Ein Perfektionist unter den einstigen Kellnern des Café Herrenhof trug ständig eine Lackierer Farbskala mit zwanzig nummerierten Schattierungen von Braun bei sich und hatte den erfolgreichen Ehrgeiz, seinen Stammgästen den Kaffee in der gewünschten Farbtönung zu servieren . . .“ Früher hatte man im Kaffeehaus nichts richtiges zum Essen bekommen. Es gab belegte Brote und, wenn es unbedingt etwas warmes sein musste, ein paar Würstel oder eine Eierspeise. Man kam ins Kaffeehaus nicht zum, sondern nach dem Essen, nicht um der fleischlichen, sondern um der geistigen Nahrung willen. Das änderte sich als um 1925 mit dem Einbruch von Küche und Keller in den Kaffeehausbetrieb das Café Restaurant aufkam und eine schwere Erschütterung der klassischen Kaffeehausatmosphäre mit sich brachte. Susanne Widl meinte in ihrer »kleinen Caféhausphilosophie«: „Die Qualität des Zeitungsangebots ist daher ebenso ausschlaggebend wie die Qualität des Kaffeeangebots. Dieses Angebot ist bekanntermaßen reichlich und bedarf daher eines gesetzlich vereidigten Sachverständigen, der durch die zahlreichen Kaffeeabwandlungen vom Einspänner bis zur Melange navigiert.“

Neben allen namhaften Zeitungen der Länder der Monarchie waren alle bedeutenden Gazetten des Auslandes vertreten. Sie zusammen bildeten einen unermesslichen Fundus an Informationen, genau genommen den Einzigen jener Zeit, wenn man von mündlichen Berichten absieht. Diese erlesenen Informationen zusammen mit den täglichen Ereignissen bildeten auch die Grundlage und waren Anlass und Ausgangspunkt der Diskussionen.


10. Der Tagesablauf

Morgens kann man im Kaffeehaus sein Frühstück einnehmen. Nach dem Mittagessen beginnt die übliche Kaffeehauszeit. Daran schließt sich die Zeit des Spiels: Billard, Tarock, Schach. Danach kommt die Jausenzeit und ab jetzt bleibt das Kaffeehaus überfüllt. Ab 7 Uhr beginnt die Nachtmahlzeit. Die Nachtmahlesser werden mit einem löchrigen und nicht ganz einwandfreien jedoch weißen, Tischtuch geehrt. Die Kino und Theaterbesucher übernehmen ab 9 Uhr das Kaffeehaus und verweilen bis dann nach Mitternacht, zwecks Reinigung des Etablissements, die Stühle auf die Tische gestellt werden. Von 8 Uhr früh bis 2 Uhr nachts spielt sich hier ein wesentlicher Teil des Wiener Lebens ab.

11. Der Ober – Nicht Beruf sondern Berufung

Nicht nur die Kaffeehausbesucher, insbesondere die Stammgäste waren, auch für damalige Begriffe, eigenwillige Gestalten. Auch die Kellner, Ober genannt, gehörten dieser Kategorie an. Sonst hätten sich nicht so viele Literaten bemüßigt gefühlt über sie zu berichten. Der Ober in Smoking und Mascherl gehörte zum Inventar wie Marmortische, Thonetsessel und Plüschbänke. „Der Ober war zugleich Seelenarzt, das Kaffeehaus seine Anstalt, die Gäste seine Patienten, der Kaffee deren Medizin“. Er hatte sehr feinfühlig zu sein und gab dem Gast, was dieser gerade benötigte, war es eine Streicheleinheit oder ein Plausch über dieses und jenes. „Die rechte Freude am Kaffeehaus hat nur der Stammgast“, so Otto Friedländer, und zu diesem wurde man vom Ober ernannt. Das geschah normalerweise rasch, man ging ein paar mal regelmäßig in dasselbe Kaffeehaus, bestellt sich das gleiche und schon kam der Ober nicht mehr zum Tisch um die Bestellung aufzunehmen. Er blickte einen kurz an, was soviel hieß, wie: „wie gewohnt“. Zugleich mit der Bestellung brachte er die gewohnte Zeitung. Man wurde so zur Persönlichkeit, vom Kellner gekannt, speziell bedient und in jeder Weise geehrt. Vom Stammgast wusste der Ober aufgrund seiner Menschenkenntnis überhaupt alles: Biographie, Bekanntenkreis und Beziehungen. Der Ober teilte gute und schlechte Noten aus, nicht immer bekam der, der die größten Trinkgelder gab, die besten Noten. Er war, so wird gesagt, gerecht und gütig, Studenten und Künstlern schrieb er endlos die Zeche auf. Mit den Jahren legte sich der Kellner viel Geld zurück, heiratet eine Köchin oder verwitwete Kaffeesiederin und wurde selber Chef, so soll es zumindest vorgekommen sein.

Karl Kraus über den Ober (aus »Frühe Schriften«, 1892-1900): „ . . . Dass in einem so exceptionellen Café auch die Kellnernatur einen Stich ins Literarische aufweisen musste, leuchtet ein. Hier haben sich die Marquere in ihrer Entwicklung dem Milieu angepasst. Schon in ihrer Physiognomie drückte sich eine gewisse Zugehörigkeit zu den künstlerischen Bestrebungen der Gäste, ja das stolze Bewusstsein aus, an einer literarischen Bewegung nach Kräften mitzuarbeiten . . .“


12. Der Kunde – Künstler und andere Sonderlinge

„Ins Kaffeehaus kommt man immer wieder und bei jeden Anlass: wenn man verbittert oder glänzend gelaunt ist, weil’s einem schlecht oder zu gut geht, weil man Hunger hat oder satt zu ist“, so Ludwig Hirschfeld in seinem »Buch von Wien: Was nicht im Baedecker steht«. „Hier werden die Meinungen gebildet, die Gemeinplätze und manchmal auch die Gemeinheiten“. Diese von Moccaduft geschwängerte kleine Welt dient als Rendezvousplatz für Verliebte, Wohnung für den Menschen ohne Heim, Geschäftslokal, Ort der Begegnung für den Anschlusssuchenden. Wenn einer behauptet, er arbeitet im Kaffeehaus mehr als ein anderer in seinem Geschäft, so muss das nicht wahr sein, aber es kann wahr sein. Das Kaffeehaus ist das Laster des Wieners. Es gibt relativ wenige Alkoholiker oder Morphinisten aber viele tausend Kaffeehaussüchtige. Es ist ein Rausch ohne Gift. Im Kaffeehaus verfliegt die Zeit. Man spielt dort Karten und Billard, man liest Zeitung und raucht Zigarre, man plauscht. „In das Kaffeehaus flüchtet man vor der Familie, vor den Frauen, nach den Frauen . . .“, so Otto Friedländer in seinem Buch: »Letzter Glanz der Märchenstadt«. In den Kaffeehäusern galten strenge Regeln, die Besetzung der Stammtische betreffend. Ein Platz an einem Stammtisch galt als besondere Ehre und musste erst verdient werden. Neben dem Schach wurde das Kartenspiel gepflogen, natürlich wurde auch Billard gespielt. Jedenfalls herrschte an Käuzen, Schnorrern und deren Mäzenen und anderen Sonderlingen kein Mangel.



13. Die Schnorrer – Mäzene – skurrile Gestalten

Nicht alle Kaffeehausbesucher jener Zeit stammten aus einem der wohlhabenden jüdischen Bürgerhäuser oder konnten sich aus eigenen Kräften am Leben erhalten. Bei dieser Spezies handelte es sich um die weithin bekannten »Schnorrer«. Waren diese skurril genug oder besonders redegewandt, wurden sie durchaus an den Stammtischen akzeptiert oder sogar gerne gesehen. Sie hatten dann ihren »Mäzen« oder deren mehrere, die sie durch das Leben fütterten. Das Schnorrertum war in der Bohéme ziemlich verbreitet und bot außerdem reichlich Stoff für eine Vielzahl an Anekdoten, daher möchte ich einige von ihnen erwähnen. Sei es weil sie besondere Berühmtheit erlangten, wie etwa Peter Altenberg oder weil ihr Leben von einem besonderen Schicksal begleitet war wie etwa das Leben Ottfried Krzyzanowsky.

a. Emil Szittya über Peter Altenberg (aus »Das Kuriositäten-Kabinett«, 1923): „ . . . Er war nur der offiziell anerkannte Bohèmien der Wiener Bürger und Kokotten. Es gibt sehr viele Lokale, z.B. Café Lachmann, Café Central, wo Altenberg alles gratis bekam. Sogar beim Friseur hatte er billigere Preise. Trinkgelder gab er prinzipiell nicht, sondern er nahm nur an. Er schrieb über jede Wiener Kokette Gedichte. Er hatte Menschen, die ihm eine Rente von zehn Kronen pro Monat gaben. Rentenlose Bekannte hatte er nicht gern. Seine größten Verehrer waren Karl Kraus und Adolf Loos . . .“

Wie wir also sehen war Karl Kraus, der auf Grund seiner Scharfzüngigkeit nicht gerade viele Freunde sein eigen nennen konnte, ein besonderer Gönner Peter Altenbergs, über den an späterer Stelle noch zu berichten sein wird. Altenberg konnte sich mit seinem Schnorrertum einigermaßen vernünftig durch das Leben manövrieren, er hat zumindest nie geschrieben um Geld zu verdienen. Ein ganz anderes Schicksal hat Ottfried Krzyzanowsky erlitten, doch lassen wir Emil Szittya nochmals sprechen:

b. Über Ottfried Krzyzanowsky: „Schlottrig, knochig, hässlich, aber gebildet und edel soll er gewesen sein, der verbettelte Dichter Ottfried Krzyzanowsky. Ob der puritanisch strenge Krzyzanowsky jemals mehr gedichtet hat als zwei oder drei Dutzend Gedichte, wusste man schon damals nicht zu sagen. Aber zum erlauchten Kreis des Central gehörte er fraglos dazu als armer Schnorrer, der sich von den Stammgästen seinen bescheidenen Unterhalt stumm erbettelte. Nur wenn einer der eindringlichen Bitte seiner Augen nicht nachkam, forderte er seinen Pfiff Wein mündlich ein. Nachdem sich also seine Gönner auf zwei Lager verteilt hatten, pendelte Krzyzanowsky zwischen Herrenhof und Central hin und her. Sah man ihn in dem einen Café für eine Weile nicht, vermutete man ihn eben im anderen. So geschah es, dass er einige Tage lang abgängig sein konnte, ohne dass es jemand aufgefallen wäre. Als dann doch eine Kaffeehaus–Abordnung zu seiner Logie in die Vorstadt hinausfuhr, um nach dem Rechten zu sehen, war es zu spät, da war der gute Krzyzanowsky nämlich schon verstorben. An den Stammtischen in Central und Herrenhof sammelte man immerhin für sein Begräbnis, die Trauerrede hielt Franz Blei. Als Krzyzanowsky dann verhungert war – er tat es aus gewissenbelastender Bosheit, so Anton Kuh – erschienen sehr viele Feuilletons der Geber und Nichtgeber.“

Ottfried Krzyzanowsky wäre nicht verhungert, hätten seine Gönner von seiner mieslichen Lage gewusst. Sein Fernbleiben ist durchaus bemerkt worden, jedoch falsch interpretiert. Ähnlich übel als Krzyzanowsky, der soweit man weiß nicht viel geschrieben hat ist es Leopold Reisinger ergangen. Er konnte jedoch im Gegensatz zu Krzyzanowsky auf ein reiches Schaffen zurückblicken, ohne jedoch jemals eine einzige Zeile veröffentlicht zu haben. Auch ihn ereilte das tragische Los des Verhungerns. Das Wort ergeht an Emil Szittya:

c. Über Leopold Reisinger: „Gleich neben Altenberg müssen wir einen gänzlich unbekannten Dichter, Leopold Reisinger erwähnen. Er war einer der merkwürdigsten Typen, die Wien hervorgebracht hat. Er war ein Mensch der die Bohèmienromantik konsequent aufrechterhielt. Es gibt kein Café in Wien, wo er nicht Schulden hatte. Es gibt in Wien keinen Menschen, der mit Kunst zu tun hat, den er noch nicht angepumpt hätte. Er hat ungefähr vierzig Dramen und achthundert Novellen geschrieben, aber er hat nie eine Zeile veröffentlicht. Er bildete sich ein, seine Mutter habe ihn abtreiben wollen, es wäre ihr aber nicht gelungen; aus diesem Grunde hätte er Dichter werden müssen. Traurig aber wahr, die Wiener haben ihren einzigen, wirklich interessanten Dichter, Leopold Reisinger, Hungers sterben lassen“.

Ein ganz anderer Typus des Schnorrers war Anton Kuh. Er konnte sich durch seine journalistische Tätigkeit durchaus selbst am Leben erhalten. Und dennoch ging er als Schnorrerkönig in die Annalen ein. Er war einfach geizig und überlies das Zahlen einfach den anderen. Emil Szittya berichtet:

d. Über Anton Kuh: „Damit sich Anton Kuh nicht beleidigt wird, soll er gleich neben seinem Freund Reisinger erwähnt werden. Anton spielt (weil’s in Österreich noch interessant ist) den Homosexuellen, aber nebenbei ambitionierte es ihn, einige Jahre mit Bibiana, einer früheren Freundin Altenbergs, zu leben. Die beiden waren die Pumpgenies von Wien, aber sie machten es noch viel geschickter als Reisinger. Manchmal treibt Anton Kuh auch Journalismus“.

Auch über Anton Kuh, der durch seine besondere Gabe, Stegreifreden zu halten, bekannt wurde, wird später noch zu berichten sein. Soweit zu den Schnorrern, die ziemlich verbreitet waren und einen Gutteil der skurrilen Gestalten im Kaffeehaus ausmachten. Wie gesagt, sie hatten ihre Gönner und zeigten sich durchwegs dadurch erkenntlich, dass sie die erlauchten Stammtischkreise mit ihrer Anwesenheit auf die eine oder andere Art bereicherten.

Über Adele Sandrock – Die »feme fatale«: Doch wie gesagt, der Kreis der Kaffeehausbesucher war groß. Neben den Literaten, den Schnorrern und deren Mäzene gab es eine ganze Anzahl anderer illustrer Gäste. Einige wenige möchte ich exemplarisch erwähnen um einen abgerundeten Überblick über das Kaffeehausgeschehen vermitteln zu können. Ich erwähle dazu Adele Sandrock als Exempel. Zum Einen war sie bei den Wienern besonders beliebt und wurde richtiggehend angebetet, zum Anderen pflegte sie besondere Beziehungen zu einigen unserer Kaffeehausliteraten, wie wir gleich sehen werden. Es war eine illustre Gesellschaft, die sich hier im Lesesaal des Griensteidl ein Stelldichein gab. Im großen und ganzen war es wie gesagt eine Männergesellschaft, abgesehen von einigen »Damen der Halbwelt«, die geduldet oder vielleicht gar gerne gesehen waren. Umso erfreuter und aufgeregter reagierte man, wenn sich die umschwärmte Damenwelt aus dem Burgtheater zu ihr gesellte. Verständlich, den die Filmstars wurden gemeinsam mit dem Stummfilm erst einige Jahrzehnte später »erfunden«. Vor allem Adele Sandrock hatte es den Wienern angetan. Diese »Heroine mit Sex-Appeal« wurde von Hermann Bahr, der mit ihrer Schwester Wilhelmine liiert war, als größte deutsche Schauspielerin beschrieben. Obwohl äußerlich nicht mit dem Liebreiz der Natur ausgestattet, sagte man ihr männermordende Wirkung nach. Sie war berühmt für ihre Affären, doch sie verliebte sich Hals über Kopf in Arthur Schnitzler. Für diesen aber war die komplizierte Liebschaft nichts für die Ewigkeit, so wusste sich Adele Sandrock sich nicht mehr zu helfen, als mit altbewährten Mitteln, Arthur eifersüchtig zu machen. Sie wählte Schnitzlers Freund und Kaffeehausspezl Felix Salten für diesen Schachzug aus, dessen rührend tollpatschigen Annäherungsversuche an die »Femme fatale« des Jungen Wien ohnehin von den Spatzen von den Dächern gepfiffen wurde. Bei einem dieser Versuche stellte er sich so ungeschickt an, dass er zwei Kannen umstieß. Kaffee und Milch flossen über die sündhaft teure Garderobe der Diva, die empört aufsprang und Salten wutentbrannt anherrschte »Aha – ein Dramatiker!« Von Erfolg war auch die Aktion Adeles Sandrocks nur teilweise gekrönt. Zwar lag ihr Salten schnell zu Füßen, aber ihr geliebter »Thuri« ließ sich doch nicht mehr erweichen.


Über Friedrich Eckstein – Dem »Lebenden Wörterbuch«: Da keine der legendären Kaffeehausbesucher ausgelassen werden soll, findet auch Friedrich Eckstein würdigende Erwähnung. Regelmäßig kam der alte Eckstein ins Herrenhof. Er war wahrscheinlich gar nicht alt, obwohl er immer so betitelt wurde. Seine Frau war eine damals sehr bekannte Schriftstellerin, die das Pseudonym Sir Galahad verwendete, aber er war geschieden, wie jeder »gebildete Mensch«. Er sei deshalb erwähnt, weil er wahrscheinlich der bestinformierte Mann auf allen Wissensgebieten, war. Karl Kraus hat von ihm gesagt, das Lexikon käme nachts zu ihm, um in ihm zu Blättern. Eckstein war hochmusikalisch, in seiner Jugend aus reinem Hobby ein Schüler Anton Bruckners und Autor einer leider verschollenen Bruckner-Monographie mit dem schönen Titel »Der Weltgeist an der Orgel«. Als begeisterter Wagnerianer rühmte er sich, in seiner Jugend zu Fuß von Wien nach Bayreuth gepilgert zu sein. Eckstein stand im Ruf, einfach alles zu wissen, es gab keine Frage, die er nicht unverzüglich beantworten konnte. Als einmal die »Presse« eine Meldung brachte, in der von einem neuen Werk des Dichters Kun-Han-Su die Rede war, konnte der alte Eckstein seinen fragenden Jüngern sofort mit genauen Auskünften über das Schaffen dieses bedeutenden chinesischen Lyrikers aufwarten, der als einziger versuchte, eine unter den letzten Kaisern der Ming Dynastie zur Hochblüte gelangte Versform wieder zu beleben. Zwar stellte sich am nächsten Tag heraus, dass es sich bei Kun-Han-Su lediglich um einen Übermittlungsfehler von »Knut Hamsun« handelte, aber der alte Eckstein hatte wieder einmal alles gewusst, und man respektierte ihn so sehr, dass man geneigt war, auch weiterhin an die Existenz eines chinesischen Lyrikers namens Kun-Han-Su zu glauben. Ich glaube nicht, das es solche Charaktere wie den alten Eckstein seither noch einmal gab oder je wieder geben wird. Wahrscheinlich hat es sie auch früher nicht gegeben. Wahrscheinlich waren sie das Ergebnis jener Zeit und die damalige Zeit war das Ergebnis ihrer Charaktere.


14. Das Stammcafé – Jedem sein Eigenes

Jede Künstlergruppe hatte ihr eigenes Stammkaffee. Wie es dazu kam lässt sich etwa so beschreiben: Irgendein Mitglied eines künstlerischen Genres, zum Beispiel ein Maler, hatte ein Kaffeehaus für sich entdeckt und dann andere angelockt. So sind aus kleinen Zellen richtige Stammtische herangewachsen, die dann den Ruf jenes Kaffeehauses für diese oder jene Kunstgattung begründet haben. Der Begriff »Kaffeehauskultur« ist seit undenklichen Zeiten mit Wien verknüpft, ebenso wie »Wiener Musik«, die »Lipizzaner« oder das »süße Wiener Mädel«. Die Kaffeehauskultur ist vielleicht das echteste und wienerischste. Jedes Kaffeehaus hatte seine eigene, unverwechselbare , eifersüchtig gehütete Note und Atmosphäre. Ein Stammgast des »Central« oder des »Herrenhof« hätte sich im »Museum«, dem Kaffeehaus der Maler, so fremd und verlassen und ausgestoßen gefühlt wie ein Stammgast des Musikercafés »Parsifal« im Journalistencafé »Rebhuhn«. Heute ist diese eigentümliche Unverwechselbarkeit weitgehend verschwunden. Bestenfalls das »Raimund« oder das »Hawelka« könnte man noch so bezeichnen. Im einen finden sich vorwiegend Literaten im anderen bildende Künstler. Doch die Grenzen weichen auf und Schauspieler sind in beiden vertreten. Doch nicht nur die Künstler hatten ihr eigenes Stammcafé, bildlich gesprochen hatte jeder Wiener hat sein eigenes. Dort traf man ihn sicherer als zu Hause. So gab es Kaffeehäuser der Minister und Abgeordneten, wie das »Café Pucher« oder das »Central«. Die Großindustrie traf man im »Schrangl«, die Professoren im »Landtmann«, die Künstler im »Museum«. Die Musiker waren im »Parsifal« zu Hause, die Journalisten im »Rebhuhn«. Jedes Kaffeehaus hat seinen Stammkreis, manches mehrere. Ein Kuriosum am Rande: Der Vater unseres Altbundeskanzlers Bruno Kreisky, ein wohlhabender Industrieller, war Stammgast im »Schrangl«. Er war ein weithin bekannter Gönner und hatte immer etwas für die Armen übrig: „Bringts denen Schnorrern da vorne ein Paar Würstel . . .“ pflegte er zu sagen, wenn er ein paar arme Schlucker zum Essen einlud.


15. Das Literatencafé – Einst und jetzt

Im Ausland identifiziert man gerne das Literatencafé mit dem Wiener Kaffeehaus – verständlicherweise, denn es waren natürlich Literaten, die über das Kaffeehaus schrieben, und sie stützten sich dabei notwendig auf die Wahrnehmungen, die sie in »ihrem« Kaffeehaus, also in einem Literaturcafé gemacht hatten. Durch eine Unzahl an Publikationen konnte sich der Ruf des Literaturcafés rasch über den Erdball verbreiten, und er hat sich bis heute halten können. Eindeutig war zu jeder Zeit nur das »führende« Literatencafé festzustellen, das »Grünsteidl« etwa, wo sich um 1890 in der Zeit des »Fin de Siècle« die Vertreter des »Jung Wien« zusammenfanden: Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer–Hofmann, Hermann Bahr, Felix Salten. Nach dem Abriss des »Griensteidl« folgte bis zum Ende des ersten Weltkriegs dann das »Café Central« mit seinen Stammgästen Karl Kraus, Peter Altenberg, Egon Friedell, Oskar Kokoschka und Alfred Polgar. Abgelöst wurde es vom »Herrenhof«, dem End– und zugleich Höhepunkt in der Reihe der Literatencafés. Es öffnete nach dem Ersten Weltkrieg. Zu seinen Stammgästen zählten unter anderem Hermann Broch, Robert Musil, Franz Werfel sowie Josef Roth. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte es noch ein Schattendasein, ehe es 1960 für immer die Pforten schloss. Nach dem Zweiten Weltkrieg fungierte das »Hawelka« als Zentrum des geselligen künstlerischen Lebens – freilich immer in Konkurrenz zu anderen Cafés wie dem »Museum«, dem »Imperial« oder einem der zahllosen weniger berühmten – und doch ebenfalls legendären – Häuser. Entlang der Kette dieser Cafés trifft man immer wieder auf die Namen von Künstlern, Dichtern und Schriftstellern, die hier zusammentrafen. Natürlich waren die Stammbesucher jener Kaffeehäuser nicht ausschließlich in ihren eigenen »Stammcafés« anzutreffen, wohl aber zumeist. Trotz der Generationswechsel wurde die Tradition, die keinesfalls auf Wien beschränkt war, nahtlos fortgeführt. Etliche »Centralisten« stammten aus Böhmen, viele Stammgäste des »Herrenhof« aus Prag, wo sie vor 1918 bereits in Kafkas »Café Arco« verkehrt hatten. In den zwanziger Jahren verschlug es die Kaffeehausliteraten in Scharen nach Berlin, wo sie ihr – so gar nicht preußisches – »Herrenhof« fanden: das »Romanische Café«. Nach 1933 – den Wienern blieben noch fünf, den Pragern sechs Jahre – teilten die Besucher des »Romanischen Cafés« wie des »Café Herrenhof« – von wenigen Ausnahmen abgesehen – das Schicksaal der Emigration. Im weiteren Sinne galten, abgesehen von den oben erwähnten, all jene Kaffeehäuser als Literatencafés, in denen sich geistig und künstlerisch interessierte Menschen zusammenfanden. Solche Kaffeehäuser gab es in allen Landesteilen sowie auch im Ausland viele, heute gibt es davon fast keine mehr.

Warum gibt es heute keine Literatencafés im ursprünglichen Sinne mehr? Zwei besondere Umstände haben dafür die Verantwortung zu übernehmen: Der eine, besonders tragische Umstand ist die Vertreibung und Vernichtung der Juden. Diese bildeten hauptsächlich die künstlerisch interessierte Klientel. Der zweite Umstand ist die veränderte Gesellschaft. In der heutigen Kommerz- und Konsumgesellschaft mangelt es an Zeit, dem Hauptfaktor für das Kaffeehausleben. Gewiss gibt es noch immer einige, wenn auch wenige(r), geistig und künstlerisch interessierte Menschen, Literaten und Intellektuelle. Doch eines haben sie nicht im ausreichenden Maß zur Verfügung, nämlich Zeit, die wichtigste Voraussetzung jeglicher Kaffeehauskultur. Sie sind zu beschäftigt, sie haben zu tun. Auch die Stammgäste des früheren Literatenacafés hatten zu tun, doch sie taten es im Kaffeehaus. Dort schrieben und dichteten sie. Dort erledigten sie ihre Post und Telefonate, trafen Freunde und Feinde, lasen und diskutierten. Und dort lebten sie. Peter Altenbergs Postadresse war jahrelang »Café Central, Wien 1«. All die Annehmlichkeiten der heutigen Zeit, wie Auto, Telephon, Computer usw. haben nur eines bewirkt: wir haben noch weniger Zeit als früher, als diese Dinge noch nicht erfunden oder so stark verbreitet waren. Diese Dinge sind nüchtern betrachtet nicht Luxus, sie sind bestenfalls Behelfe. Zeit ist Luxus. Alfred Polgar hat es so formuliert: „Das Kaffeehaus sei ein rechtes Asyl für Menschen, die die Zeit totschlagen müssen, um von ihr nicht totgeschlagen zu werden“. Hier tut sich eine Kluft auf zur modernen Welt, wo doch eigentlich keiner mehr Zeit hat zum Zeit–Totschlagen – so traurig das sein mag. Selbst die ärmsten Insassen der Cafés konnten sich den Luxus der Zeit leisten. Sie waren arm und selig. Geld zu verdienen galt ihnen beinahe als schimpflich. Die Zeche bezahlten die Mäzene, die es heute auch nicht mehr gibt, und gäbe es sie, dann hätten sie ebenfalls keine Zeit. Heute ist jeder sein eigener Mäzen. Das Kaffeehaus ist nicht mehr das Um und Auf des Daseins, sondern bestenfalls das Drum und Dran. Es spielt im Leben keine wichtige Rolle mehr, es ist Nebensache. Das Kaffeehaus heute ist vielleicht angenehm doch nicht unentbehrlich. Sie können ins Kaffeehaus gehen, sie müssen aber nicht. Wenn sie hingehen tun sie dem Kaffeehaus einen Gefallen, nicht sich. Die Menschen heute sind beschäftigt – sie haben zu tun. Sie sind nur noch potentielle Kaffeehaus–Stammgäste, keine praktischen mehr. Sie bringen alle Erfordernisse eines Stammgastes mit, nur sich selber nicht. Sie haben keine Zeit. Und Zeithaben ist das wichtigste, die unerläßliche Voraussetzung jeglicher Kaffeehauskultur, wahrscheinlich sogar jeder Kultur. Auch die Stammgäste der früheren Literatencafés waren beschäftigt: zum Teil damit, im Kaffeehaus zu sitzen, zum Teil mit Dingen, die sie im Kaffeehaus erledigen konnten und wollten. Dort schrieben und dichteten sie. Dort empfingen und beantworteten sie ihre Post. Dort wurden sie telephonisch angerufen, und wenn sie zufällig nicht da waren, nahm der Ober die Nachricht für sie entgegen. Dort trafen sie ihre Freunde und Feinde, dort musste man hingehen, wenn man mit ihnen sprechen wollte, dort lasen sie Zeitungen, dort diskutierten sie, dort lebten sie. In ihrer Wohnung schliefen sie nur. Ihr wirkliches Zuhause war das Kaffeehaus. „Die Produktivkraft des einstigen Literatencafés im engeren wie im weiteren Sinn verstanden, war enorm. Im Literatencafé wurden“, so Friedrich Torberg, „literarische Schulen und Stile geboren und verworfen, vom Kaffeehaus nahmen neue Richtungen der Malerei, der Musik, der Architektur ihren Ausgang“. Jedes dieser Kaffeehäuser war durch ein besonderes und einzigartiges Ambiente gekennzeichnet. Sie hatten Eigenschaften und Besonderheiten, die es der Klientel eines der anderen Kaffeehäuser unmöglich machte, sich dort Wohlzufühlen. Musiker fühlten sich im »Central« fremd, verlassen und ausgestoßen, dasselbe galt für bildende Künstler im »Rebhuhn«. Dagegen bildete es für die eigene Gruppe einen unerschöpflichen Hort an Geborgenheit, Zerstreuung und Vergnügen. Nach Hause ging man bestenfalls zum Schlafen, selbst das besorgte man im eingeschränkten Maß im Kaffeehaus selbst. So war es durchaus nicht unüblich dass der eine oder andere zur Sperrstunde aufgeweckt und höflich doch bestimmt zum Verlassen der Lokalität aufgefordert wurde. Das Geistesleben jener Zeit wurde von einer schier endlosen Diskussionsfreudigkeit geprägt, deren Zentren die Kaffeehäuser der Städte bildeten. Die Diskussionen wurden mit viel Geist, Witz, Charme und Esprit geführt, und behandelten das Kulturgeschehen ebenso wie politische sowie gesellschaftliche Ereignisse. Gerade die Juden waren mit jenen besonderen Begabungen ausgestattet, die für gelungene Diskussionen notwendig sind: Scharfsinn, Wortwitz und Humor.


16. Die Literatencafés – Eine Aufzählung

A. Café Griensteidl – oder wie es begann: Das »Griensteidl« war wohl das erste Kaffeehaus, das den Namen »Literatencafé« mit Berechtigung trägt, und so in die Geschichte eingegangen ist. Ganz bestimmt war es nicht das einzige Kaffeehaus das damals geeignet gewesen wäre, sich als solches zu entwickeln. Vielleicht war es einfach Zufall dass sich gerade dort eine kleine Gruppe enthusiastischer Schreiber regelmäßig trafen, bis diese Regelmäßigkeit zur Gewohnheit wurde und so das Literatencafé entstanden ist. Im alten Griensteidl war das Essen höchstens Nebensache, das Café–Restaurant sollte erst viel später erfunden werden. Hauptsache war, jedenfalls was die Konsumation anging, tatsächlich der Kaffee. Es war eines jener typischen Kaffeehäuser jener Tage, in denen die Vielfalt und Variationen der angebotenen Kaffeesorten das Fassungsvermögen eines Nichteingeweihten zu übersteigen vermochte. Aber im Mittelpunkt stand das Wort, ob nun das geschriebene im reichen Angebot der in- und ausländischen Zeitungen oder das gesprochene in den politischen Diskussionen, die über deren Inhalt entbrannten. Das Griensteidl ist doch nicht immer ein Literatencafé gewesen, genau genommen ist es das sogar erst im letzten Jahrzehnt seines Bestehens geworden. Eröffnet wurde das Griensteidl im Jahre 1847 von dem Apotheker Heinrich Griensteidl. Bereits ein Jahr später, im Revolutionsjahr 1848, galt das Griensteidl als politisches Kaffeehaus, das bald unter seinem Beinamen »Café National« bekannt wurde. Das Griensteidl wurde damals heimlich, still und leise zum Lager der freisinnigen Elemente von Wien, ganz im Gegensatz zum nahe gelegenen Café Daum am Kohlmarkt, das als Treffpunkt der konservativen Kreise galt. Ganz ungefährlich war diese Zeit für die Griensteidlianer doch nicht. Denn der Zahlkellner »Schorsch« hatte, im Dienste der politischen Polizei ein Auge darauf, wer von den Gästen besonders häufig zur »Times« griff. Doch der spitzelnde Ober flog auf und schließlich hinaus, und mit dem Vernadern hatte es ein Ende. Das Griensteidl wurde in späteren Jahren zum Treffpunkt der jungen Arbeiterbewegung und beim ersten Demonstrationszug der Wiener Arbeiter im Dezember 1868 zum strategischen Hauptquartier der allmählich sich organisierenden Sozialdemokratie. Cafetier Griensteidl meinte es immer gut mit seinen Gästen. In seinem Kaffeehaus lag stets Papier und Schreibgerät bereit, und neben der großen Anzahl an Zeitungen und Journalen auch sämtliche Bände von Meyers Konversationslexikon. Obwohl schon Franz Grillparzer und Ludwig Anzengruber zu seinen Gästen zählten, wurde das Griensteidl erst im letzten Jahrzehnt seines Bestehens zum Literatencafé. Insbesondere der Tisch des »Jungen Wien«, mit eleganten Herren aus gutem Hause – vornehmlich jüdischer Herkunft – besetzt, sollte von sich reden machen. Da hatten sich von Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann, Peter Altenburg bis Felix Salten und Hugo von Hofmannsthal alle Geistesgrößen, die man heute als literarische Elite der Jahrhundertwende kennt, um ihren Förderer Hermann Bahr versammelt. In der Nacht vom 20. auf den 21. Jänner musste das Griensteidl schließen, das ehrwürdige Palais wurde im Zuge der Neugestaltung des Michaelerplatzes abgerissen und »Wien zur Großstadt demoliert«, wie Karl Kraus resümierte. Die Dichter des »Café Größenwahn«, wie das Griensteidl ihnen zu Ehren auch genannt wurde, zogen eine Straße weiter ins »Café Central« und trieben die Moderne von dort aus weiter voran. Im »Illustrierten Wiener Extrablatt« vom 25. Jänner 1897 war zuvor noch folgende Meldung zu lesen: „ . . . Die treuen Stammgäste feierten den Untergang des Locales mit einem großartigen Leichenschmaus . . . Nach Mitternacht waren sämtliche Vorräthe an Speis und Trank vergriffen und es wurden nur noch Ohrfeigen verabreicht. Sonst war die Stimmung famos . . .“ Angespielt wird hier auf jene legendäre Ohrfeige, die Karl Kraus für seinen eben erschienen Griensteidl–Abgesang »Die demolierte Literatur« von Felix Salten einstecken musste. Arthur Schnitzler vermerkte die Ohrfeige mit Genugtuung in seinem Tagebuch: “ . . . gestern abends hat Salten im Kaffeehaus noch den kleinen Kraus geohrfeigt, was allseits freudig begrüßt wurde . . . “. So kam das Griensteidl zu einem grandiosen Showdown und Karl Kraus zu einem furiosen Start seiner Karriere samt einer Anzahl lebenslanger Feindschaften.

Karl Kraus über den Abriss des Griensteidl (aus »Frühe Schriften«, 1892-1900): Es handelte sich bei diesem Werk um jene Abhandlung, die Kraus anlässlich des Abrisses des Café Griensteidl verfasste und ihm eine Geschichtsträchtige Ohrfeige sowie eine gehörige Portion »neuer Feinde« eintrug. „Wien wird jetzt zur Großstadt demoliert. Mit den alten Häusern fallen die letzten Pfeiler unserer Erinnerungen, und bald wird ein respectloser Spaten auch das ehrwürdige Café Griensteidl dem Boden gleichgemacht haben . . . Unsere Literatur sieht einer Periode der Obdachlosigkeit entgegen, der Faden der dichterischen Production wird grausam abgeschnitten . . . Mehr als ein Vorzug hat dem alten Locale seinen Ehrenplatz in der Literaturgeschichte gesichert . . .Namentlich die jüngeren Dichter werden das intime, altwienerische Interieur schmerzlich entbehren, welches, was ihm an Bequemlichkeit gefehlt, jederzeit durch Stimmung zu ersetzen vermocht hat . . . „ Und dann der Zyniker Kraus: „Der Demolierarbeiter pocht an die Fensterscheiben – es ist die höchste Zeit. In Eile werden alle Literaturgeräthe zusammengerafft: Mangel an Talent, Verfrühte Abgeklärtheit, Posen, Größenwahn, Vorstadtmädel, Cravatte, Manieriertheit, falsche Dative, Monocle und heimliche Nerven – Alles muss mit . . .“

Stefan Zweig über das Griensteidl: Stefan Zweig beschreibt in »Die Welt von Gestern« rückblickend auf seine Jugendjahre im Kaffeehaus. Als Gymnasiast hatte er die letzten Atemzüge des Griensteidl noch miterlebt. Für ihn, den die Schule langweilte, stellte das Kaffeehaus »die beste Bildungsstätte für alles Neue« dar, und so sog er in der Clique seiner gleichgesinnten Freunde gierig alles in sich auf, was er dort als Anregungen von den Älteren bekommen konnte. „Das Wiener Kaffeehaus stellt eine Institution besonderer Art dar, die mit keiner ähnlichen der Welt zu vergleichen ist. Es ist eigentlich eine Art demokratischer, jedem für eine billige Schale Kaffee zugänglicher Klub, wo jeder Gast für diesen kleinen Obolus stundenlang sitzen, diskutieren, schreiben, Kartenspielen, seine Post empfangen und vor allem eine unbegrenzte Zahl von Zeitungen und Zeitschriften konsumieren kann“. Und weiter: „So wussten wir alles, was in der Welt vorging, aus erster Hand, wir erfuhren von jedem Buch, das erschien, von jeder Aufführung und verglichen in allen Zeitungen die Kritiken; nichts hat so viel zur intellektuellen Beweglichkeit des Österreichers beigetragen, als dass er im Kaffeehaus sich über alle Vorgänge der Welt umfassend orientieren und sie zugleich im freundschaftlichen Kreise diskutieren konnte. Täglich saßen wir stundenlang, und nichts entging uns. Denn wir verfolgten dank der Kollektivität unserer Interessen den orbis pictus der künstlerischen Geschehnisse nicht mit zwei, sondern mit zwanzig und vierzig Augen . . .“


Felix Salten über das Griensteidl (aus »Erinnerungsskizzen aus Jahrbuch deutscher Bibliophiler und Literaturfreunde«): „Der Treffpunkt für alle Jungwiener Literaten war das Café Griensteidl auf dem Michaelerplatz. Dorthin kam aus Brünn E.M.Kafka, ein reicher junger Mann, sehr gutartig, von allen literarischen bestrebungen andauernd freudig bewegt . . . Hermann Bahr, eben aus Paris zurückgekehrt, gesellte sich zu uns. Er trug ganz die Tracht eines Montmartre–Menschen, Pepita–Beinkleider, Sakko aus braunem Samt und dazu den Zylinder. Er regte alle an durch die Verwegenheit seines Geistes, der in Wort und Schrift nur so Funken spritzte . . . Richard Beer-Hofmann stieß eines Tages zu uns. Seine Kleidung war von einer exzessiven Noblesse, von einer mit subtilstem Geschmack ausgesuchten Eleganz, die immer etwas leise Herausforderndes hatte . . . Die Begeisterung von uns allen aber errang Loris, der noch nicht sechzehnjährige Gymnasiast Hugo von Hofmannsthal . . . Nicht nur die formale musikalisch klingende Sprachschönheit Hofmannsthalscher Verse, auch ihre tiefsinniger Gedankeninhalt wirkte auf uns wie eine Art von edlem Rausch . . .“


a. Hermann Bahr (1863 – 1934)

Er gehörte zur älteren Generation der Wiener Impressionisten, obgleich er eigentlich kein Wiener war, sein Stammbaum führte nach Deutsch–Mähren, seine Geburtsstadt war Linz. Er schloss keines seiner wechselnden Studien ab, unternahm ausgedehnte Reisen mit längeren Aufenthalten in Paris und Berlin. Nach seiner Übersiedlung nach Wien (1894) wirkte er hier als freier Schriftsteller, Theaterkritiker und Journalist. Er lebte abwechselnd in Salzburg, Wien und München, wo er 1934 starb. Mit der gleichen Beweglichkeit, mit der Studienorte und Wohnsitze wechselten, machte er fast alle literarischen Moden seiner Zeit mit, so dass er als »Proteus der deutschen Literatur« in die Geschichte einging. Daneben lief ein ständiger Wandel in den politischen und weltanschaulichen Ansichten, Hermann Bahr blieb jedoch immer er selbst. Sein erstes, veröffentlichtes Werk war »Die neuen Menschen«,1887, ein Zeitdokument im Fahrwasser des Naturalismus. Sein Roman »Die gute Schule«, 1890, zeugt anstatt von groben Naturalismus bereits von verfeinerten Impressionismus. Die begeisterte Kritik Hugo von Hofmannsthals zu seinem Drama »Die Mutter«, 1891, führte zur dauerhaften Freundschaft der beiden Dichter. Gleichzeitig veröffentlichte Bahr die Aufsatzsammlung »Zur Kritik der Moderne«, 1890, und den Essay »Die Überwindung des Naturalismus«, 1891. Seine Essays umfassen rund 20 Bände, darunter »Expressionismus«, 1916. Dazu kamen zahlreiche »Tagebücher«. Die Gipfelleistungen dieses Teils seiner literarischen Produktion bot Bahr in der »Summula« und im »Selbstbildnis«, beide 1923. 1909 schuf er das graziöse Lustspiel »Das Konzert«. Seine Romane ab 1908 versuchen alle in der bürgerlichen Welt des damaligen Europas vorkommenden Typen auf einige wenige von der Natur geschaffene Vorbilder zurückzuführen. Diese Serie begann mit »Die Rahl«, eine Psychologie der großen Schauspielerin, wurde fortgesetzt mit »Dtrur«, ebenfalls 1909, einer Berührung mit ethischen und sozialen Fragen. 1910 folgte der Roman »O Mensch!«, der die Notwendigkeit der Versöhnung und Annäherung der Nationen behandelte. Der Roman »Himmelfahrt« und das Schauspiel »Die Stimme«, beide 1916, behandeln beide das Thema »Heimkehr zur Kirche«. In den »Rotten Korahs«, 1919, behandelt er die Judenfrage, im »Inwendigen Garten«, 1927, die Unauflöslichkeit der Ehe. Sein letztes Werk »Österreich in Ewigkeit«, 1929, behandelt den Verfall der Jugend an den Nationalsozialismus.


Karl Kraus über Hermann Bahr (aus »Frühe Schriften«, 1882-1900): Karl Kraus titulierte Hermann Bahr später in seiner satirischen Elegie auf den Tod des Griensteidl boshaft als »einen Herrn aus Linz, der sich berufen fühlte „die ganze Literaturbewegung einzuleiten, die zahlreichen schwierigen Überwindungen vorzunehmen, nicht zuletzt, dem Kaffeehaus den Stempel seiner Persönlichkeit aufzudrücken«. Über seine Kollegen frotzelte Kraus mit spitzer Zunge: „Eine Linzer Gewohnheit, Genialität durch eine in die Stirne baumelnde Haarlocke anzudeuten, fand sogleich begeisterte Nachahmer – die Modernen wollten es betont wissen, dass ihnen der Zopf nicht hinten hing“. Alle nimmt er hier aufs Korn, mit denen er in seinen Griensteidl–Jahren an einem Tisch gesessen hatte, bevor er seinen Arbeitsplatz ins Café Central verlegte: „ . . . Griensteidl ist nun einmal der Sammelpunkt von Leuten, die ihre Fähigkeit zersplittern wollen, und man darf sich über die Unfruchtbarkeit von Talenten nicht wundern, welche so dicht an einem Kaffeehaustisch beisammen sitzen, dass sie einander gegenseitig an der Entfaltung hindern . . . Immer wiederkehrende sentimentale Wahnvorstellungen, die diesen rührend engen Horizont ausfüllen . . . Hier ergänzen sich die Individualitäten wohl so, dass, was dem Einen an Humor fehlt, der Andere durch Mangel an Erfindung wettmacht. Der Andere ist talentlos aus Passion, der Eine muss davon leben . . .“. Karl Kraus, der geniale Einzelgänger, der sich nie einer literarischen oder sonstigen Richtung zugehörig fühlte, sonnte sich bekanntermaßen in der Rolle des Einzelkämpfers und pflegte seine Feindschaften „ . . . An diesen Kreis junger Männer, die nicht schreiben können, sich aber immer nur auf den einen beruf Capriciren, schliesst Einer sich an, der durch Vielseitigkeit wohlthuende Abwechslung bietet: Er kann auch nicht malen. Erst in gereifteren Jahren ging er daran, seiner Unbegabung auch schriftstellerisch Ausdruck zu geben, nicht ohne sich vorher eine feste Grundlage umfassender Bildungslosigkeit geschaffen zu haben . . .“ Gewogen blieb er lediglich Peter Altenberg, der im »Fackel«–Kraus wiederum seinen wahren Entdecker sah.


b. Arthur Schnitzler (1862 – 1931) – Der Dichter der Dekadenz

Der Wiener Arzt stand in zeitlicher und gedanklicher Nähe zu Peter Altenberg. Seine Dramen und Romangestalten waren »das süße Mädel«, die verheiratete aber untreue Frau, der Liebhaber oder Hausfreund. In seinen frühen Einaktern um »Anatol«, 1892, handelte es sich um Gespräche zwischen zwei oder drei Personen um Liebe und Treue. Der Kreis den er immer wieder darstellt, besteht aus der so genannten besseren Gesellschaft, den reichen Mitgliedern des Adels, der Akademikerschaft, des Offiziersstandes. Sein erster Bühnenerfolg »Liebelei«, 1895 nimmt die erotische Thematik des »Anatol« wieder auf. Schnitzler hat die Probleme um Liebe und Liebelei auch in historische Kostüme gekleidet, erstmals im »Grünen Kakadu«, 1899, der auf den Vorabend der Französischen Revolution datiert ist. 1901 entsteht das prunkvolle Renaissanceschauspiel »Schleier der Beatrice« und 1904 »Der einsame Weg«. Der Einakter »Lebendige Stunden«, 1902, stellt einen Künstler in den Mittelpunkt. Die Dialogreihe »Reigen«, verfaßt 1896/97, erst als Privatdruck 1900, dann als Buch 1903 erschienen, behandelt das Thema der Liebe, die nur als Rausch wirklich ist und nicht ernst genommen werden darf. Dass ein in Liebe verstrickter Mensch unfähig zur Tat wird, zeigt »Der junge Medardus«, 1910, dessen Titelheld Napoleon erschießen möchte, es aber nicht vermag. In der Komödie »Professor Bernhardi«,1912, wird das Verhältnis von Christentum und Wissenschaft dargestellt. Schnitzler schrieb weitere Einakter und Dramen. Sein Erfolg nahm ebenso wie seine Skepsis ständig zu. Er brachte die Stimmung seiner Zeit treffend zum Ausdruck. Auch der Erzähler Schnitzler ist, wie die Gestalten seiner Romane und Novellen, skeptisch und müde. Es begann mit »Sterben«, 1895, in dem ein junger Mann erfährt, dass er bald sterben werde, sein Mädchen will mit ihm in den Tod. Er verwendet alle Mittel der Psychoanalyse, im Untergrund schwelt tiefe Erotik, die häufig an die Oberfläche kommt. Das gilt auch für das Spätwerk des Dichters, wie der Erzählung vom sinnlosen Dasein des »Doktor Gräsler, Badearzt«, 1917, oder dem Bericht vom dunklen Lebensherbst des Liebeskünstlers in »Casanovas Heimfahrt«, 1918. Eine seiner letzten Geschichten hat den aufschlussreichen Titel »Flucht in die Finsternis«, 1931.Von literarischer Bedeutung sind der »Leutnant Gustl«, 1901, und das »Fräulein Else«, 1924 infolge Anwendung des inneren Monologs. Von kulturhistorischem Interesse ist der etwas zu breit geratene Roman des Wiener Judentums »Der Weg ins Freie«, 1908.


c. Richard Beer–Hofmann (1866 – 1945)

Anders als bei Karl Kraus und Arthur Schnitzler führt bei Beer–Hofmann der dichterische Weg direkt zum Zionismus, er wird zum Schlüssel seines Gesamtwerkes. Sein Lebensweg begann in Rodaun bei Wien. 1886 begann er mit dem Studium der Rechtswissenschaft, das er nach vier Jahren mit dem Doktorat beschloss. Materiell wohlbestellt, konnte er als freier Schriftsteller sein dasein erfüllen, er war nicht genötigt seine Feder in den Dienst der Geldbörse zu stellen. Er hat verhältnismäßig wenig geschrieben, über einen Vers oft Monate nachgedacht. 1838 musste er auswandern, der Tod ereilte ihn in New York. Dass er zum Dichter wurde, ist seinen Begegnungen mit Hofmannsthal, Schnitzler und Bahr zuzuschreiben. Dennoch blieben die 1893 veröffentlichten »Novellen« unbeachtet. Als 1897 sein Gedicht »Schlaflied für Mirjam«, einer schwermütigen Klage über das Rätsel des Daseins, in einer Zeitschrift erschien, horchte man auf:

Schläfst du, Mirjam? – Mirjam, mein Kind, Ufer nur sind wir, und tief in uns rinnt, Blut von Gewesenen – zu Kommenden rollt’s, Blut unsrer Väter, voll Unruh und Stolz. In uns sind Alle. Wer fühlt sich allein? Du bist ihr Leben – ihr Leben ist dein – Mirjam, mein Leben, mein Kind – schlaf ein!

Die gesamte Lyrik Beer–Hofmann’s, ein schmaler Band, erschien 1941 unter dem Titel »Verse« in New York. Seine Novelle »Der Tod Georgs«, 1900 veröffentlicht, stellt den ersten Versuch eines inneren Monologs dar. Das Drama »Der Graf von Charolais«, 1904 ist die Umdichtung eines Werkes der beiden elisabethanischen Theaterschriftsteller Massinger und Field, brüchig im Aufbau, doch hinreißend durch eine reiche Bilder- und Gedankenfolge, einschmeichelnde Verse und eine Sprache voll Melodie und Energie. Zwei Jahre später hält Beer–Hofmann eine »Gedenkrede auf W.A.Mozart«. 1918 veröffentlichte er dann »Jaacobs Traum«, das Vorspiel zum geplanten Zyklus »Die Historie vom König David« von dem nur »Der junge David«, 1933, abgeschlossen und veröffentlicht wurde.


d. Felix Salten, eigentlich Siegmund Salzmann (1869 – 1947)

Als Dramatiker sollte Salten nicht berühmt werden, sondern als Erfinder des »Bambi« und als mutmaßlicher Autor der »Lebensgeschichte der Wiener Dirne Josefine Mutzenbacher«. Er kam als Kind aus Budapest nach Wien und begann mit 18 Jahren zu schreiben. 1901 gründete er das erste Wiener Kabarett »Jung–Wiener Theater zum lieben Augustin«. 1906 bis 1938 war er Leiter des Kulturteiles der »Neuen Freien Presse«. 1922 (Gründungsjahr) bis 1933 war er außerdem Präsident des Österreichischen P.E.N.–Clubs. Er emigrierte 1938 nach Amerika, kehrte aber nach 1939 nach Europa zurück und starb in Zürich. Er war zunächst ein fruchtbarer Dramatiker – den größten Erfolg errang er mit dem antimilitaristischen Volksstück »Der Gemeine« (1899) – zugleich Verfasser lockerer Novellen und Romane, die heute vergessen sind. Abgesehen von seinen Gesellschaftsromanen war Salten ein ausgezeichneter Feuilletonist und Essayist. Für die Kulturgeschichte der Stadt Wien von einiger Bedeutung sind: »Wiener Adel« (1905), »Wurstelprater« (1911) sowie »Das Burgtheater« (1922). Seine Romane: »Herr Wenzel auf Rehberg und sein Knecht« (19079, »Olga Frohgemut« (1910), »Die klingende Schelle« (19149), »Der Hund von Florenz« (1921) sowie »Martin Overbeck« (1927) erlangten nur mäßige Berühmtheit. Das Selbe gilt für seine Essays: »Klimt« (1903), »Das österreichische Antlitz« (1909) und den Kritikband »Schauen und Spielen« (1921). Aber erst mit seinen Tiergeschichten »Bambi« (1923), »Fünfzehn Hasen« (1929), »Freunde aus aller Welt« (1931), »Florian, das Pferd des Kaisers« (1933), »Bambis Kinder« (1940), »Die Jugend des Eichhörnchens Petri« (1942), »Djibi, das Kätzchen« (1946), hatte er – unterstützt durch den Film – trotz mancher Kritik große Erfolge. 1928 bis 1932 erschienen seine »Gesammelten Werke«.


e. Hugo von Hofmannsthal (1874 – 1929)

Sein Name gehört zu den bedeutendsten der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Da er als Schüler nichts publizieren durfte verwendete er zunächst das Pseudonym »Loris«. Er wuchs, als einziges Kind seiner Eltern, in materiell gesicherten Verhältnissen auf, sein Vater war Bankdirektor. Nach dem Gymnasium besuchte er die juristische und philosophische Fakultät. Er promovierte zum Doktor, heiratete und ließ sich in Rodaun bei Wien nieder. Er diente im Ersten Weltkrieg als Reserveoffizier. Als sein ältester Sohn Selbstmord begangen hatte, traf den Vater ein Schlaganfall, der sein reiches Leben beendete, bevor sein Sohn bestattet war. Hofmannsthal sammelte seine Lyrik in den »Ausgewählten Gedichten«, 1903, in den »Gesammelten Gedichten«, 1907, in den »Gedichten und kleinen Dramen«, 1911, zu denen später die postume „»Nachlese der Gedichte«, 1934, kam. Sein Schaffen als Lyriker in jungen gehört ausnahmslos in den bleibenden Vorrat deutscher Poesie. Zu seinem umfangreichen dramatischen Schaffen gehören Werke wie »Gestern« (1892), »Der Tor und der Tod« (1900), »Der Tod des Tizian« (1901), »Alkestis« (1894), die dramatischen Gedichte »Der weiße Fächer« (1897), »Die Frau im Fenster« (1899), »Die Hochzeit der Sobeide« (1899), »Der Abenteurer und die Sängerin« (1899) sowie die so genannten »kleinen Dramen« (1906), nämlich »Das Bergwerk von Falun«, »Der Kaiser und die Hexe« und »Das kleine Welttheater«. Wie lebendig gewordene Stimmungen ziehen Hofmannsthals Gestalten über die Bühne. Hermann Bahr, als er »Gestern« gelesen hatte, vermutete als Verfasser ein Mann zwischen 40 und 50 und war erstaunt, als er einen Jüngling mit 17 kennen lernte. In seinen Dramen der Frühzeit war für Hofmannsthal die Form des Dramas nur ein Gefäß, das er randvoll mit lyrischer Stimmung erfüllte. Seine lyrische Dramatik blieb auf den Raum des Einakters beschränkt, ob dieser nun in der Renaissance, im romantischen Byzanz oder im märchenhaften Orient liegt. Später führte eine Krise zum grundsätzlichen Verzicht auf die Lyrik und Hofmannsthal beschäftigte sich mit den Werken älterer Dichter und arbeitete sie um, so Thomas Otway’s Trauerspiel »Das gerettete Venedig« (1905), »Elektra« (1904) sowie »König Ödipus« (1910). Dazwischen liegt „»Ödipus und die Sphinx« (1906), eine selbstständige Arbeit. In dieser Periode begann Hofmannsthals Zusammenarbeit mit Richard Strauss. Die Hauptfrüchte dieser gemeinsamen Tätigkeit waren die schon erwähnte »Elektra«, »Der Rosenkavalier« (1910), »Ariadne auf Naxos« (1912), »Die Frau ohne Schatten« (1919) sowie »Die Ägyptische Helena« (1928). Mit dem »Rosenkavalier« begann Hofmannsthals Entwicklung zum Lustspieldichter. Er schuf die prachtvollen, von Heiterkeit und Menschenkenntnis erfüllten Szenen der unvollendeten »Silvia im Stern« (1909), sowie »Die Lästigen« (1917). Nach dem Ausbruch des Krieges gab Hofmannstahl gemeinsam mit anderen die 26 Bändchen der »Österreichischen Bibliothek« heraus. Die dem Zusammenbruch folgende Inflation nötigte ihn, für seine literarische Tätigkeit auch an deren finanzielle Einträglichkeit zu denken. »Jedermann«, das Spiel vom Sterben des reichen Mannes, seit 1922 glänzender Mittelpunkt der Salzburger Festspiele, ist freilich kein Originalwerk, sondern die geschickte Bearbeitung eines mittelalterlichen Mysterienspiels. Ebenso wie der »Jedermann« bekundet das »Salzburger große Welttheater« (1922) die Absicht, dem Publikum – und nicht nur literarischen Kennern – ein verständliches Kunstwerk anzubieten. Nach dem Ende des Krieges wandte er sich wieder der Komödie zu und setzte der mit der Monarchie untergegangenen adeligen Gesellschaft mit »Der Schwierige« (1921) und »Der Unbestechliche« (1923) ein ironisches Denkmal. Zu Hofmannsthals Schaffen zählen auch Prosawerke, wie der 1905 erschienene Band »Das Märchen aus 672. Nacht«. »Lucidor, Figuren zu einer ungeschriebenen Komödie« war die letzte abgeschlossene Arbeit des Dichters. Hofmannsthals dramatisches Alterswerk ist »Der Turm« (1925), einen Neudichtung nach Calderóns »Leben ein Traum«. Der französische Germanist Claude David sagte einmal: „ . . . Hofmannsthal versuchte eine alte Tradition zu bewahren; er verteidigte eine Kultur, er bleibt inmitten einer maßlosen und ungestümen Epoche einer maßvollen Kunst treu“.


Stefan Zweig über Hofmannsthal (Aus »Die Welt von gestern«): „In unserer eigenen Stadt entstand über Nacht die Gruppe des »jungen Wien« mit Arthur Schnitzler, Hermann Bahr, Richard Beer-Hofmann, Peter Altenberg, in denen die spezifisch österreichische Kultur durch eine Verfeinerung aller Kunstmittel zum erstenmal europäischen Ausdruck fand. Aber vor allem war es eine Gestalt, die uns faszinierte, verführte, berauschte und begeisterte, das wunderbare und einmalige Phänomen Hugo von Hofmannsthal, in dem unsere Jugend nicht nur ihre höchsten Ambitionen, sondern auch die absolute dichterische Vollendung in der Gestalt eines beinahe Gleichaltrigen sich ereignen sah“. Und weiter: „Die Erscheinung des jungen Hofmannsthal ist und bleibt denkwürdig als eines der großen Wunder früher Vollendung . . . In einem gewissen Sinn hat Hofmannsthal nie mehr das einmalige Wunder überboten, das er von seinem sechzehnten bis etwa zum vierundzwanzigsten Lebensjahr gewesen.“


f. Anton Kuh (1890 – 1941)

Kuh entstammt einer alteingesessenen Prager jüdischen Familie, sei Großvater gründete den »Tagesboten aus Böhmen«. Von dessen Gesinnung – er galt als deutschtreuer, assimilierter Jude – distanzierte sich Kuh scharf. Auch sein Vater war Zeitungsmann. An Prag interessierte ihn vor allem die Literatur. Während er in Wien im Gefolge von Peter Altenberg vor allem im »Café Central« und später im »Herrenhof« verkehrte, sah man ihn in Prag im »Café Arco« und im »Continental«. Franz Werfel bezeichnete ihn als »vielleicht letzten Kaffeehausliteraten, Alfred Polgar nannte ihn »Hirnzigeuner von lukianischem Geblüt« und Hermann Kesten »unruhiger als Quecksilber, mit einem dutzend Manien und von Bosheit funkelnd«. Berühmt machte ihn in Wien, Prag, Berlin und schließlich in New York seine Gabe als Stegreifredner, Tucholsky bezeichnete Kuh als »Sprachsteller«. Kuh’s Werke sind in über 1000 Zeitungsbeiträgen überliefert. Von 1912 bis zu seinem Tod publizierte Kuh wortakrobatisch und mit kritisch-satirischem Witz, Prozessberichte, Kommentare und Glossen zu Tagesgeschehen, Theaterkritiken, Buchrezensionen, Sketches, Aphorismen, Essays, am kontinuierlichsten für das Prager Tagblatt (1912-1937) aber auch in anderen unterschiedlichsten Blättern. In den Jahren 1919/1920 hielt er in Prag und Berlin eine Reihe von Aufsehen erregenden Stegreifreden, die 1921 unter dem Titel »Juden und Deutsche« als sein erstes Buch erschienen. Sein Buch war explizit an die Juden gerichtet, mit dem Aufruf, sich zu »befreien«. „Die Juden sind der Freiheit viel näher als der Deutsche. Sie sind Sklaven, sie werden einmal ihre Ketten brechen, und dann sind sie frei. Der Deutsche aber ist Bedienter, er könnte frei sein, aber er will es nicht“. Kuh vermutete im Judentum und dessen Familienbegriff den Ursprung der patriarchalischen Kultur: „Der Vater, Ur–Besitzer, schwingt die Erhaltungsfuchtel. Die Mutter, in ihrem Glück verkrüppelt, hegt die Kinder als Krüppel; die Töchter sind lebendig aufgebahrtes, wie Topfblumen betreutes Verkaufsgut, während die rebellischen Söhne Schaum um den Mund, unterlaufenen Auges, an der Erinnerung zehren, meist jedoch, ohne vom Joch des Tausendjährigen Autoritätsgeistes loszukommen“. Kuh verstand die jüdische Moderne im Wesentlichen als Vater–Sohn–Konflikt, den Zionismus reduzierte Kuh polemisch als »Ruf des Familienbruders zurück in die warme Stube«. Er prangerte die Kriegsbegeisterung der deutschtreuen Juden an, die blind gegenüber der Tatsache waren, dass schon dieser Krieg von den Deutschen auch und gerade gegen die Juden gerichtet war. Kuh’s Polemik gegen Kraus kulminierte in seiner skandalösen Stegreifrede vom 25. Oktober 1925, die im selben Jahr unter dem Titel »Der Affe Zarathustra« (Karl Kraus) publiziert wurde und ihm einen Prozess einbrachte. 1925 verlies Kuh Wien in Richtung Berlin, wo die Warnungen vor Nationalismus, Faschismus und Antisemitismus in seine Feuilletons und Stegreifreden eindringlicher wurden. Einen Eindruck vom Schaffen dieser Zeit vermitteln die Sammelbände »Der unsterbliche Österreicher« (1931) und »Physiognomik« (1931). Durch seine unverblümte Kritik an Hitler, sah sich Kuh als Jude und Schriftsteller zunehmend bedroht und er verlegte 1933 seinen Standort wieder nach Wien. 1938 floh er im letzten Moment nach Prag und schließlich nach New York. Am 26. November 1938 wurde seine Radiorede »Geschichte und Gedächtnis« ausgestrahlt: „ . . . Tun Sie sich selber weh, behalten Sie Ihr Gedächtnis frisch! Das Gedächtnis ist das Archiv, aus dem eines Tages die weltgeschichtlichen Rechnungen präsentiert werden“.


B. Das Central:

In ihren Erinnerungen »Widerhall des Herzens« beschreibt Helga Malmberg, Peter Altenbergs langjährige Gefährtin, das Café Central der Jahrhundertwende: „Schon die Baulichkeit war originell . . . Der große Saal war eigentlich ein Gewölbe ohne Decke. Der Rauch verteilte sich daher bis unter das hohe Glasdach . . . Hier waren die Stammtische der einzelnen Künstler, die absolut tabu waren, die Insel der Schachspieler, die Oase der Domino Liebhaber, die Ecke, wo man Billard spielte . . . Hier trafen sich Künstler jeder Art . . . Diesen Menschen haftete ein leichter Hauch von Snobismus an. Allen gemeinsam aber war die Lebendigkeit des Geistes, das Interesse am Leben in seinen hundert verschiedenen Facetten und die Begeisterung für das Schöne . . .“ Hier also fanden die Dichter aus dem »Griensteidl« Zuflucht, nachdem dieses seine Pforten geschlossen hatte. Einer aber, der im »Grünsteidl« ohnehin nur noch gelegentlich anzutreffen gewesen war, hatte im »Central« in der Herrengasse 14 bereits sein Wohnzimmer: Peter Altenberg. Zum Kreis Peter Altenbergs im »Central« gehörte Egon Friedell, der sich selbst Lebenskünstler nannte, und Adolf Loos. Der Stammtisch von Karl Kraus, der bereits zwei Jahre vor Schließung des Griensteidl ins Central umgezogen war, war noch bei weitem exklusiver. Aber lange hielt es den Herausgeber der Fackel dort nicht mehr, nachdem seine Feinde aus dem »Griensteidl« nun nach und nach ins »Central« übersiedelten. Kraus verlegte seinen Arbeitsplatz abermals und zwar zunächst ins Café Parsifal und später in das Kaffeehaus des Hotels Imperial. Das »Central« war ohne Zweifel eines der gediegensten und berühmtesten Kaffeehäuser der Monarchie. Doch auch die Luft des Café Central wurde irgendwann einmal dünner, und es verlor für seine illustren Stammgäste den Stallgeruch. Hatte es bis dahin weit und breit ein einziges Literaturcafé gegeben, nämlich das »Central«, so war nun Konkurrenz angesagt durch das gleich um die Ecke neueröffnete Café Herrenhof. Das »Central« ging allmählich seinem geistigen Tod entgegen. Zuerst wurde ihm mit Peter Altenberg einer der wenigen echten Kaffeehausliteraten genommen – also einer, der, wenn er überhaupt dichtete, im Kaffeehaus dichtete. Und dann erlangte auch noch der Dichter Ottfried Krzyzanowsky Berühmtheit als Opfer der Kaffeehaus-Sezession in die Lager »Central« und »Herrenhof«, indem er schlichtweg verhungerte. Das auf diese Weise schicksalhaft eines bedeutenden Teils seiner illustren Stammgäste beraubte »Central« schleppte sich noch gut zwei Jahrzehnte dahin, seines geistigen Kernes entledigt bis es im Krieg durch Bomben schwer beschädigt und dann geschlossen wurde.

Über Leo Trotzki: Über Leo Trotzki soll an dieser Stelle berichtet werden, weil er lange Zeit den Stammgast im »Central« war und später Geschichte schrieb. Leo Trotzki war nämlich in der Zeit von Oktober 1907 an bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges, als er in Wien Zuflucht gesucht hatte, regelmäßig im Central anzutreffen, weil er dort Schach spielte. Um ebendiesen Herrn Trotzki, der mit richtigem Namen Lew Bronstein hieß, rankte sich einer der schönsten Anekdoten aus dem Café Central. Als man nämlich Jahre später – um 1917, um genau zu sein – dem damaligen österreichischen Ministerpräsidenten Heinrich Graf Clam-Martinic den Ausbruch der Russischen Revolution meldete, soll dieser ganz ungläubig ausgerufen haben: „Was, eine Revolution in Russland? Ja, wer soll denn die gemacht haben? Vielleicht der Herr Bronstein aus dem Café Central?“

Nun lassen wir Alfred Polgar über das »Central« berichten, er muss es ja wissen. Immerhin zählte er lange Jahre zu seinen Stammgästen und gehörte zu den Mitbegründern seines Rufes als Literatencafé.

Alfred Polgar über das Central (aus »Die Theorie des Café Central«): „ . . . Das Central ist nämlich kein Caféhaus wie andere Caféhäuser, sondern eine Weltanschauung, und zwar eine, deren innerster Inhalt es ist, die Welt nicht anzuschauen . . . Ob der Ort sich dem Menschen, der Mensch dem Ort angeglichen hat ist strittig. Ich vermute Wechselwirkung . . . Wenn man alle Anekdoten, die von diesem Kaffeehaus erzählt werden, zerstampft, in die Retorte gibt und vergast, wird sich ein trübes, irisierendes, leicht nach Ammoniak riechendes Gas entwickeln: die so genannte Luft des Café Central. Sie bestimmt das geistige Klima, in dem das Lebensunfähige, und nur dieses, bei voller Wahrung seiner Lebensunfähigkeit gedeiht.“ Für Polgar lag das Central „unterm wienerischen Breitengrad am Meridian der Einsamkeit. Seine Bewohner sind größtenteils Leute, deren Menschenfeindlichkeit so heftig ist wie ihr Verlangen nach Menschen, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen . . . Verständlich also, dass Frauen, die ja niemals allein sein können, sondern hierzu mindestens noch einen brauchen, eine Schwäche für das Café Central haben . . . Das Central ist der traute Herd derer, denen der traute Herd ein Gräuel ist, die Zuflucht der Eheleute und Liebespaare vor den Schrecken des ungestörten Beisammenseins . . . Das Café Central stellt also eine Art Organisation der Desorganisation dar . . . Die Gäste des Central kennen, lieben und gering schätzen einander . . .Zwecklosigkeit heiligt den Aufenthalt . . . Es gibt Schaffende, denen nur im Central nichts einfällt, überall anderswo weit weniger . . .“


Nun soll Anton Kuh, von dem noch zu berichten sein wird, zu Wort kommen, auch er zählte zu den illustren Stammgästen des »Central«.

Anton Kuh in seinem Feuilleton »Central und Herrenhof« über das Ende des Central und die Eröffnung des Herrenhof: „Im Jahre 1918, gerade zur Zeit als in der schmalen, adeligen Herrengasse, an den Toren des Ständehauses, das Jahrtausendreich der Habsburger von ein paar „hoch!“- und „nieder!“-rufenden, unter dem Namen „Deutschösterreich“ sofort neuen Geschichtskraft erweisenden Gruppen abgelöst wurde, trat eine Sezession im Wiener Geistesleben ein, die zufällig dieselbe Gasse zum Schauplatz hatte. Bis dahin war weit und breit ein einziges Literaturcafé vorhanden: das Central . . . In den anderen Trakten saß der Sozialismus, der Panslawismus, der k.k. Hochverrat, slowenische Studenten, polnische und ruthenische Parlamentarier, gelehrte Arbeiterführer. Der Kaffee roch wunderbar, und auf dem großen Rundtisch schichteten sich die Zeitungen in allen Landessprachen“.


a. Peter Altenberg, eigentlich Richard Engländer (1859 – 1919)

Peter Altenberg ist wohl jener Dichter, zu dem der Begriff »Kaffeehausliterat« am meisten zutrifft, deshalb soll er hier an erster Stelle erwähnt werden. Wenn er geschrieben hat, dann im Kaffeehaus. Eigentlich spielte sich sein gesamtes Leben im Kaffeehaus ab, er verwendete die Adresse des »Café Central« lange Zeit als Postanschrift. Außerdem haftet im jenes Maß an Skurrilität an, das man vom typischen Kaffeehausdichter im Allgemeinen erwartet. Peter Altenberg galt als einer der wichtigsten Vertreter des Wiener Feuilletonismus. Er führte ein Vagantenleben, verkehrte mit Sängerinnen und Tänzerinnen, auch mit Freudenmädchen. Er widmete sein Leben, wie er sagte, Gottes Kunstwerk, dem „Frauenleib“. Er erkannte in einem neuen Griechentum sein Ideal. Er verfasste kleine pointierte Skizzen, Sprüche, Verse und Geschichten. Die Sammlungen tragen Namen wie: »Wie ich es sehe«, 1896; »Was mir der Tag zuträgt«, 1900. Zehn Bände »Skizzen« erschienen 1925, eine »Nachlese« 1930, eine »wertvolle Auswahl« 1961. Seine winzigen, sorgsamst geformten, manchmal fast zu lyrischen Anekdoten gewordenen Prosaskizzen waren typischer Impressionismus. Man möchte fast behaupten, sie waren die Quintessenz der Décadence. Peter Altenberg war längst als amüsantes Original bekannt und als Kaffeehausschnorrer berüchtigt, bevor die Jungwiener ihn als Dichter entdeckten. Im Gegensatz zu den Elegantes der Moderne aus dem »Griensteidl« alias »Café Größenwahn« hatte Altenberg von der Erscheinung her schon immer das verkörpert, was man sich unter einem Dichter landläufig vorstellte. Unverwechselbar war er, schludrig gekleidet und mit hängendem Schnurrbart.


Felix Salten über Peter Altenberg (aus »Aus den Anfängen«, 1933): „In dem Nachtkaffeehaus, das wir oft besuchten, weil ja eine gewisse Verruchtheit damals mit zu dem Gehaben junger Dichter gehörte und weil das Nachtcafé und das Dirnentum, wie wir glaubten, zu dem Inventar des fin de Siécle gezählt wurde; in diesem Nachtkaffeehaus, das längst schon verschwunden ist, saß regelmäßig ein noch junger Mann, nachlässig gekleidet, mit hängendem dichten Schnurrbart, dessen Gesellschaft außerordentlich amüsant war. Er hieß Richard Engländer und beschäftigte sich mit dem Verkauf importierter ägyptischer Zigaretten. Richard Beer–Hofmann lud uns eines Tages zu sich und hielt eine kleine Ansprache . . . Dann las er uns Seeufer vor. Als er den hellen Jubel sah und hörte. Mit dem wir diese zarte Dichtung empfingen, las er noch eine ganze Anzahl anderer kleiner Prosastücke, und wir einigten uns sofort, dass es Meisterwerke seien, von einer neuartigen Schönheit und von ganz besonderen Duft. Wie groß war unser Erstaunen, als uns nun Beer–Hofmann mitteilte, der Schöpfer dieser Gedichte in Prosa sei Richard Engländer, der Zigarrenagent aus dem Nachtcafé . . . Wir hatten einen neuen Dichter entdeckt: Peter Altenberg.“

Besonders reizend finde ich folgende kleine Geschichte, die Altenberg selbstkritisch über sich selbst verfasste und in der er zu erkennen gab, dass er sich selbst sehr gut kannte.

Peter Altenberg über sich selbst (aus »Semmering«, 1913): „ . . . Hätte ich damals, im Café Central, gerade eine Rechnung geschrieben, über die seit Monaten nicht bezahlten Kaffees, so hätte Arthur Schnitzler sich nicht für mich erwärmt, Beer-Hofmann hätte keine literarischen Soiree gegeben, Hermann Bahr hätte mir nicht geschrieben . . . Alle zusammen jedoch haben mich gemacht. Und was bin ich geworden?! Ein Schnorrer!“

Auch Oskar Kokoschka zählte zu den Stammgästen des »Central«. Nur wenige wissen, dass er sich neben dem Malen auch im Schreiben erfolgreich versuchte. Über ihn wird später berichtet werden.

Oskar Kokoschka über Peter Altenberg (aus seinen »Memoiren«): „Altenberg hat wie ein Seehund ausgesehen, vielmehr wie ein eben zur Welt gebrachtes, ins Weltmeer gesetztes Junges, so verwundert schaute er drein. In der spitzbübischen Erwartung eines bei Altenberg so leicht hervorzurufenden kindlichen Zornausbruchs neckte Kraus ihn manchmal, um uns darüber lachen zu machen. Besonders, wenn sie zum Scherze den reichen Herrn von Lieben zögern ließen, Altenberg die wöchentliche Rente auszuzahlen. Plötzlich war er voll sprudelnder Leichtigkeit, ebenso schnell konnte er grantig werden . . . Altenberg war ein Bohèmien und lebte von der Hand in den Mund. Er wohnte immer in demselben kleinen Hotel in der Innenstadt, das eigentlich ein bekanntes Absteigequartier war, und die Prostituierten dort verhätschelten ihn als ihren »Dichter Frauenlob«. Er hatte ihnen auch zu danken, dass immer eine Flasche Slibowitz unter seinem Bett stand. Die Wände seines Zimmers waren tapeziert mit ihm gewidmeten Ansichtskarten der Mädchen oder ihren Bildern . . .“


b. Egon Friedell, eigentlich Egon Friedmann (1878 – 1938)

Er war von den Vertretern des Wiener Feuilletonismus, Kraus, Polgar, Altenberg, der jüngste. Er war Doktor der Philosophie, Kabarett- und Theaterleiter, Schauspieler und freier Schriftsteller. Seine Studien absolvierte er in Frankfurt, Heidelberg und Wien. Wenige Tage nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich setzte er seinem Leben ein Ende um der Verhaftung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Friedell war sehr vielseitig als freier Schriftsteller, Feuilletonist, Kritiker und Schauspieler tätig. Er kam sehr früh mit der literarischen Welt der Jahrhundertwende in Berührung. 1908 bis 1910 war er artistischer Leiter des Theaterkabaretts »Fledermaus«. Er liebte es seine Gedanken in Aphorismen zu formulieren, gesammelt im »Steinbruch«, 1922. Aus seiner intensiven Beschäftigung mit dem Christusproblem entstand die »Judastragödie«, die 1923 im Burgtheater uraufgeführt wurde. Neben der feuilletonistischen Tätigkeit übersetzte er Werke aus dem Englischen und Französischen, schrieb zahlreiche Einakter für das Kabarett, u.a. »Goethe« (1908), »Ecce Poeta« (1912) über Peter Altenberg und gab 1921 das »Altenbergbuch« heraus. Er schuf Essays und einen Roman »Die Reise mit der Zeitmaschine«, 1946 erschienen, desgleichen »Briefe«, 1959. Seine dreibändige »Kulturgeschichte der Neuzeit«, 1927-1931 wurde abgelehnt. Sie enthält viele Fehler, doch er hat sie nicht für die Kritiker geschrieben, sondern »zum heiteren Genuss«, wie er sagt. Das gleiche gilt für seine »Kulturgeschichte des Altertums«, 1936. Trotz aller Mängel beinhalten sie brillant formulierte Deutungen zur europäischen Kulturgeschichte. Besonders in der Zeit zwischen den Kriegen beeinflusste Friedell durch seine Tätigkeit das literarische Leben in Wien nachhaltig.


c. Karl Kraus (1874 – 1936)

Er war der Großmeister des Wiener Feuilletonismus, obwohl kein geborener Wiener (Gitschin in Böhmen war sein Geburtsort). Er kam 1877 nach Wien, trat hier vom Judentum zur katholischen Kirche über, die er 1918 wieder verließ. Er studierte Rechtswissenschaften und Philosophie, versuchte sich als Schauspieler, Journalist und Literaturkritiker. Er gründete »Die Fackel«, 1899, die in unregelmäßigen Abständen erschien. Er hielt Vorträge in Wien und Berlin und förderte Talente wie Kokoschka, Trakl und Werfel. Er beurteilte Literaturwerke hauptsächlich im Hinblick auf die Sprache und deren Reinheit. Er hasste »Zeitungsdeutsch«, alles Modische, Phrase und Lüge. Daher wurde er im gesamten deutschsprachigen Raum gefürchtet. Er verfasste Gedichte: »Worte in Versen«, in neun Bänden zwischen 1916 und 1930 erschienen. 1927 folgen die »Epigramme«. In seiner Lyrik findet sich selten reine Lyrik, weit öfter Gedankenlyrik, darunter geistreiche Wortspiele und Satirisches (besonders in den »Zeitstrophen«, 1931). Für das Haus Habsburg hatte er nichts übrig. Nach der Auflösung der Donaumonarchie schrieb er ihr in dem überdimensionierten Drama »Die letzten Tage der Menschheit«, 1919, den Nekrolog. Als Hitler 1933 Kanzler geworden war, ahnte Kraus, was kommen würde. Er schrieb sein letztes Werk »Die dritte Walpurgisnacht«, ließ es aber nicht erscheinen um Hitler nicht zu provozieren. In diesem Werk werden Zitate der nationalsozialistischen Presse ad absurdum geführt. An Nestroy hatte er Freude, er überarbeitete einige seiner Stücke zeitbezogen und schrieb ein Essay »Nestroy und die Nachwelt«, 1912. Im Geiste Nestroys schrieb er das Schauspiel »Die Unüberwindlichen«, 1928. Ferner verfasste er als Abrechnung mit den Auswüchsen der Psychoanalyse, die damals, ausgelöst durch Sigmund Freud eine große Anhängerschaft fand »Das Wolkenkuckucksheim«, 1923, sowie »Das Traumstück«, 1923. Gegen den Expressionismus war die magische Operette »Man wird doch da sehen«, 1921, gerichtet. Seine wichtigsten Werke sind indessen die Reihe seiner Essaybücher, die überarbeitete Aufsätze aus der »Fackel« enthalten: »Sittlichkeit und Kriminalität«, 1907; »Weltgericht«, 1919; »Untergang der Welt durch schwarze Magie«, 1922; »Literatur und Lüge«, 1929. Von großer Bedeutung sind seine Aphorismensammlungen: »Sprüche und Widersprüche«, 1909; »Die chinesische Mauer«, 1910; »Nachts«, 1919. Sein erstes Buch hieß »Die demolierte Literatur«, 1897, das zweite »Eine Krone für Zion«, 1898.


Oskar Kokoschka über Karl Kraus (aus „Mein Leben“, 1971): „Karl Kraus’ Lebensgeschichte ist in der von ihm 1899 gegründeten Zeitschrift, die Fackel, zu lesen, die siebenunddreißig Jahre lang, trotz Krieg und Umsturz, periodisch herauskam. Mit seinem Tode war das unabhängige Denken in Österreich zu Ende. Ebenso wie Loos war er ein äußerst zartfühlender Mensch, wie seine Lyrik zeigt. Mit seiner satirischen Kunst, die Komödie, die Tragödie und die Schande der Welt wiederzugeben, hat seine Lyrik ein Gemeinsames: ein höchst vollendetes Sprachgefühl. Loos und Kraus waren Meistervorleser, und ihre Vortragsabende waren immer überfüllt. Karl Kraus schlief tagsüber, arbeitete die Nächte hindurch, nachdem er im Kaffeehaus seine Mahlzeit, vor allem aber einige Tassen schwarzen Kaffees zu sich genommen hatte. Es war eine große Auszeichnung, an seinen Tisch gelassen zu werden . . . Kraus spritzte Vitriol auf die Presse Deutschlands und Österreichs, weil er das feinste Gefühl für die Verluderung der Sprache besaß. Für Kraus war die Sprache der geistige Raum eines Volkes.“


d. Adolf Loos

Auch über Adolf Loos als Kraus–Freund und wie dieser Konzessionslos, soll kurz berichtet werden. Er war regelmäßiger Gast an den Literaten–Stammtischen, außerdem gelangte er als »Erneuerer« der Architektur der Jahrhundertwende zu internationalem Ruhm. Adolf Loos, bekannt als »Ornamenten-Töter«, erteilte Kunst und Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Absage, indem er jegliche Zweckhaftigkeit des Ornaments negierte: „Der moderne mensch, der mensch mit den modernen nerven, braucht das ornament nicht, im gegenteil, er verabscheut es. Alle gegenstände, die wir modern nennen, haben kein ornament“. Entsprechend wichtig war ihm die Qualität der verwendeten Materialien. Im Café Museum konnte er seine Vorstellungen bis ins Detail verwirklichen, und er schaffte einen neuen Stil, der später den Ton angab.

Karl Kraus über Adolf Loos: „Adolf Loos und ich, er wörtlich, ich sprachlich, haben nichts weiter getan als gezeigt, dass zwischen einer Urne und einem Nachttopf ein Unterschied ist und dass in diesem Unterschied erst die Kultur Spielraum hat. Die anderen aber, die Positiven, teilen sich in solche, die die Urne als Nachttopf, und die den Nachttopf als Urne gebrauchen.“

Kikeriki, 19. Oktober 1911: „Das Looshaus auf dem Michaelerplatz wäre an sich sehr schön. Nur die Burg passt nicht dazu. Also weg damit!“

Oskar Kokoschka über Adolf Loos (aus »Mein Leben«, 1971): „Er ist der bedeutendste Architekt der Moderne gewesen . . . Trotz seines Baumeisterdiploms liebte er von sich zu sagen, er sei Maurer. In Amerika hat er als Gelegenheitsarbeiter mittellos in Nachtquartieren der Wohlfahrtskomitees ein hartes Leben kennen gelernt und die Augen offen gehalten für das, was die neue Welt in der Baukunst zu lehren hatte . . . Er beschäftigte sich als einziger und erster mit der sozialen Erziehungsarbeit und sagte: Das Siedlungsproblem bleibt in der Zeit der Überbevölkerung das dringendste für die Menschheit zu lösen. Loos ist der Wesentliche Baumeister der Neuzeit gewesen, aber man ließ ihn nicht bauen. Ich hatte ihn in seiner Wohnung gemalt, wo am Tor des Hauses, in welchem er fast vierzig Jahre gelebt hat, nicht einmal eine Gedenktafel an ihn erinnert“. „Adolf Loos und Karl Kraus waren enge Freunde; es bestand zwischen ihnen auch eine tiefe geistige Verwandtschaft. Beide machten dem Publikum niemals Konzessionen.“


Emil Szittya über Loos (aus »Das Kuriositäten-Kabinett«, 1923) „Er ist zwar Deutsch–Böhme, aber wie alle Böhmen in Wien, so ist auch er ein typischer Wiener . . . Loos war in Amerika, das hat ihm einen Klaps geschenkt. Er glaubt, nur die amerikanische Kultur habe eine Existenzberechtigung. Loos’ Karriere begann in Wien mit einem wüsten Streit. Er baute ein ganz merkwürdig aussehendes amerikanisches Haus. Loos wurde verhöhnt, verlacht. Die guten Wiener heulten, der Loos verschandelt ja die schöne romantische Kaiserstadt. Karl Kraus verteidigte Loos. Der Architekt wurde nun berühmt. Er war elegant gekleidet, mache jahrelang für Wien die Mode. Alle alten Frauen waren in ihn verliebt. Er war es, der als erster für Oskar Kokoschka eintrat. Loos sitzt jeden Vormittag im Café Imperial, und erzählt dort sehr drollige Geschichten über Oskar Kokoschka.“


e. Alfred Polgar, eigentlich Alfred Polak (1873 – 1955)

Als Sohn eines Komponisten machte er zunächst eine Klavierbauerlehre, er dazu überging Theaterkritiken zu schreiben (ab 1925 in Berlin, von 1933-1938 wieder in Wien) 1938 flüchtete er in die Schweiz, nach Frankreich, über Spanien in die USA). Er lebte in New York, machte mehrere Europareisen und starb in der Schweiz. Er definierte das Emigrantenschicksal wie folgt: „Die Fremde ist nicht Heimat geworden, aber die Heimat Fremde“. Mit Friedell gemeinsam schrieb er zwei Lustspiele: »Goethe im Examen«, 1908 und »Soldatenleben im Frieden«, 1910. Er war Feuilletonist aus der Schule Altenbergs: »An den Rand geschrieben«, 1926 und auch Novellist, Romancier, Erzähler. In seinem Buch »Hinterland«, 1929 schreibt er: „Es ergibt sich, dass der Krieg die Tugend bestraft und das Laster belohnt. Dass er ein Segen ist für die Schlimmen und ein Fluch für die Braven. Dass es unter seinem Regime den Guten schlecht geht und den Schlechten gut geht. Dass er die schönsten Regungen des menschlichen Herzens ins Absurde und die schäbigsten zum Erfolg führt“.


Anton Kuh über Alfred Polgar (aus Central, Herrenhof aus Luftlinien) „Polgar Alfred – heute Klassiker – von so provokant in sich gekehrter Sanftmut, dass dieses Piano seines Wesens die Tassen klirren machte, spielte Tarock; es war aber nicht das Tarockspiel eines Bürgers, es war Buddhas Flucht ins Tarock; sah man ihn so stundenlang sitzen, dann war gewiss der Gedanke kaum unterdrückbar: Herrgott, was könnte aus dem Mann werden, wenn er hier nicht stundenlang tarockspielend säße!“


f. Oskar Kokoschka (1886 – 1980)

Oskar Kokoschka soll hier Erwähnung finden, da er eifriger Teilnehmer an den Literaten-Stammtischen war, und er schrieb selbst, wenngleich seine Schriftstellerischen Leistungen von seinen Malerischen bei weitem in den Schatten gestellt wurden. Angeblich bettelte Kokoschka jeden an, der etwas mit dem Berliner Tageblatt zu tun hatte, dass man etwas über ihn schreibt, es war eine Manie von ihm in dieser Zeitung aufzuscheinen. Wenngleich eifriger Kaffeehausbesucher, bezog er die Inspiration für seine Werke und Kraft für sein Schaffen nicht allein im Kaffeehaus, ja er versuchte sich sogar aus dieser Abhängigkeit zu befreien, wenn er schreibt: „Noch traf ich mich mit meinen Freunden nachts im Kaffeehaus . . . Draußen wartete die Welt auf uns, im Kaffeehaus wartete man nicht auf die Welt . . .“

Der Maler–Dichter entstammt einer Prager Künstlerfamilie, verbrachte seine Kindheit und Jugend in Wien, war 1910/1911 Mitglied des »Sturmkreises« in Berlin, kehrte aber wieder nach Wien zurück. 1915 stand er als Kriegsfreiwilliger an der Front in Russland, lehrte 1918–1924 an der Kunstakademie in Dresden, begab sich wieder nach Wien, 1934 nach Prag, von wo aus er 1938 nach England emigrierte. Seit 1954 lebte er am Genfersee. Seine poetischen Werke sind im Band »Die Schriften« (1956) vereint. Kokoschka verfasste visionäre Kurzdramen sowie Erzählgedichte, »Die träumenden Knaben« (1908) sowie »Der gefesselte Kolumbus« (1916), in denen Menschengesichter zu Kompositionen aufgebaut werden. Das Sichtbare ist für Kokoschka nur eine Maske des Wahren, das bezeugen auch die unter dem Titel »Spur im Treibsand« (1956) erschienenen Gedichte. Seine ersten Schauspiele sind 1907 erschienen und wurden mehrmals überarbeitet. Zu ihnen gehören die surreale Groteske »Sphinx und Strohmann« (1907), »Hiob« (1917) und das Stück »Mörder, Hoffnung der Frauen« (1916), von Paul Hindemith in Musik gesetzt. 1913 entstand »Der brennende Dornbusch«. Sein längstes Stück »Orpheus und Eurydike« (1919) wurde von Ernst Krenek vertont. Wenn es möglich war hatte Kokoschka die Bühnenbilder selbst entworfen und sogar Regie geführt.


Emil Szittya über Oskar Kokoschka:

„Loos der Kunstfeind, schildert Kokoschka als einen intuitiven, sehr naiven Künstler, aber hier irrt sich der Architekt, weil der Dresdner Akademie-Professor gar nicht so naiv und ungeschickt ist, wie ihn seine Freunde zu schildern versuchen“, so Emil Szittya, und weiter: „Loos erzählt, Else Laska–Schüler habe ihn einmal gefragt: Sagen Sie, welche Sprache spricht eigentlich der Kokoschka, ich verstehe kein Wort von dem, was er sagt“

C. Das Café Herrenhof

Das »Herrenhof« übernahm die Nachfolge des »Central«. Es war eigentlich das letzte der Literatencafés im engeren Sinne. Es hat den zweiten Weltkrieg überlebt, ohne jedoch die Beutung wiederzuerlangen, die es davor hatte. Das »Herrenhof« war ein weitläufiges, großräumiges Etablissement, dessen dekoratives Interieur dem Jugendstil nachempfunden war. Wenn man durch die Drehtür eintrat, befand man sich zunächst in einem lang gestreckten Raum, dessen behäbige Fensterlosen den Blick auf die prächtigen Palais der Herrengasse, die Residenzen der dem kaiserlichen Hof nahe stehenden Hocharistokratie freigaben. Die Überzüge der bequemen Fauteuils, die Holztäfelung der Wände, die Tischplatten und Luster waren aus kostbarem Material, wirkten Nobel und gediegen. Das Zentrum bestand aus einem riesigen, von einem Glasdach erhellten Saal, der mit zahlreichen Tischen in der Mitte und mehreren geräumigen Logen für je fünf bis sechs Personen an den Wänden ausgestattet war. Jede Loge verfügte über ein geistiges Oberhaupt, eine namhafte oder sonst wie attraktive Persönlichkeit, um die herum sich Freunde und Anhänger gruppierten. In den Zeiten von Bedrängnis und Desorientierung zwischen den Kriegen, boten sich die Tischrunden im Herrenhof an. Dort herrschte geistige Freizügigkeit und man konnte sogar Kontakte zu angesehenen Schriftstellern und Journalisten finden. Man ging hin in dem Gefühl, in die innersten Bezirke des Geistes zu gelangen. Es herrschte ein Zustand latenter Gesprächsbereitschaft mit formloser Kontaktaufnahme. Die Wege zueinander führten auch über noch leichter anknüpfbare Beziehungen zum anderen Geschlecht, denn die Spielregeln der Emanzipation wurden hier schon damals wie selbstverständlich praktiziert. In seiner letzten Existenzphase stand nur noch der vordere Saal in Betrieb, bevor es 1960 endgültig gesperrt wurde. Bis dahin war es von seinem früheren Oberkellner, Albert Kainz, geführt, der es nach Kriegsende wohl aus Sentimentalen Gründen erworben hatte, um den emigrierten Stammgästen, wenn die Sehnsucht sie dann und wann in die alte Heimat trieb, einen zuverlässigen Treffpunkt mit jenen zu sichern, die jetzt wieder in Wien lebten.

Anton Kuh berichtet über die Neueröffnung des Herrenhof: „ . . . zwei Tage später saß alles, was politisch und erotisch revolutionär war, drüben im neuen Café – die Mumien blieben die alten. Die Scheidung war folgerichtig“. Und weiter berichtet er: „ . . . ein breites, helles, prächtiges, unpersönliches, bourgeoises Familiencafé. Emanzipation von süffisantem Bohèmegeruch. Der Kaffeesieder äugte weniger voll Wohlwollen als voll Misstrauen . . . statt des Espritlüftchen von Wien wehte der Sturm von Prag. Daher war die Luft zunächst antiwienerisch, europäisch . . . Es war Heldenzeitalter. Der geniale Otto Gros, Champion der literarischen Bestohlenheit, Psychoanalytiker auf Barikadenhöhe (Lebensweg: Sohn eines Kriminalwissenschaftlers, Dozent, Anarchist, Schiffsarzt, Ehe, Entmündigung, Giftmordverdacht, Irrenhaus, schriftstellern, Heilanstalt, Tod) sprang alle zwei Minuten auf und nahm irgendeine Frau oder einen Mann auf seine peripathetischen Hüpfgänge durchs Lokal mit . . .“ Über die Frauen, die es dann und wann ins »Herrenhof« verschlug, weiß er zu berichten: „Ich wollte noch sagen, dass die Frauen im Herrenhof viel schöner waren als im Central. Es ging um sie vom Augenblick an, wo sie sich hoffnungs– und übergangsfroh, auf Bestimmung wartend oder von ihr ausruhend, hier festgesetzt hatten, bis zu ihrer letzten Zermürbung, toll und heiß zu . . .“

Die letzten »wirklichen« Kaffeehausliteraten waren Hermann Broch, Robert Musil, Joseph Roth, Franz Werfel und Friedrich Torberg, so wie das letzte »wirkliche« Literaturcafé das »Herrenhof« war. Vereinzelte Versuche das »Literaturcafé« nach dem Krieg, so enthusiastisch sie waren, scheiterten daran, dass sich nie mehr ein Literatur–Stammtisch gebildet hatte. Die Zeit dafür war vorbei.


a. Robert Musil (1880 – 1942)

Musil war in Klagenfurt geboren worden. Sein Vater zog mit seiner Familie bald nach Komotau, Steyr, Brünn, er wurde 1917 geadelt. Musil schlug zunächst die Offizierslaufbahn ein, studierte jedoch dann Maschinenbau in Brünn. Nach seinen Jahren als Assistent an der Technischen Hochschule in Stuttgart (1902–1903) ging er nach Berlin um Philosophie zu studieren. Er wagte den Schritt ins ungewisse des Schriftstellerberufes und entschloss sich, Bibliothekar an der Technischen Hochschule in Wien zu werden. In diese Zeit fiel seine Heirat mit einer wiederverheirateten und dann geschiedenen Witwe. Als der Krieg ausbrach rückte er als Reserveleutnant ein und wurde mehrmals dekoriert. Nach Kriegsende kehrte er als freier Schriftsteller nach Wien zurück und kehrte nach Hitlers Einmarsch 1938 Österreich endgültig den Rücken. Er kam nach Zürich und Genf, wo ein Hirnschlag sein zuletzt einsames und fast mittelloses Leben beendete. Seine Asche wurde in einem Wald bei Genf verstreut. In seinem Roman »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« (1906) werden in sachlicher Kühle die seelischen Nöte und sexuellen Verwirrungen eines Heranwachsenden analysiert. Danach folgten die Novellen »Vereinigung« (1911), »Grigia« (1923), »Die Portugiesin« (1923) und »Drei Frauen« (1924), in denen hinter dem Erotismus eine umfassende Zeitkritik versteckt ist. Zwischen diese novellistische Tätigkeit fällt Musils Bühnenschriftstellerei. Im Jahre 1920 erschien das Schauspiel »Die Schwärmer«, ein Ehebruchdrama. In seiner Posse »Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer« (1923) lässt Musil seiner Spottlust freien Lauf. Da er vom Bücherschreiben nicht leben konnte, verfasste er Beiträge für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen, 1936 zum Band »Nachlas zu Lebzeiten“« gesammelt. Sein Hauptwerk jedoch, war »Der Mann ohne Eigenschaften«. Das Werk blieb ein Torso, denn »ein Mann ohne Eigenschaften« oder einer der sich so vorkommt, ist ein Bruchstück, ist kein Ganzes. Er verharrt in moralischer Doppelwertigkeit, also in der Fähigkeit, an jeder Sache zwei Seiten zu entdecken. Dieses Lebenswerk Musils erschien zunächst stufenweise, zuerst der Band »Reise an den Rand des Möglichen« (1930), dann der zweite »Das Tausendjährige Reich« (1933), der dritte bereits nach des Autors Tod (1943). Nachdem das Werk 1952 als Dünndruckband mit 1653 Seiten herausgegeben wurde, begann es die deutschsprachige – und besonders die französische Welt zu erobern. Spielzeit des Romans ist das Vorkriegsjahr 1913/1914, sein Schauplatz das Land Kakanien (k.k. – kaiserlich–königlich), also die österreichisch–ungarische Monarchie, im Besonderen natürlich Wien. Unter erfundenen Namen treten bedeutende Männer jener Zeit auf und geben Anlass zu weitausgesponnenen Auseinandersetzungen. Sie alle sind dazu da, die geistigen Umwälzungen der Zwischenkriegszeit zu analysieren. Innerhalb der Handlung spielen inzestiöse erotische Beziehungen eine nicht kleine Rolle, sollen aber wie vieles symbolisch verstanden werden. Von diesem Roman gingen wesentliche Impulse auf den experimentellen Roman der fünfziger und sechziger Jahre aus.

Gina Kaus über Robert Musil (aus »Leben im Herrenhof«, 1979): “ . . . achtete ich auf jede Bemerkung Robert Musils, der, immer von seiner hässlichen Frau begleitet, ein sehr treuer Besucher und ein sehr schweigsamer Mann war. Irgendjemand hatte mir erzählt, dass diese hässliche Frau eine mannstolle Tochter aus erster Ehe habe. Natürlich sprach er mit keinem Wort darüber, aber er veröffentlichte um diese Zeit eine Novelle über eine Nymphomanin, nüchtern dargestellt, wie ein klinischer Fall, aber voll untergründigen Mitleids.“


b. Joseph Roth (1894 – 1939)

Bei keinem Autor ist die zwischen Heimweh und Skepsis schwankende Haltung zum verlorenen Habsburgerreich deutlicher ausgeprägt als in Leben und Werk des in Ostgalizien geborenen Joseph Roth. Er war der Sohn eines armen jüdischen Mädchens »von kräftiger, erdnaher, slawischer Struktur«, seinen Vater hat er nie gesehen. Wohlhabende Verwandte der Mutter ermöglichten ihm den Besuch des Gymnasiums in Brody, dann studierte er in Lehmberg und Wien. Das Milieu des galizischen Judentums, dem er entstammte, konnte er nie vergessen, weder als er im ersten Weltkrieg freiwillig ins Feld zog, noch als er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, in Wien, dann in Deutschland als Journalist und freier Schriftsteller lebte. Das Jahr 1933 zwang ihn zur Emigration. Sein Weg führte ihn über Wien, Salzburg, Marseille, Nizza nach Paris. Er verfiel dem Alkohol und verschied im Armenhaus der Stadt Paris. Er ging als Schriftsteller nicht unbedingt einen geraden Weg. Aus einem sarkastischen Journalisten wurde ein psychologisierender Realist und später beinahe ein Wiener Impressionist. Roths literarisches Frühwerk »Die Rebellion« (1924), »Die Flucht ohne Ende« (1927), »Zipper und sein Vater« (1927), »Rechts und Links« (1929) wollen in erster Linie als Ergebnisse der Beobachtung und nicht als traditionelle Dichtung gewertet werden. An der Grenze zwischen Früh– und Meisterwerke schrieb er seinen lange Zeit verschollenen Roman »Die stummen Propheten«. Die eigentlichen Meisterwerke beginnen mit »Hiob« (1930), dem Roman eines einfachen Mannes, des ostjüdischen Lehrers Mendel Singer, der wegen seiner Heimsuchungen mit Gott hadert, aber endlich den Sinn seiner ihm auferlegten Prüfungen begreift. Zu Roths größten Leistungen zählt »Der Radetzkymarsch« (1923). Die Hauptgestalt dieses Romans ist der Bezirkshauptmann Franz von Trotta, despotisch und gutmütig zugleich, im äußeren Kaiser Franz Joseph ähnlich, Nachfahre slowenischer Bauern, Sohn eines Offiziers, der in der Schlacht von Solferino seinem obersten Kriegsherrn das Leben rettet und deshalb in den Adelsstand erhoben wurde, Vater wieder jenes Offiziers, der im Ersten Weltkrieg fällt, nachdem er allerdings schon moralisch zugrunde gegangen ist. Fortsetzung dieses Romans ist »Kapuzinergruft« (1938) mit teilweise gleichen Personen. Beide zusammen bilden ein bleibendes Denkmal Österreich-Ungarns. Der Roman »Die Geschichte der 1002. Nacht« (1938) gibt Bericht vom moralischen Versinken eines adeligen Kavallerieoffiziers im Zusammenhang mit einem Besuch des Schahs von Persien in der Donaumonarchie. Gegenstück dazu ist der russische Offizier »Tarabas, ein Gast auf dieser Erde« (1934), der als büßender Vagabund sein irdisches Leben beschließt. »Die Legende vom heiligen Trinker« (1939) bemüht sich um katholische Sinngebung. Weitere wichtige Werke sind »Leviathan« (1940) und »Die Beichte eines Mörders« (1936). Seine journalistischen Arbeiten sammelte Roth in »Panoptikum« (1930) und »Der Antichrist« (1934). In der soziologischen Studie »Juden auf Wanderschaft« (1927) wird der Weg der Juden aus dem Osten nach Wien, Berlin und New York beschrieben. Die Zusammengehörigkeit von Judentum und Christentum war ihm und Franz Werfel selbstverständlich: „Wer gegen die Tradition der fünftausend Jahre der Zehn Gebote und der zweitausend Jahre das Liebesgebotes rebelliert, ist ein Helfer des Antichrists.“


c. Hermann Broch (1886 – 1951)

Er kam in Wien als Sohn eines Textilfabrikanten zur Welt, war nach einschlägigen Studien von 1916 bis 1927 der Leiter der Firma seines Vaters, zugleich Vorstandsmitglied des österreichischen Industriellenverbandes. 1927 gab er seine geschäftlichen Verpflichtungen auf und studierte Mathematik, Philosophie und Psychologie. 1935 zog er sich nach Tirol und anschließend nach Alt–Aussee zurück, um sich ungestört als Schriftsteller betätigen zu können. Nach dem Anschluss Österreichs an das »Dritte Reich« wurde er als Jude verhaftet, jedoch auf Grund der Intervention ausländischer Freunde zur Emigration entlassen, er lebte zunächst in New York, schließlich erhielt er eine Professur an der Yale–Universität in New Haven. Ein Herzschlag setzte seinem Leben und seiner Arbeit ein Ende. Man tut Broch gewiss kein Unrecht, wenn man seine Lyrik unbeachtet lässt, zumal ein Teil derselben ohnehin in seine Romane eingestreut ist. Das erste Ergebnis ist die Romantrilogie »Die Schlafwandler« (1931/1932); ihre drei Teile haben die Überschriften »1988. Pasenow oder die Romantik«; »1903. Esch oder die Anarchie«; »1918. Huguenau oder die Sachlichkeit«. Der erste Roman spielt unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, der zweite spiegelt die animalische Lebensgier nach Kriegsende und der dritte verlängert die Schatten, die der Nationalsozialismus wirft, bis ins Jahr 1918 zurück. Die Untertitel der drei Namen deuten an, dass die drei Hauptpersonen beispielhafte Figuren sind. Pasenow steht für den in Militärkreisen übertriebenen Kult für »Ehre«, Esch für verantwortungsloses Triebleben, Huguenau für schamloses Machstreben. Unmittelbar auf die »Schlafwandler« folgen »Die unbekannte Größe« (1933) und das aus Brochs Erfahrungen bei Arbeitskonflikten hervorgegangene Drama »Die Entsühnung« (1934). Zur gleichen Zeit erschienen zwei seiner wichtigsten Essays »Das Böse im Wertsystem der Kunst« (1933) und »James Joyce und die Gegenwart« (1936). Die bedeutendste kritische Arbeit aus Brochs Feder ist »Hofmannsthal und seine Zeit« (1951). Schon bald nach der Machtübernahme Hitlers in Deutschland machte Broch den Versuch, in einem neuen Roman – »Der Versucher« – das Ausbrechen des Massenwahns um eine Führergestalt in einem Tiroler Dorf zu schildern. »Der Tod des Vergil« (1945) – zur Hauptsache ein innerer Monolog, den der sterbende Vergil in den letzten 18 Stunden seinen Lebens mit sich hält – machte ihn weltberühmte. Brochs letzter Roman, eigentlich nur eine lose Verknüpfung von elf Erzählungen nennt sich und seine Gestalten »Die Schuldlosen« (1950). Es handelt sich in der Hauptsache um jene Leute, die ahnungslos und daher irgendwie schuldlos den Aufstieg des Nationalsozialismus ermöglicht haben.

Brochs Leben war in vielerlei Hinsicht wurzellos. Als Sohn einer jüdischen Familie geboren, tritt er 1909 nach einer schon länger bestehenden Hinneigung zum Katholizismus zum katholischen Glauben über. Vierzig Jahre später schreibt er über den Juden Nuchem im »Schlafwandler« (1930-1932): „Bleib beim abstrakten Buch, bleib ein Jud, bleib bei der Thora“. Brochs Rückwendung zum Judentum zeichnet sich in seinen Exiljahren in Amerika von 1938 an ab. Seine zahlreichen Briefe sind unverkennbar in einem jüdischen Tonfall gehalten. Obwohl er die Konversion zum Katholizismus nicht mehr rückgängig macht, hat er in seinem letzten literarischen Werk »Die Schuldlosen«  (1950) chassidische Legenden eingefügt. In den Judenverfolgungen der 30er Jahre sieht Broch einen Reflex auf die krisenhafte Situation des modernen Menschen. Die Stellung des Juden in der Welt des 20. Jahrhunderts deutet Broch in einer groß angelegten Theorie vom Wertzerfall der Moderne. »Die Verzauberung« (1936) sieht er als den ersten religiösen Roman, der das Religiöse nicht auf das »Gottesstreitertum« hin festlegen will. Jenseits jeglicher Glaubensentscheidung sollte der moderne Mensch im Ringen um die neue Religiosität zunächst einmal deren fundamentale Bedeutung für seine Existenz erkennen. Seine Studien zur »Massenwahntheorie« (1946) verstand er als schlichte Bekehrung zur Anständigkeit. Brochs abstrakter Gottesbegriff prägt seine dichterischen Werke. Im »Tod des Vergil« (1945) hat Broch dem Wort »Gott« stets den bestimmten Artikel beigegeben, um die unbestimmte Gottheit anzusprechen. Auf der anderen Seite hat er sich mit dem Roman »Die Verzauberung« dem großen mythischen Werk im homerischen Stil anzunähern versucht. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gibt Broch in einem Brief zu bedenken: „ . . . dass derjenige, der kommen wird, weil er kommen muss, sich in sehr einfachen Worten äußern wird, in Worten, die nichts mit Kunst zu schaffen haben“. Das Wissen darum, in einer Übergangszeit zu leben, hat Broch zu der wiederholten Beteuerung geführt, „ . . . dass er letzten Endes doch wie ein Unwissender aus dem Landvolk denke und spreche . . .“

Gina Kaus über Hermann Broch (aus »Leben im Herrenhof«, 1979): „Broch, der damals noch in der Fabrik seines Vaters arbeitete und bisher keine Zeile veröffentlicht hatte, wurde von seinem Bruder gefragt, warum er täglich ins Café Herrenhof gehe. Er antwortete, weil die Leute dort so gescheit seien. Einmal kam der Bruder mit; er trat ein, gerade als Frau Musil ihr Gesicht zur Tür wandte. Der Bruder sagte: „So gescheit kann man gar nicht sein“, machte kehrt und kam nie wieder . . . Broch war verheiratet, brachte aber seine Frau niemals mit, und sie schien auch keine Lust zu haben, mitzukommen. Keiner der Freunde kannte sie. Broch war der hintergründigste Mensch, den ich kannte . . . im täglichen Leben war er ein witziger, ironischer und selbstironischer, äußerst unterhaltsamer Mensch. Die vielen Selbstvorwürfe, die er sich zu machen pflegte, klangen eher komisch, und er schien nicht, als nähme er sie ernst. Er hatte schwere psychosomatische Störungen, die ihn an der Arbeit hinderten . . . Was er auf Anhieb schrieb, war klar und witzig und gescheit. So waren auch seine Briefe . . . Wenn er aber an einem Roman arbeitete, tat er es unter entsetzlichen Qualen, die sich mehr und mehr steigerten.“

d. Franz Werfel (1890 – 1945)

Franz Werfel gehört nicht nur zu den Expressionisten, er hat auch den ganzen Weg dieser Bewegung durchschritten; dazu kommt, dass er alle Gebiete der Dichtkunst mit Erfolg gepflegt hat. Er wurde als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Industriellen in Prag geboren, besuchte dort das Gymnasium und lernte Kafka und Max Brod kennen. Nach seinem Einjährigenjahr bei einem Artillerieregiment in Böhmen, begab er sich nach Hamburg und bald darauf nach Leipzig. Dort begründete er die Buchreihe »Der jüngste Tag« (1913– 1921). 1917 übersiedelte er nach kurzem Berlinaufenthalt in die Donau–Residenz und lebte fortan als freier Schriftsteller. Hier heiratete er Alma Mahler, die Witwe Gustav Mahlers. Nur vorübergehend setzte Werfel sich für pazifistische und kommunistische Ideen ein. Von Wien aus reiste er nach Italien, Ägypten und Palästina. 1938 floh er über Frankreich, entkam zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien, schiffte sich in Portugal nach Amerika ein und lebte bis zu seinem Tod in Kalifornien. Zuerst trat Werfel als Lyriker an die Öffentlichkeit. Seine frühen Gedichtbände »Der Weltfreund« (1911), »Wir sind« (1913), »Einander« (1915), »Gesänge aus den drei Reichen« (1917), »Der Gerichtstag« (1919), »Beschwörungen« (1923) verraten den Expressionisten. Ihnen folgten »Gesammelte Gedichte« (1927), »Schlaf und Erwachen« (1935), »Gedichte aus 30 Jahren« (1939), »Zwischen Gestern und Morgen« (1942) und die »Gedichte aus den Jahren 1908 bis 1945« (1946). Von allen Lyrikern der Ausdruckskunst war Werfel der am meisten gelesene. Die Kritiker sagten ihm »intellektuelle Spielerei, Neigung zu unkontrolliertem Vielschreiben, Flüchtigkeit des Ausdrucks, Vorliebe für barocke Übertreibung und opernhafte Schlussszenen« nach. Schon früh wandte sich Werfel dem Drama zu. Während die »Die Versuchung, ein Gespräch des Dichters mit dem Erzengel und Luzifer« (1913) gedruckt wurde, schrieb Werfel bereits die Bearbeitung »Die Troerinnen« (1914). Seine nächsten dramatischen Dichtungen sind das eigenartige Stück »Die Mittagsgöttin« (1919) und das noch seltsamere »Spiegelmensch« (1920). »Bocksgesang« (1921) ist im höheren Sinn politisches Drama, im folgte ein Stück aus dem privaten Bereich »Schweiger« (1922). Seine historischen Dramen »Juarez und Maximilian« (1924), »Paulus unter den Juden« (1926) und »Das Reich Gottes in Böhmen« (1930) gehören zu den größten Leistungen seines Könnens. Die Komödie »Jacobowsky und der Oberst« (1944) zeigt in erster Linie die parallelen Wege der Christen und Juden, die sich erst in der Ewigkeit kreuzen. Seine ersten epischen Versuche waren die rätselhafte Geschichte vom »Spielhof« und »Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig« mit dem Vater–Sohn–Problem. Zum Romancier wurde Werfel mit »Verdi« (1924). Drei Jahre danach erschienen »Der Tod des Kleinbürgers« (1927) und die Novellensammlung »Geheimnis eines Menschen« (1927). Ihnen folgten bald Roman um Roman: »Der Abituriententag« (1928), »Barbara oder die Frömmigkeit« (1929), »Kleine Verhältnisse« (1931), »Die Geschwister von Neapel« (1931) und endlich »Die vierzig Tage des Musa Dagh« (1933), eine Vorahnung kommender Dinge, die auch Werfels persönliches Schicksal bestimmten. Mit dem Erzählwerk »Höret die Stimme« schlug Werfel den Weg zum religiösen Roman ein. Ihm folgten »Der veruntreute Himmel« (1939) sowie »Das Lied von Bernadette« (1941). Zwei Tage vor seinem Tod schloss er den utopischen Roman »Stern der Ungeborenen« (1946) ab. Werfel versuchte dem Judentum eine neue Aufgabe zuzuweisen, die im Zeugnis für Christus und damit für das neue Testament bestehe und umgekehrt es dem einzelnen Juden verwehre, Christ zu werden, da er dadurch seinen ihm zugewiesenen Platz in der Heilsordnung verlassen würde.


Emil Szittya über Franz Werfel: „Er soll sehr schwer anzupumpen sein. Er ist heute übrigens der Mensch, der die meisten Empfehlungsbriefe für junge Dichter an Verleger gibt . . . Er liest die Werke gar nicht, weil er weiß, dass ihm niemand glaubt und kein Verleger ein von ihm empfohlenes Buch annimmt . . . Er hat matschige Hände und sieht gar nicht so idealistisch aus wie ihn die Träumerin Else Lasker–Schüler gezeichnet hat.“


Gina Kaus über Franz Werfel (aus “Leben im Herrenhof”, 1979): „Sehr oft am Abend kam Franz Werfel, und wenn er da war, war er mehr da als irgendein anderer. Damals, ehe er Alma Mahler begegnete war er vom Katholizismus weit entfernt; er war kein Zionist, aber jüdische Dinge lagen ihm am Herzen und auf der Zunge, er war ein Kommunist ohne Parteizugehörigkeit, er hasste alles Bourgeoise, er verabscheute den Krieg . . . Er warb kein Mann, in den ich mich hätte verlieben können, er schien mir sehr hässlich, vor allem hatte er verwahrloste Zähne. Aber es machte mir große Freude, ihm zuzuhören, er war äußerst lebhaft und kühn im Ausdruck.“

e. Friedrich Torberg, eigentlich Friedrich Kantor (1908 – 1979)

Seine Wiege stand in Wien, 1922 übersiedelte er mit seiner Familie nach Prag; er war erfolgreicher Sportsmann, dem Schwimmen und Wasserball mehrfache Meisterschaften eintrugen. Die literarische Tätigkeit Torbergs setzte früh ein (in Zeitungen und Zeitschriften); bald auch erschienen die ersten Bücher; der Gedichtband »Der ewige Refrain« (1929), der Roman »Der Schüler Gerber hat absolviert« (1930), die Geschichte eines Gymnasiasten, der Selbstmord begeht, weil er glaubt, die Reifeprüfung nicht bestanden zu haben, ein zweiter Roman » . . . und glauben es wäre Liebe« (1932) sowie neben anderem der Sportroman »Die Mannschaft« (1935), dessen Charakteristikum ist, dass es nicht auf Sieg oder Niederlage ankommt, sondern darauf, über diese beiden hinauszukommen. Als dieses Buch erschien, war in Deutschland das Dritte Reich bereits etabliert, und nach dem Anschluss Österreichs musste Torberg auf die Flucht, die ihn über Zürich nach Paris verschlug. Bei Kriegsausbruch ging er freiwillig unter die Soldaten, nach dem Zusammenbruch Frankreichs flüchtete er in die Vereinigten Staaten, deren Bürger er 1945 wurde; dennoch kehrte er 1951 nach Wien zurück. Die wichtigsten literarischen Früchte der Emigration waren die Novelle »Mein ist die Rache« (1943) und der Roman »Hier bin ich, mein Vater« (1948); beide analysieren die Situation des jüdischen Menschen in einer fremden Gesellschaft. Der Roman »Die zweite Begegnung« (1950) setzte diese Linie fort, wenn er auch in das kommunistisch regierte Böhmen führte. 1958 sammelte er seine Gedichte aus 25 Jahren zum »Lebenslied« und beschloss damit seine im engeren Sinn literarische Tätigkeit.


f. Ernst Polak

Der Eintrag über Ernst Polak hätte durchaus weiter oben erfolgen können, gleich nach den Schnorrern, unter dem Titel »Mäzene«. Dass er hier erfolgt, zusammen mit seinen Schriftstellerfreunden hat einen besonderen Grund. Es ist die herausragende Position die er im Kaffeehausleben des »Herrenhof« innehatte, sowie seine Freundschaft mit allen Namhaften Schriftstellern jener Zeit, die er teils gefördert hatte und die ihn teils in ihren Werken verewigten. Da es über Polak wenig zu lesen gibt, lasse ich diejenigen die über ihn zu berichten wissen, selber sprechen:

Emil Szittya über Ernst Polak (aus »Das Kuriositäten-Kabinett«, 1923): „Die Hauptattraktion im Herrenhof ist Ernst Polak. Über diesen Herrn ist zu berichten: Er stammt aus einer sehr reichen Prager Judenfamilie. Seine Berühmtheit datiert daher, dass er mit allen Berühmtheiten Prags: Max Brod, Werfel, Kafka schon einige Nächte durchgesoffen hat. (Die Zeche bezahlt immer er.) Besonders imponierte in Künstlerkreisen, dass er die Tochter eines bekannten Prager Universitätsprofessors entführt und geheiratet hat. Er ist auch schon deshalb sympathisch, weil er der Einzige in Wien ist, der niemals gedichtet und gemalt hat, sondern ein fast vernünftiger Bankbeamter ist. Er ist der einzige Mensch im Café Herrenhof, den man immer anpumpen kann. Er hat eine schöne Wohnung und es gibt wenige Künstler in Wien, die bei ihm noch nicht gepennt haben. Seine einzige künstlerische Betätigung besteht darin, dass man von ihm das Kokainnehmen lernen kann.“

Gina Kaus über Ernst Polak (aus »Leben im Herrenhof«, 1979): „Ernst Polak war ein unscheinbarer Mann, ein Bankbeamter, er schrieb nicht, er war aber jedem Gespräch gewachsen, leidenschaftlich interessiert und als Kritiker unschätzbar. Seine Frau Milena sprach anfangs kaum Deutsch, aber sie konnte in wenigen Worten das Treffendste sagen. Milena war die Tochter eines tschechisch–nationalen und antisemitischen Zahnarztes, der so wütend gewesen war, weil sie sich in einen deutschen Juden verliebt hatte, dass er sie in eine Irrenanstalt sperrte, wo sie fast ein ganzes Jahr lang festsaß, bis Polak sie heiratete, um sie herauszuholen.“

Milan Dubrovic über Ernst Polak (aus »Der Literat ohne Werk«, 1985): „Ernst Polak (1886-1947) war nicht nur eine der überragenden Figuren unter den Herrenhofstammgästen, er war geradezu die Personifikation des Herrenhofgeistes . . . Seine Bedeutung geht schon daraus hervor, dass er als Schlüsselfigur durch mehrere Bücher geistert. In Kafkas Roman »Das Schloss« ist er der »Bürochef Klamm«, Karl Kraus persifliert ihn in seiner magischen Operette »Literatur oder Mann wird doch da sehn«, Heimito von Doderer erwähnt ihn in seinen Erinnerungen, Anton Kuh nannte ihn den »Geburtshelfer Werfels, Kornfelds, Kafkas« und fügt hinzu: »Er zerteilte mir messerscharfer Nase und Rede den Dunst . . .« Johannes Urzidil schildert ihn als »Viel- und Besserwisser von stupender Behändigkeit, scharfsichtig, kleingestaltig« . . . Der Schwerpunkt seines Wirkens lag eindeutig im gesellschaftlichen und geistigen Bereich der Literaturcafés, einerlei ob es sich in seinen Jugendjahren um das »Café Arco« oder das »Continental« in Prag, oder seine Haupt– und Dauerdomäne, das »Café Herrenhof« handelte. In der nach ihm benannten Polak–Loge, die etwa sechs bis acht Personen Platz bot, führte er gewissermaßen den Vorsitz. Hier fanden sich fast täglich Franz Werfel, Hermann Broch, Anton Kuh, der Philosoph Gustav Grüner, Friedrich Torberg, der Feuilletonist Richard Wagner, der Psychoanalytiker Adolf Josef Storfer, der literarisch äußerst interessierte Ministerialrat Dr. Alexander Inngraf und ein bis zweimal die Woche Robert Musil, Alexander Lernet–Holenia und der Kunsthistoriker Ludwig Münz ein . . . Polak hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg im Prager »Café Arco« eine zentrale Rolle gespielt. Gegen Ende des Krieges geriet Milena Jesenska, eine junge Tschechin, die sich der strengen Zucht des Elternhauses entzogen hatte, in diesen Literaturzirkel, der fast ausschließlich aus deutschsprachigen Juden bestand. Als Milena Polak's Geliebte wurde, kam es zum Eklat. Ihr Vater war Antisemit und sperrte sie in ein Irrenhaus. Polak heiratete Milena und zog nach Wien. Tatsächlich zerbrach die Ehe bereits kurz nach der Übersiedlung . . . Polak’s körperliche Unansehnlichkeit, die kleinwüchsige zarte Gestalt kontrastierten mit seiner starken geistigen Ausstrahlung, sobald er zu sprechen begann . . . Mit schwerfälligen Gesprächspartner verlor er bald die Geduld. Polak war ein widerspruchsvoller Mensch. Zwiespältigkeit und extreme Abweichung von den gewohnten Normen kennzeichneten weite Strecken seines Lebensweges. Ernst Polak verfügte über eine umfangreiche Zitatensammlung. Er machte als Vielleser in seinen Gesprächen, Briefen, Aufsätzen, Referate, literaturkritischen Betrachtungen häufig von seiner reichen Lektüre gebrauch. Er schöpfte aus Gelesenem, ließ sich davon inspirieren, fügte eigene kreative Einfälle hinzu, wobei ihm seine persönliche, hoch entwickelte Formulierungskunst und der reiche Gewinn seiner eifrigen Studien an der Universität zustatten kamen. Sein umfassendes Wissen war ständig präsent und abrufbar. So kam er in den Ruf, der Gescheiteste von allen Besuchern des »Herrenhofs« zu sein. Nicht nur junge Dichter, Schriftsteller und Journalisten suchten mit ihm Kontakt, sondern auch viele längst erfolgreiche Autoren.“


D. Das Café Museum

Neben dem »Herrenhof« erlangte das »Museum« noch ein gewisses Maß an Bedeutung. Erstens wurde es von Adolf Loos geschaffen, zweitens trafen sich hier einige Bedeutende Vertreter der Künstlergilde. Ein »richtiges« Literatencafé mit seiner besonderen Atmosphäre ist es hingegen nie geworden. Während in den Künstler und Literatencafés noch eifrig über die Moderne diskutiert wird, setzt diese sich in einem neuen Kaffeehaus schon ein Denkmal: 1899 wird in der unmittelbaren Nähe der ein Jahr vorher fertig gestellten »Secession«, das Café Museum eröffnet. Der junge Architekt heißt Adolf Loos und hat mit diesem Kaffeehaus sein erstes Gesamtkunstwerk geschaffen, schlicht und funktionell – Ästhetik aus der Reduzierung auf den Zweck. Loos hatte in seinem Café im Grunde alle Elemente akzeptiert, die sich in einem traditionellen Wiener Kaffeehaus bislang als praktisch bewährt hatten. Den spöttischen Beinamen »Café Nihilismus« verdankt das Café Museum dem Kunstkritiker Ludwig Hevesi. Er sagte Loos keine große Zukunft voraus: „Er hat die Sache gut gemacht. Etwas Nihilistisch zwar, sehr nihilistisch, aber appetitlich, logisch, praktisch . . .Wie weit Loos Künstler ist, ja ob er es überhaupt ist, muss die Zukunft erweisen . . . Ich glaube Wien wird im auf die Länge Chicago austreiben . . .“ Hevesi hatte nicht recht behalten. Das Museum wurde schnell zu einem beliebten Treffpunkt von Künstlern und Literaten, auch einigen der altbekannten Griensteidl–Central–Clique. Loos selbst kam regelmäßig hierher und zog seine Freunde Altenberg und Friedell aus dem Central mit hinüber ins Museum. Getrübt wurde die harmonische Beziehung der drei Herren kurzzeitig durch das gemeinsame Interesse an der blutjungen Schauspielerin Lina Obertimpfler, die Loos alsbald Heiratete. Die Freundschaft der Herren überdauerte jedoch die kurze Ehe . . . Lina Loos führte später Wedekind und Detlev von Lilienkron in die Wiener Künstlercafés ein, unter anderem ins »Museum«. Der Kabarettist, Maler und Steinbruchbesitzer Carl Hollitzer gehörte bald zu den Treusten Stammgästen. Die Literaturriege gesellte sich bald zu ihm, mit Joseph Roth, Roda Roda, Franz Blei, Robert Musil, Hermann Broch, Soma Morgenstern, Georg Trakl sowie Franz Werfel, von dem die Kunde ging, er werde täglich dicker und dicker und hätte entsprechend wenig Glück bei den Frauen. Albert Paris Gütersloh, Maler und Dichter, hielt seinem Stammcafé sogar bis zu seinem Tod im Jahre 1973 die Treue. Elias Canetti war in den dreißiger Jahren täglich im Café Museum. Bis heute ist das Museum, wenn auch im bescheidenerem Ausmaß, Treffpunkt der Intellektuellen– und Künstlerwelt geblieben. Vom Loos–Gesamtkunstwerk ist eigentlich nichts mehr vorhanden.


E. Café Hawelka – oder – Das vielleicht letzte seiner Art

Nach 1945 war es das Café Hawelka, das eine Art Nachfolge des Literatencafés antreten sollte. Seine bedeutendsten, regelmäßigen Besucher waren H.C. Artmann und André Heller. Artmann könnte man als letzten Kaffeehausliteraten bezeichnen, er lebte unglücklicherweise zur falschen Zeit. Über ihn wird weiter unten berichtet werden.

„Das Café Hawelka in der Dorotheergasse in Wien ist eine Magische Botanisiertrommel, in der man die seltsamste Flora unserer Stadt finden kann: Gescheite und Dumme, Hässliche und Schöne, Arme und Reiche, Junge und Alte, Bezaubernde und Bezauberte, Stotternde und Wohlredner und weiß Gott, was dort alles noch seinen kleinen Braunen trinkt . . .“ Das schreibt H.C. Artmann 1960 über sein Stammcafé, das er über alles liebte. Ein Jahr später notiert er ins Gästebuch: „Wenn ich heutzutage noch hergehe, dann wegen Herrn und Frau Hawelka samt dem ausgezeichneten Herrn Theo. Die Leute sind scheußlich geworden“. Wegen der Leute, die dort saßen, Künstler, Maler, Dichter nebst solchen, die es werden wollten, ist man hingegangen, unermüdlich, jeden Tag, bis auf Dienstag, denn da hatte das Hawelka Ruhetag. Außer den Leuten hat sich immer Hawelka über die Jahre nicht viel verändert. Leopold und Josefine sind ein bisschen älter geworden. Im Juni 1939 wurde das Havelka eröffnet. In den frühen fünfziger Jahren entdeckten Maler und Dichter das Kaffeehaus, das bald zum Künstlertreffpunkt Wiens wurde und die Nachfolge von »Herrenhof« und »Central« antrat. Die Wiener Gruppe um H.C. Artmann mit Konrad Bayer, Friedrich Achleitner, Gerhard Rühm und Oswald Wiener versammelten sich hier täglich. Aber auch Theodor Csokor, Heimito von Doderer, Friedrich Torberg, Hans Weigl und Elias Canetti waren in diesen Jahren Stammgäste des Hawelka. Im Jahre 1960 erblickte ein anderer heute Berühmter das erste mal das Licht der Hawelkawelt – und der war sogar erst dreizehn: André Heller. Ihn hatte die gute Frau Hawelka mit Apfelschalentee aufgepapperlt, wenn er krank war, und getröstet, wenn ihn der Mut zu verlassen drohte: „Der Herr Canetti ist auch nicht immer der Herr Canetti gewesen.“

H.C. Artmann über das Hawelka (aus »Im Schatten der Burenwurst«, 1983): „Das schönste Stadtcafé von altem Schrott und Korn oder, besser gesagt, von frischen Nussbeugel und duftender Melange ist und bleibt für mich das Café Hawelka. Dort . . .scheint mir all das erhalten geblieben zu sein, was wir Jungen eigentlich nur mehr aus Büchern, Zeitungen oder den Erzählungen älterer Jahrgänge kennen: das Künstler– und Literatencafé . . . Im Hawelka sind wahrhaftig die letzten sechs Jahrzehnte ohne die geringste Spur vorübergegangen; bis auf die Espressomaschine ist alles beim alten geblieben. Die tapezierten Wände, die roten Plüschbänke, die nippfigurenbewachten Spiegel, die Marmortischerln, ja sogar ein bedeutender Teil der Gäste passten eher in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg, als in unsere gehetzte, mond- und raketennarrische . . . Ich glaube überhaupt, dass, wenn wir den Hawelka nicht hätten, vieles ungetan, ungesprochen oder von Grund aus gar nicht erdacht werden würde. Man braucht sein Zentrum, und das ist eben für uns wie für unsre Vorfahren das Kaffeehaus, das, obgleich oft totgesagt, wie eh und je floriert.“

Friederike Mayröcker über das Hawelka (aus »Magische Blätter«, 1983): „ . . . durchkreuzt scheint mir heute das Café Hawelka, durchkreuzt, durchquirlt, in Rauch gänzlich aufgelöst – vielleicht weil ich so lange nicht hier war. Die bleiche Frau in ihrem bleichen Flügelkleid eilt auf mich zu, sucht, eine Spanne über dem Boden schwebend, nach einem Platz für mich, wirft dann mit gespielter Resignation die Arme in die Luft, in ihrem Sanktuarium . . .“


André Heller über das Hawelka (aus »Café Hawelka – Ein Wiener Mythos«, 1982): „ . . . Später hatte ich oft das Gefühl, dass diese ersten Minuten meiner Bekanntschaft mit dem Buchtelolymp bereits alle wesentlichen Zutaten künftiger hawelkanischer Nächte enthielten: das Geschichtenerzählen, den Selbstbetrug, die Erinnerungssüchtigkeit, das Kritisieren, das sich Stilisieren . . . Das Hawelka ist keine Weltanschauung, wie es der Überlieferung nach das Central, das Herrenhof, das Griensteidl gewesen sind, es ist ein Fundament, in dem sich die Verlorenen selbst abgeben . . .“


H. C. Artmann (1921 – 19??)

Den wenig aussichtsreichen Versuch, die exzentrischen Einzelgänger der experimentellen Literatur zu einer Gruppe zusammenzuschließen unternahm zu Beginn der fünfziger Jahre Hans Carl Artmann, als er die »Wiener Gruppe« ins Leben rief, zu der zunächst Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Oswald Wiener und Gerhard Rühm sowie in Folge Ernst Jandl und Friederike Mayröcker gezählt wurden. Artmann wurde 1921 im Wiener Vorort Breitensee, als Sohn eines Schuhmachermeisters, geboren. Er betrieb autodidaktische Sprachstudien in Schwedisch, Walisisch und Malayisch. 1940 bis 1945 war er Soldat und geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Rückkehr nach Wien war er Gelegenheitsarbeiter und zeitweilig arbeitslos, er unternahm ausgedehnte Reisen. Bis 1949 arbeitete er unter anderem als Dolmetscher in der US – Armee und studierte vergleichende Sprachwissenschaften. Nach dem Erscheinen seines ersten Romans wechselte er ständig den Wohnort, lebte aber meist in der Nähe von Salzburg. Artmann liebt das Rollenspiel und die Selbstinszenierung, sein Leben selbst, nicht allein sein Werk, war ein Kunstwerk. 1958 erschien sein erstes Buch – und machte ihn über Nacht berühmt: »med ana schwoazzn dintn«, eine bizarre Sammlung von Gedichten im Dialekt des Wiener Vorortes, aus dem Artmann stammte. Ein Jahr später folgten weitere Dialektgedichte unter dem Titel »hosn rosn baa«. Nach weiteren Gedichten erschienen in den sechziger Jahren seine erste Prosabände: das fiktive schwedische Tagebuch »das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem weißen brotwecken« (1964); die dreißig Berufsportraits »Fleiß und Industrie« (1967); »Frankenstein in Sussex« (1969) sowie die Sammlung der zwischen 1949 und 1953 entstandenen Prosa unter dem Titel »Das im Walde verlorene Totem« (1970). 1974 erschien »Unter der Bedeckung eines Hutes«, 1975 »Aus meiner Botanisiertrommel«. Von Artmanns umfangreichen, romanhaften Texten sind vor allem erwähnenswert die Dr. Jekyll und Mister Hyde–Geschichte »Die Jagd nach Dr. U« (1977), der Roman „Nachrichten aus Nord und Süd“ (1978), sowie der barockisierende Roman »Der aeronautische Sindtbart oder Seltsame Luftreise von Niedercalifornien nach Crain« (1972), indem er Elemente der Barockliteratur mit Motiven des Wiener Volkstheaters, Sagen und Märchen mit Formen der Trivialliteratur und des Comicstrip genial zusammenfügt. Zu seinen späten Werken zählen »Die Sonne war ein grünes Ei« (1985) sowie »Im Schatten der Burenwurst« (1986). 1974 erhielt er den Großen Österreichischen Staatspreis.


F. Café Bräunerhof

Das Bräunerhof in der Stallburggasse 1 ist bekannt als Literatencafé. Wenn auch nur sehr eingeschränkt und nur im übertragenen Sinn. Geworden ist es das in erster Linie, weil Thomas Bernhard dort regelmäßig am Vormittag die Zeitung gelesen hat. Bekannt ist auch, dass Thomas Bernhard die Wiener Kaffeehäuser gehasst hat. Aber er hat, wie er bei sich selbst diagnostizierte, an der »Kaffeehausaufsuchkrankheit« gelitten: „Ich habe die Wiener Kaffeehäuser immer gehasst, weil ich in ihnen immer mit Meinesgleichen konfrontiert gewesen bin, das ist die Wahrheit, und ich will ja nicht ununterbrochen mit mir konfrontiert sein, schon gar nicht im Kaffeehaus, in das ich ja gehe, damit ich mir entkomme, aber gerade dort bin ich dann mit mir und Meinesgleichen konfrontiert.“ Thomas Bernhard ist ins Kaffeehaus gegangen um Zeitungen zu lesen, vor allem die Ausländischen. Das Bräunerhof verfügt wohl über das größte Zeitungsangebot unter Wiens Kaffeehäusern. Natürlich gehen Schriftsteller ins Bräunerhof, aber nicht zum Schreiben. Robert Schindel scheint der einzige zu sein, bei dem das anders ist. Er ist einer der wenigen echten Kaffeehausliteraten heute. Denn er geht tatsächlich ins Café um zu schreiben, und er schreibt ausschließlich im Kaffeehaus. Seinen Roman »Gebürtig«, in dem natürlich auch verschiedene Kaffeehäuser eine Rolle spielen, hat Schindel im »Bräunerhof« begonnen, und zwar zu der Zeit, in der auch Thomas Bernhard noch hier saß.


17. Abgesang:

In der Literatur hat das Literatencafé der Jetztzeit, das im Zeitalter des Computers eigentlich so wenig existiert wie die Gattung des Kaffeehausliteraten selbst, kaum Eingang gefunden. Ein sicheres Zeichen dafür, dass die Ära dieses Kaffeehaustypus längst vorbei ist und bestenfalls aus sentimentalen Gründen versucht wird, daran anzuknüpfen. In den Literatenkaffees der Jahrhundertwende – wie später vielleicht auch noch im Hawelka – spielte der Austausch, die Kommunikation unter Schreibenden eine tragende Rolle. Heute versteht man unter Literatencafé auch schon ein Kaffeehaus, in dem ein Schriftsteller regelmäßig die Zeitung liest, wie eben das oben angeführte »Bräunerhof«. Vorbei sind die Zeiten in denen »Ruhe und Müßiggang« Lebenszweck sein konnte. Längst ausgestorben sind jene Gestalten und Charaktere, denen dieses Laster anhaftete. Die »neue Zeit« hat sie alle verdrängt, und wenn wir nicht darüber nachlesen könnten, wüssten wir nicht wie es damals war. Obgleich es gewiss keine »gute Zeit« im heutigen Sinne gewesen sein mag, so hatte sie doch einige liebenswerte Seiten, die wir heute vermissen würden, hätten wir sie erleben dürfen.



Literaturhinweise

PETER ALTENBERG: Kaffeehaus aus Vita ipsa, Berlin 1918; So wurde ich. Stammgäste aus Semmering, Berlin 1913; Nachtcafé aus Neues Berlin, Berlin 1911

H. C. ARTMANN: Nußbeugeln und Melangen aus Im Schatten der Burenwurst, Salzburg und Wien 1958

FRANZ BLEI: O. Krzyzanowsky aus Erzählung eines Lebens, Leipzig 1930

GÉZA VON CZIFFRA: Anton Kuh, der Schnorrer–König aus Der Kuh im Kaffeehaus. Die goldenen Zwanziger in Anekdoten, München-Berlin, 1981

HEIMITO VON DODERER: Meine Caféhäuser aus Franz Hubmann: Café Hawelka. Ein Wiener Mythos, Wien 1982

MILAN DUBROVIC: Diagnose des Literaturcafés, Ein Literat ohne Werk aus Veruntreute Geschichte, Die Wiener Salons und Literaturcafés, Wien-Hamburg 1985

OTTO FRIEDLÄNDER: Kaffeehaus aus Letzter Glanz der Märchenstadt, Wien 1947

BARBARA FRISCHMUTH: Café Fluch, 1997

Friedrich Hansen-Löwe: Kaffeehausgesellschaft aus Franz Hubmann: Café Hawelka. Ein Wiener Mythos, Wien 1982

ANDRÉ HELLER: Ein Ort der selbstverständlichen Täuschungen aus Franz Hubmann: Café Hawelka. Ein Wiener Mythos, Wien 1982

LUDWIG HEVESI: Café Museum aus Acht Jahre Sezession, Wien 1906

ERNST HINTERBERGER: Die Kaffeehäuser der anderen. Mein Kaffeehaus, 1997

LUDWIG HIRSCHFELD: Kaffeehauskultur aus Das Buch von Wien. Was nicht im Baedecker steht, 1927

GINA KAUS: Leben im Herrenhof aus Und was für Leben . . . mit Liebe und Literatur, Theater und Film, Hamburg 1979

ERNST JANDL: Café Hawelka aus Peter und die Kuh, München 1996

ELFRIEDE JELINEK: Huschhusch ins Korb!, 1997

OSKAR KOKOSCHKA: Über Adolf Loos. Karriere im Café Central aus Mein Leben, München 1971

KARL KRAUS: Die demolierte Literatur aus frühe Schriften 1892-1900, Frankfurt am Main 1988

ANTON KUH: Central und Herrenhof. Lenin und Demel aus Luftlinien, Wien 1981; Zeitgeist im Literaturcafé. Café de’lEurope, Wien 1983

FRIEDERIKE MAYRÖCKER: Für Josefine Hawelka aus Magische Blätter, Frankfurt am Main 1983

ROBERT MENASSE: Beruf Kaffeehausgast, 1997

ERNST MOLDEN: Der Teufel im Prückel aus Die Krokodilsdame, München 1997

ALFRED POLGAR: Die Theorie des Café Central aus Kleine Schriften, Reinbek 1983

DORON RABINOVICI: Die Zelle aus Suche nach, Frankfurt am Main, 1997

FELIX SALTEN: Aus den Anfängen. Erinnerungsskizzen aus Jahrbuch deutscher Bibliophilen und Literaturfreunde, Berlin 1933

HILDE SPIEL: Heimkehr ins Herrenhof aus Rückkehr nach Wien. Tagebuch, München 1968

EMIL SZITTYA: Café Museum. Schnorrer-Bohème im Café Central. Das jüngste Café Größenwahn aus Das Kuriositäten-Kabinett, 1923

FRIEDRICH TORBERG: Traktat über das Wiener Kaffeehaus. Sacher und Wider-Sacher, Café de l’Europe – Café Imperial aus Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten, München 1975

HANS WEIGL: Das Kaffeehaus als Wille und Vorstellung aus Das Wiener Kaffeehaus, Wien-Zürich-München 1978

FRANZ WERFEL: Im Kaffeehaus für Gott und Lenin aus Barbara oder die Frömmigkeit, Berlin-Wien-Leipzig 1929; Der letzte Kaffeehausliterat aus Zwischen Oben und Unten, München-Wien 1975

SUSANNE WIDL: Eine kleine Kaffeehausphilosophie, 1997

STEFAN ZWEIG: Das Kaffeehaus als Bildungsstätte. Jugend im Griensteidl aus Die Welt von gestern, Stockholm 1944

Bundesweit bei ÖH-Wahlen kanditierte erstmals eine grüne und alternative Liste 1991 unter dem Namen "Grüne & Alternative Wahlplattform". Dieses Bündnis war ein Zusammenschluss vieler alternativer Gruppen, die sich der "grünen" Bewegung zugehörig fühlten. Die gemeinsame Kanditatur wurde mit 6 Mandaten, in dem damals noch 65 Sitze umfassenden Zentralausschuss (heute Bundesvertretung), belohnt. Dies bedeutete Platz 3 hinter der Aktionsgemeinschaft und dem VSStÖ.

Bei den nächsten Wahlen 1993 kanditierte die grüne Liste bereits als GRAS (Grüne&Alternative StudentInnen). Unsere Mandatsstärke wurde weiter ausgebaut.

Da die GRAS bei den Wahlen 1995 mit 13 Mandaten zur zweitstärksten Karft im Studierendenparlament wurde, kam es auch zur ersten grün-roten Koaltion.

Dieser Erfolg konnte aber 1997 nicht fortgesetzt werden, die GRAS blieb zwar zweite Kraft verlor aber 3 Mandate. Die ÖVP-nahe Aktionsgemeinschaft stellte wieder den Vorsitzenden.

1999 wurde das Studierendenparlament durch das HSG 98 von 65 Sitze auf 45 Sitze reduziert. Die GRAS schaffte damals 6 Mandate, was einem Verlust von 2% gleichkommt. Auch bei diesen Wahlen konnte die Alleinregierung der Aktionsgemeinschaft nicht verhindert werden.

2001 fuhr die GRAS den größten Wahlerfolg ihrer Geschichte ein und verdoppelte ihre Mandate auf 12. Damit war man wieder zweite Kraft und stellte durch die Koalition mit dem VSStÖ in Folge auch die erste grüne Vorsitzende der Bundesvertretung, Anita Weinberger.

2003 wurde die GRAS zur stimmenstärksten Österreichweiten Studierendenfraktion. Die Aktionsgemeinschaft wurde auf Platz zwei verdrängt – die jahrzehnte lange Dominanz einer ÖVP-Studierendenfraktion war endgültig gebrochen.

2005 verzeichnete die GRAS ebenfalls einen Stimmenzuwachs und hielt ihre Position als stimmenstärkste Fraktion trotz neuem benachteiligendem ÖH-Gesetz. Sie stellt im drittem Mal in Folge die ÖH-Exekutive zusammen mit dem Vsstö.

Die GRAS versteht sich als basisdemokratische Fraktion, die keine Teilorganisation der Grünen Partei ist, wohl aber ein Teil der Grünen Bewegung. Wir fordern ein allgemeinpolitisches Mandat der Österreichischen HochschülerInnenschaft, das uns ermöglicht, die Universität als Lebensraum zu begreifen, der von allen Studierenden mitgestaltet werden kann. Die studentische Mitbestimmung ist daher eines unserer wichtigsten Ziele.

Die GRAS ist in jeder Unistadt durch eine Unigruppe vertreten und wird von vielen Basisgruppen unterstützt.

Die Grundsätze der GRAS sind:

Antisexistisch Ökologisch-Nachhaltig Antidiskriminierend Solidarisch Antirassistisch / antifaschistisch Basisdemokratisch Gewaltfrei Systemkritisch Kapitalismuskritisch Weltoffen Selbstbestimmt Kulturell Pluralistisch Lustvoll Globalisierungskritisch Kalu