Benutzer:Mautpreller/Preussler

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Merkwürdigkeiten von Carsten Gansels Preußler-Biografie: "Mit einiger Sicherheit werden beide Väter (Josef Syrowatka und der Vater von Franz Fühmann, M.) mit der 1904 in Böhmen gegründeten Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei sympathisiert haben, die sich ab dem 5. Mai 1918 Deutschen (sic!) Arbeiterpartei Österreichs nennt" (S. 75). 1904 eine sich nationalsozialistisch nennende Partei? Ist natürlich genau falschrum: Gegründet wurde sie als Deutsche Arbeiterpartei Österreichs, im Mai 1918 benannte sie sich in Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei um.

"In Böhmen liegt um 1921 der Anteil der tschechischen arbeitenden Bevölkerung bei 38 Prozent, der der deutschen bei etwa 47 Prozent" (ebenso S. 75). Wie soll man das deuten? An der böhmischen Bevölkerung hatten Deutsche doch nur einen Anteil von etwa 33 % (Krofta 1927). Arbeitete der Tscheche nicht gern, der Deutsche aber umso lieber? Nun, wenn man die Quelle dieser Behauptung nachschlägt, löst sich der ganze Nebel auf. "Im Jahre 1921 arbeiteten in Böhmen 38,2 Prozent Tschechen und 46,7 Prozent Deutsche in der Industrie" (Tisakova, S. 183). Dh die Deutschen waren in der böhmischen Industriearbeiterschaft besonders stark vertreten, mit der "arbeitenden Bevölkerung" hat das überhaupt nichts zu tun. Es ist eben so, dass die Siedlungsgebiete der Deutschen die wichtigsten Industriegebiete Böhmens waren. Reichenberg war das Zentrum der Textilindustrie in Böhmen.

Liest man sowas, fragt man sich, wo das Lektorat geblieben ist. Liest jemand die Bücher noch, bevor sie gedruckt werden? Ich weiß, solche Sachen passieren im Schreibprozess, insbesondere wenn man fertigwerden will. Ein Verlag, der etwas auf seine Publikationen hält, sollte den Autor aber vor solchen Peinlichkeiten bewahren.

Dass in Syrowatka/Preußlers "Chronik der Gauhauptstadt Reichenberg" (1941) nur "der nationalsozialistische Jargon mit den entsprechenden Schlagworten eingewoben" sei, die "Kernaussagen zur Heimatgeschichte" aber "von den nationalsozialistischen Markern unberührt" geblieben seien (S. 80), ist eine höchst merkwürdige Aussage, die gar nicht leicht zu verstehen ist. Das Bemerkenswerte ist doch gerade, dass der romantisch-deutsche Ton sich als bruchlos mit dem NS-Jargon harmonisierbar erweist. Nicht anders die Behauptung, zwar "reaktiviere" Syrowatka in seinem Krippenaufsatz vom Dezember 1938 "ein gängiges antisemitisches Klischee", aber man könne nicht sagen, dass es sich "um einen Propagandabeitrag handelt" (S. 82). Dass beides stimmen könnte, kommt Gansel nicht in den Sinn: Heimatkunde & NS-Klischees gingen halt nur allzu gut zusammen.

Im Übrigen versteht Gansel auch Isa Engelmann falsch: Mit der Benennung Syrowatkas als "eine der maßgeblichen Leitfiguren für Heimatkunde und Reichenberger Deutschtum" bringt sie ihre Enttäuschung zum Ausdruck, dass eine solche Leitfigur sich für antisemitische Propaganda hergab. Es mag sein, dass es sich dabei schlicht um Opportunismus handelte. Syrowatka war Nationalist, aber weder in der Wolle gefärbter Nazi noch hatte er sich vor 1938 antisemitisch geäußert. Es hätte, so verstehe ich Engelmann, einen Unterschied für die Stadt und besonders die Juden in der Stadt gemacht, wenn eine integre, gebildete Autoritätsperson des Reichenberger Deutschtums 1938 nicht ins Nazihorm geblasen hätte. Aber er tat es eben! Syrowatka wurde dazu nicht gezwungen, er hat sich schlicht dem angeschlossen, was 1938 Oberwasser bekam. Das hätte er nicht tun müssen, aber er hat es getan. Und das war sechs Wochen nach dem 9. November 1938, der Reichskristallnacht, die auch den neuen Sudetengau mitnichten verschonte.

Was Gansel übersieht oder vielleicht auch nicht sehen will, ist die Anschlussfähigkeit des Nationalsozialismus für viele Strömungen der deutschen Kultur. Sei es die Heimatschutzbewegung, sei es die bündische Jugend - der NS war in der Lage, dies aufzugreifen und für sich zu gewinnen. Der NS war attraktiv für viele Menschen, die an sich keineswegs Antisemiten oder Kriegstreiber sein mussten, er war viel stärker Teil der deutschen Kultur, als Gansel das annimmt. Umso mehr irritiert die Apologetik, der Gansel verfällt. Wenn es eine Schuld von Leuten wie Otfried Preußlers Vater gibt, die heute noch von Bedeutung wäre, dann besteht sie genau darin, dass sie auch später nie zur Umkehr bereit waren. 1941 schrieb er: "Unbeschreibbares Glück! Jahrhundertelanger Traum ist greifbare Wirklichkeit! Rote, Tschechen und Juden verlassen die Stadt." Im Rückblick könnte man doch sehen: Die tschechischen und die jüdischen Bürger Reichenbergs verschwanden nach dem Triumph des Deutschtums. Wohin, warum? Hat Josef Syrowatka/Preußler darüber nie nachgedacht? Was geschah mit dem mutigen Carl Kostka, Reichenberger Bürgermeister von 1929 bis 1938, dem er 1941 in seinem Reichenberg-Buch Freimaurerei und Willfährigkeit gegenüber "Prag" nachrief?

Bei Otfried Preußler selbst dürfte das anders gewesen sein. Er war in seiner Reichenberger Zeit noch sehr jung. Seine Kinder- und Jugendbücher transportieren unverkennbar ein idyllisiertes Bid seiner alten Heimat, aber auch eine tendenziell pazifistische Botschaft, am besten bei Krabat erkennbar. Gansel zitiert einen Brief Otfried Preußlers von 1986, an seinen Reichenberger Jugendfreund Herbert Löwit, der als Jude mit seiner Mutter 1938 nach England entkam - einer von denen also, die nach Josef Preußlers Worten von 1941 die Stadt verließen, zum unbeschreibbaren Gück des Deutschtums: "Wir alle sind ja eine mehrfach gebrannte Generation, unsere gleichaltrigen Landsleute tschechischer Sprache ausdrücklich einbezogen. Wie absurd erscheint aus heutiger Sicht alles, was da mit uns (und, natürlich bis zu einem gewissen Grade, auch durch uns) passiert ist. Geschehenes lässt sich nicht zurückdrehen, aber ich möchte wenigstens sagen dürfen, wie sehr mich dies alles noch heute schmerzt" (101). Von Josef Preußler ist nichts Derartiges überliefert. Und auch bei Gansel findet sich nicht dieses Reflexionsniveau: Er ist zu sehr damit beschäftigt, die Preußlers gegen Vorwürfe bezüglich dessen, was "auch durch uns" pssiert ist, zu verteidigen.

Dabei ist es wirklich bemerkenswert, was Gansel so alles ausgegraben hat. Sehr verdienstvoll beispielsweise die Informationen über das Schauspiel Kang-Chen-Dzönga, das Otfried Preußler im Kasaner Lager geschrieben und aufgeführt hat, darüber war bislang nichts bekannt. Leider fällt auch hier auf, dass Gansel den Kontext dieser Kantsch-Expeditionen und insbesondere ihrer Rezeption nicht zu kennen scheint. Paul Bauer, einer der beiden Helden des Dramas, im Dritten Reich Chef der Deutschen Himalaya-Stiftung, war nicht nur ein echter Nazi, sondern vor allem wesentlich verantwortlich für eine völkisch-nationale Deutung der entsprechenden Bergsteigerei. Er feierte eben die verschworene nationale Gemeinschaft, die egoistische Individualisten nicht gebrauchen könne. Ralf-Peter Märtin hat das in seinem Nanga-Parbat-Buch vorbildlich analysiert: "Brucks" Nachfolger sind eben Hermann Buhl und später Reinhold Messner, denen nichts ferner lag als die verschworene Gemeinschaft. Natürlich ist die Gemeinschaftsideologie nichts exklusiv Nationalsozialistisches, aber das Narrativ der verschworenen Gemeinschaft war durchaus für den NS nutzbar. Otfried Preußler brauchte halt noch zwei Jahrzehnte, um sich in Krabat von dieser verführerischen Erzählung zu lösen.

Gansel beschreibt sehr überzeugend, wie O. Preußler dieses Narrativ von Führung, Verantwortung und Gemeinschaft in der Lagersituation gegen die sinnlosen Opfer der Durchhaltebefehle in Stellung bringt. Bloß die Problematik dieses Narrativs selbst geht ihm nicht auf.