Benutzer:FordPrefect42/Anonymus IV
Als Musiktraktat des Anonymus IV ist in der Musikwissenschaft die musiktheoretische Schrift De mensuris et discantu aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts bekannt. Sie beschreibt die kompositorischen Neuerungen der Notre-Dame-Schule und namentlich deren Protagonisten Léonin und Pérotin.
Der Autor
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der namentlich nicht bekannte Autor des Traktats war ein englischer Scholar, der um 1270–1280 in Frankreich lebte und wirkte. Er stammte möglicherweise aus der Abtei St Edmund in Bury St Edmunds in Suffolk, wo zwei unvollständige Handschriften seines Traktats überliefert sind. Edmond de Coussemaker führte ihn 1865 bei der ersten modernen Edition seiner Schrift als vierten in einer Reihe von anonymen Autoren auf, weswegen sich für ihn der Notname Anonymus IV eingebürgert hat.[1]
Der Traktat De mensuris et discantu
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Musiktraktat des Anonymus IV, der übrigens umfangreiche Partien aus dem Traktat des Johannes de Garlandia quasi Satz für Satz übernommen hat, geht hervor, dass es wohl eine Zeit des Perotinus Magnus gab, in der eine ganz bestimmte Notationsweise (die Modalnotation) von ihm und seinen Vorgängern verwendet worden war. («[…] et hoc ab illo tempore, quo homines incipiebant talia cognoscere, ut in tempore Perotini Magni et a tempore antecessorum suorum.»)
Weiter heißt es:
«Et nota, quod magister Leoninus, secundum quod dicebatur, fuit optimus organista, qui fecit magnum librum organi de gradali et antifonario pro servitio divino multiplicando. Et fuit in usu usque ad temporis Perotini Magni, qui abbreviavit eundem et fecit clausulas sive puncta plurima meliora, quoniam optimus discantor erat, et melior quam Leoninus erat.»
„Und merke dir, dass der Magister Leoninus, wie berichtet wurde, der beste organista[3] gewesen ist; er verfertigte den Magnus Liber der Organa zum Graduale und Antiphonar zur Bereicherung des Gottesdienstes. Und dieses Buch blieb in Gebrauch bis zu der Zeit des Perotinus Magnus, der dasselbe gekürzt hat und viel bessere Klauseln und Punkta schuf, weil er der beste Discantor war, sogar besser als Leoninus.“
Zuletzt berichtet Anonymus IV über die Arbeit des Perotinus Magnus, welcher den Angaben im Traktat zufolge beste Quadrupla (vierfache Organa) wie das Viderunt omnes und das Sederunt principes mit einer Fülle von Colores der harmonischen Kunst sowie schönste Tripla (dreifache Organa) und Conductus schuf.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Textausgaben
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Edmond de Coussemaker: Scriptorum de musica medii aevi. Band 1. Durand, Paris 1864, S. 327-365; urn:nbn:de:bvb:12-bsb10801093-1.
- Luther Dittmer (Hrsg.): Anonymous IV [concerning the measurement of polyphonic song]. Institute of Mediaeval Music, 1959; archive.org.
- Fritz Reckow: Der Musiktraktat des Anonymus 4. 2 Bände. Steiner, Wiesbaden 1967.
- Jeremy Yudkin: Music Treatise Of Anonymous IV : A New Translation (= Musicological Studies & Documents‚ Vol. 41). Hänssler, Stuttgart 1985, ISBN 3-7751-0994-3.
Sekundärliteratur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Hans Heinrich Eggebrecht: Musik im Abendland. Piper, München 1996, ISBN 3-492-22301-X, S. 91.
- Rudolf Flotzinger: Leoninus musicus und der Magnus liber organi. Bärenreiter, Kassel u. a. 2003, ISBN 3-7618-1736-3.
- Rudolf Flotzinger: Von Leonin zu Perotin. Der musikalische Paradigmenwechsel in Paris um 1210 (= Varia musicologica. 8). Lang, Bern etc. 2007, ISBN 978-3-03910-987-6.
- John Haines: Anonymous IV as an Informant on the Craft of Music Writing. In: The Journal of Musicology. 23, 2006, S. 375-425; JSTOR:10.1525/jm.2006.23.3.375.
- Nicky Losseff: Anonymous IV (fl. 1250–1280). In: Henry Colin Gray Matthew, Brian Harrison (Hrsg.): Oxford Dictionary of National Biography, from the earliest times to the year 2000 (ODNB). Oxford University Press, Oxford 2004, ISBN 0-19-861411-X (doi:10.1093/ref:odnb/52665 Lizenz erforderlich), Stand: 2004
- Friedrich Ludwig: Die geistliche nichtliturgische und weltliche einstimmige und die mehrstimmige Musik des Mittelalters bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts. In: Guido Adler (Hrsg.): Handbuch der Musikgeschichte. 2. Auflage. Band 1. Max Hesse, Berlin 1930, S. 157–295; Textarchiv – Internet Archive.
- Jeremy Yudkin: The Anonymous of St. Emmeram and Anonymous IV on the "Copula". In: The Musical Quarterly. 70, 1984, S. 1–22; JSTOR:741921.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Edmond de Coussemaker: Scriptorum de musica medii aevi. Band 1. Durand, Paris 1864, S. 327-365; urn:nbn:de:bvb:12-bsb10801093-1.
- ↑ Fritz Reckow: Der Musiktraktat des Anonymus 4. Steiner, Wiesbaden 1967. Teil 1. 46, 1-20
- ↑ Die Bezeichnung organista bezieht sich – wenn auch vermutlich nicht ausschließlich – auf die Komposition von Organa, vgl. Michele Calella: Leoninus. In: MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken (Abonnement erforderlich).