Benutzer:Cholo Aleman/DDR-Verlage

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Philosophie Magazin - Impulse für ein freieres Leben

Essay Sagen, Schweigen und Zeigen – Wittgenstein und die „Cancel Culture“ Slavoj Žižek veröffentlicht am 17 Oktober 2023 9 min



se Einsicht, die Wittgenstein in vielen Versionen formuliert (wie z.B.: „Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden“) sollte aber nicht als Hinweis auf eine unaussprechliche, tiefere Wahrheit jenseits der Worte verstanden werden. Was nicht gesagt werden kann, ist dem Sprechen vielmehr immanent, es ist die Form, die das Sprechen zeigt, es ist das, was wir tun, wenn wir etwas sagen. Zu Wittgensteins Beispiel der „Ehrlichkeit“ könnten wir „Würde“ hinzufügen: Wenn man darüber spricht, ist man nicht würdevoll oder ehrlich. Ehrlichkeit und Würde kann man nur zeigen, indem man etwas tut, indem man als ehrliche oder würdevolle Person handelt.

Es gibt etwas, das ich – in Anlehnung an eine berühmte Szene aus dem Film Vier Hochzeiten und ein Todesfall – als das „Hugh-Grant-Paradoxon“ bezeichne: Der Held versucht, seine Liebe der Geliebten gegenüber zu artikulieren, aber verfängt sich dabei in stolpernde und verwirrte Wiederholungen, und gerade das Versagen, die


Liebesbotschaft auf vollkommene Weise zu überbringen, bezeugt ihre Authentizität. In seinem Scheitern daran, über seine Liebe zu sprechen, zeigt er sie (obwohl sich ein solches Versagen natürlich auch vortäuschen lässt). Wir haben es hier mit Wittgensteins Version von „Es gibt keine Metasprache“ zu tun: Ein Sprechakt kann nicht in das, was er sagt, seine eigene Form, seinen eigenen Akt einschließen.


Jon Elster hat dieses Merkmal in seinen Überlegungen zu „Zuständen, die im Wesentlichen Nebenprodukte sind“ formuliert: „Einige psychologische und soziale Zustände haben die Eigenschaft, dass sie nur als Nebenprodukt von Handlungen entstehen können, die zu anderen Zwecken unternommen werden. Sie können also niemals intelligent und absichtlich herbeigeführt werden, weil der Versuch, dies zu tun, den Zustand, den man herbeiführen will, ausschließt. Ich nenne sie ‚Zustände, die im Wesentlichen Nebenprodukte

sind‘. Es gibt viele Zustände, die als Nebenprodukte individuellen oder kollektiven Handelns entstehen können, aber dies ist die Teilmenge der Zustände, die nur auf diese Weise entstehen können. Einige dieser Zustände sind sehr nützlich oder wünschenswert, sodass es sehr verlockend ist zu versuchen, sie herbeizuführen. Wir können solche Versuche als ‚Willensüberschuss‘ bezeichnen, eine Form der Hybris, die unser Leben durchdringt, vielleicht sogar in zunehmendem Maße.“


Wider die Autorität der ersten Person


Unter den vielen Beispielen, die Elster anführt (wie z.B. „Gute Kunst ist beeindruckend; Kunst, die beeindrucken soll, ist es dagegen selten“), sollte man das Thema Authentizität und Aufrichtigkeit erwähnen: „Die Begriffe Aufrichtigkeit und Authentizität haben, wie die Begriffe Weisheit und Würde, immer einen leicht lächerlichen Beigeschmack, wenn sie in der ersten Person Singular verwendet werden, was die Tatsache widerspiegelt, dass die entsprechenden Zustände im Wesentlichen Nebenprodukte sind. (…)

Das Unbenennbare zu benennen, indem man über etwas anderes spricht, ist eine asketische Praxis und passt schlecht zur Selbstbeweihräucherung.“ Elster erwähnt hier das „Unbenennbare“, was uns zu Wittgenstein zurückbringt: Aufrichtigkeit und Authentizität lassen sich nicht sagen, sondern nur zeigen, indem man sie praktiziert; eine Lektion, die dem Authentizitätskult, der unsere Kultur seit den 1950ern durchdringt, einen schweren Schlag versetzt.

Könnte man – in Anlehnung an Bertrand Russells berühmten Seitenhieb gegen Wittgenstein (dem es, so Russel, gelinge, eine ganze Menge über das Unsagbare zu sagen) – nicht sagen, dass es Elster ebenfalls gelingt, eine ganze Menge über die Dimension zu sagen, die er für „unbenennbar“ erklärt? Dieser Vorwurf geht jedoch an der Sache vorbei. Natürlich können wir darüber sprechen, was eine Rede anzeigt, aber

nicht in der ersten Person: Ich kann mich nicht selbst als authentisch oder würdevoll bezeichnen. Wenn ich das tue, untergrabe ich meine Authentizität oder Würde, die sich nur in meinem Handeln zeigen kann. Die Aussage „Es gibt keine Metasprache“ ist genau in diesem Sinne zu verstehen: Ich kann meine Aussageposition (die gegebenenfalls Würde anzeigen kann) nicht in meinen eigenen geäußerten Inhalt einbeziehen.



Nationalismus und Cancel Culture


Und gilt nicht etwas Ähnliches auch für die beiden Pole des heutigen globalen politischen Raums, den autoritären Nationalismus und die Cancel Culture? Am 29. September 2023 kündigte der russische Außenminister Sergej Lawrow – wie MSN berichtet – an, dass Moskau zu Gesprächen über die Ukraine bereit

sei, wenn diese die Situation vor Ort und die Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigen würde. Das bedeutet: Wir sind zu Friedensverhandlungen bereit, sofern die Ukraine akzeptiert, dass die von

Russland besetzten Gebiete zu Russland gehören, und sofern sie ihre Politik radikal ändert (Russland fordert die „Entnazifizierung“ der Ukraine), kurzgesagt: sofern die Ukraine kapituliert. Der westlich-liberale Ansatz wird von antikolonialen Kritikern oft in die gleiche Richtung problematisiert: Für die westlichen Liberalen wird der

demokratische Austausch in Begriffen formuliert, die insgeheim die Logik der westlichen Demokratie und Freiheit erzwingen, sodass der Beitritt zum liberalen Pluralismus effektiv auf eine Kapitulation vor westlichen Werten hinausläuft. Lawrow setzt die von antikolonialen Kritikern problematisierte Logik in

ihrer reinen Form durch. Im Sinne Wittgensteins spricht Lawrow von Verhandlungen, aber was er mit seiner Rede zeigt, ist das genaue Gegenteil von Verhandlungen, nämlich eine brutale, exklusive Durchsetzung der eigenen Position.

In diesem Sinne kann ich mir gut vorstellen, dass Hegel einen mehrfachen intellektuellen Orgasmus hätte, wenn er die (für ihn) offensichtliche Notwendigkeit der Umkehrung von Inklusion und Vielfalt in ein

Verfahren der systematischen Ausgrenzung aufzeigen würde: „Wie lange können Teile der liberalen Linken

noch behaupten, dass ‚Cancel Culture‘ nur ein Hirngespinst der Rechten ist, während sie herumlaufen und Konzerte, Comedy-Shows, Filmvorführungen, Vorträge und Gespräche absagen?“ Was die „Cancel Culture“ durchdringt, ist eine „Nicht-Debatten-Haltung“: Nicht nur wird eine Person oder Position

ausgeschlossen, sondern was ausgeschlossen wird, ist die Debatte selbst, die Gegenüberstellung von Argumenten für oder gegen den Ausschluss. Hegel hätte hier dasjenige mobilisiert, was Lacan die Kluft zwischen dem geäußerten Inhalt und der Haltung, die der Äußerung zugrunde liegt, genannt hat: Man

argumentiert für Vielfalt und Inklusion, aber man tut dies, indem man all jene ausschließt, die sich nicht vollständig der eigenen Definition von Vielfalt und Inklusion anschließen. Man schließt also permanent Menschen und Positionen aus.


Verkehrte Verhältnisse


Auf diese Weise entsteht im Kampf für Inklusion und Vielfalt eine Atmosphäre des stasiähnlichen Misstrauens und der Denunziation, in der man nie weiß, wann eine private Bemerkung dazu führt, dass man aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen wird. Ist das nicht die extreme Version des Witzes über den

Verzehr des letzten Kannibalen? „In unserer Gruppe gibt es keine Gegner von Vielfalt und Integration; wir haben den letzten soeben ausgeschlossen.“ Um es noch einmal in Wittgensteinschen Worten zu sagen: Cancel Culture spricht zwar von Vielfalt und Inklusion, zeigt aber eine Haltung der extremen Ausgrenzung.

Eine solche Umkehrung von Inklusion in Exklusion gehorcht auch einer tiefen Hegelschen Dialektik, nämlich der Umwandlung einer äußeren Bedrohung in einen immanenten Antagonismus, wie Elster treffend in Bezug auf die heute in Mode gekommene Vorstellung von der bedrohten Demokratie feststellte: „Wir können das gängige Diktum, dass die Demokratie bedroht ist, umkehren und behaupten, dass die Demokratie die Bedrohung ist, zumindest in ihrer kurzfristigen, populistischen Form.“ Genau wie im Fall von Cancel Culture: Auch hier liegt die Bedrohung für Inklusion und Vielfalt gerade in der Inklusion und Vielfalt selbst, wenn diese auf eine Weise praktiziert werden, die extreme Ausgrenzung – im Sinne Wittgensteins – zeigt. •








Vorteil China


Gerade wenn wir unseren Blick auf das richten, was wir nicht wissen, unsere Annahmen und Vorurteile also, wird deutlich, dass das Vorgehen Chinas (sowie auch Taiwans und Vietnams) in der Pandemie deutlich besser war als das Europas und der Vereinigten Staaten. Einer ständig wiederholten Behauptung bin ich deshalb besonders leid. Sie lautet: „Sicher, die Chinesen haben das Virus zwar sehr effektiv eingedämmt, aber zu

welchem Preis?“ Während uns nur ein Whistleblower die ganze Wahrheit darüber erzählen könnte, was dort wirklich vor sich ging, ist eines klar: Nachdem das Virus in Wuhan ausbrach, verhängten die chinesischen Verantwortlichen einen harten Lockdown, stoppten den Großteil der wirtschaftlichen Produktion im Land und stellten so den Schutz von Menschenleben eindeutig über ökonomische Interessen.

Zugegeben geschah das mit einiger Verzögerung, dennoch wurde die Krise hier extrem ernst genommen. Diese Strategie bewährt sich nun und China erntet die Früchte dafür, auch wirtschaftlich. Um es allerdings an dieser Stelle ganz klar zu sagen: Das war nur möglich, weil die Kommunistische Partei immer noch in der Lage ist, die Wirtschaft zu kontrollieren und regulieren. Die Marktmechanismen werden also politisch kontrolliert, auch wenn es sich dabei um eine „totalitäre“ Form der Kontrolle handelt. Die Pandemie ist nicht nur ein viraler Prozess, sondern auch ein Prozess, der sich innerhalb eines ökonomischen, sozialen und ideologischen Koordinatensystems abspielt, das offen für Veränderungen ist.

Laut der Theorie komplexer Systeme haben solche Systeme zwei gegensätzliche Eigenschaften: Sie verfügen über eine robuste Stabilität, sind gleichzeitig aber auch extrem verwundbar. Derartige Systeme können sich also an massive Störungen anpassen, diese integrieren und so ein neues Gleichgewicht, eine neue Stabilität erzeugen – jedoch nur bis zu einem bestimmten Kipppunkt. Ab diesem Kipppunkt können wiederum auch kleinste

Störungen eine totale Katastrophe auslösen, die eine völlig neue Ordnung erfordern. Über Jahrhunderte hinweg musste sich die Menschheit keine Sorgen um die Auswirkungen ihrer Wirtschaftsweisen auf die Umwelt machen, weil sich die Natur an das Ausmaß der Abholzungen, dem Gebrauch von Kohle und Öl usw. anpassen konnte. Allerdings scheint es nun so zu sein, dass wir uns einem solchen Kipppunkt nähern – obschon man hier nicht ganz sicher sein kann, da diese erst dann wirklich zu identifizieren sind, wenn es bereits zu spät ist.



Es gibt keinen Mittelweg


Im Hinblick auf die Dringlichkeit, mit der wir den verschiedenen drohenden ökologischen Katastrophen begegnen müssen, befinden wir uns also in einem Dilemma: Entweder wir nehmen die Bedrohungen ernst und beschließen jetzt zu handeln, was, wenn die Katastrophe

nicht eintritt, im Nachhinein lächerlich erscheinen mag. Oder wir tun nichts und verlieren im Falle der Katastrophe alles. Wobei die schlechteste Wahl in der eines Mittelwegs bestünde, bei der wir nur eine begrenzte Anzahl an Maßnahmen ergriffen. In

diesem Fall würden wir nämlich als Verlierer dastehen, ganz gleich, ob es zur Katastrophe käme oder nicht. Das Problem ist nämlich, dass es in Bezug auf die ökologische Krise schlicht keinen Mittelweg gibt: Entweder sie tritt ein oder sie tritt nicht ein. In einer solchen Situation wird das Gerede von Prognosen, Vorsorge und Risikokontrolle schlicht und ergreifend bedeutungslos, da wir es mit den „unbekannten Unbekannten“ zu tun haben: Wir wissen nicht nur nicht, wo der Kipppunkt liegt, wir wissen überdies nicht einmal, was wir über ihn noch alles nicht wissen.

Der beunruhigendste Aspekt der ökologischen Krise hat allerdings mit dem sogenannten „Wissen im Realen“ zu tun, das zu einem Dominoeffekt führen kann: Wenn Winter zu warm werden, deuten Pflanzen und Tiere diese Temperaturen im Februar fälschlicherweise als

Zeichen dafür, dass der Frühling bereits begonnen hat und fangen an, sich entsprechend zu verhalten, wodurch sie nicht nur selbst anfällig für spätere Kälteeinbrüche werden, sondern auch den gesamten ökologischen Kreislauf durcheinanderbringen. Exakt so sollten wir uns nämlich eine mögliche Katastrophe vorstellen: Störungen im Kleinen, die global verheerende Folgen haben.

Wir täten also gut daran, hielten wir uns im Fall Donald Rumsfelds an die alte lateinische Weisheit „de mortuis nihil nisi bene“ („von Verstorbenen soll man nur Gutes sagen“). Wir sollten all seine katastrophalen Entscheidungen ignorieren und uns an ihn als einen Amateurphilosophen erinnern, der einige Unterscheidungen einführte, die für die Analyse unserer misslichen Lage hilfreich sind. •







Wissenschaft kommuniziert

Wer? Warum? Wie? – Und wie besser nicht? — Ansichten und Einsichten zur Wissenschaftskommunikation – aus praktischer und gesellschaftspolitischer Sicht.


„Wir haben dramatische Vermittlungsprobleme“

Posted on 7. Februar 2017


Teil 2 des „Wissenschaft kommuniziert“-Gesprächs mit DFG-Präsident Prof. Dr. Peter Strohschneider Wissenschaft und Kommunikation



für meine Literaturwissenschaft sagen: Das, wo die eigentlich texttheoretischen Forschungsprobleme liegen, das kann ein Germanistikstudent im Studium kaum erfahren. Ich kann ihm das von Außen zeigen, aber er wird kaum wirklich eindringen können. Also der Abstand zwischen dem, was sich im Studium normalerweise vermitteln lässt und den Frontiers of Research wächst ständig.


Und schon dies zeigt, wie dramatisch die Vermittlungsprobleme, die Abstände geworden sind zwischen den Fronten der Forschung und dem, was sich gesellschaftlich allgemein vermitteln lässt. Die Gesellschaft wiederum nimmt diese Abstände natürlich als eine Form von Mandarintum wahr. Früher war der Mandarin sozial unnahbar. Was wir heute haben ist eine Art von kognitiver Unnahbarkeit. Wer in siebendimensionalen Räumen Mathematik macht, wie soll der eine allgemeine Nahbarkeit erzeugen für das, was ihn als Problem mathematisch interessiert?


Nun existiert bei der Kommunikation in der Gesellschaft ja auch ein höchst lebendiger Wettbewerb: der Wettbewerb um Aufmerksamkeit, um Wahrnehmung. Wird das nicht zu einem gefährlichen Punkt, gerade wenn die Wissenschaft stärker von der gesellschaftlichen Autonomietoleranz abhängig wird?

Auf jeden Fall ist das ein Punkt, an dem man lernen muss. Zum Beispiel, was ich selbst in Interviews immer wieder erlebe, wie die Eigenlogik, die sich aus der Ökonomie knapper Aufmerksamkeit ergibt eine ganz andere ist als die Logik des Problemaufbaus, die im wissenschaftlichen Diskurs herrschen muss.

Um aber noch einen ganz anderen Aspekt hier einzubringen: Es ist zugleich ja auch so, dass auf allen Ebenen von Wissenschaft die Wettbewerblichkeit immer stärker ausgebaut wird – nicht nur der Ideenwettstreit, den es seit den Sokratikern gibt, sondern auch der marktförmige Wettbewerb – dass auch innerhalb der Wissenschaft selbst Aufmerksamkeitsökonomie immer wichtiger wird. Das Publikationswesen


der Naturwissenschaften beispielsweise mit zwei privilegierten Zeitschriften und vielen danach, die nicht die gleiche Reputation haben, ganz abgesehen von den bibliometrischen Aggregationen dieses Publikationssystems, auch das ist ein System knapper Aufmerksamkeit, das nicht mehr wirklich anders funktioniert als das Mediensystem. Und darin sehe ich ein Problem, da damit etwas anders ins Spiel kommt als der Wahrheitsanspruch, der Wissensanspruch und der Neuheitsanspruch der Wissenschaft – nennen wir es „Hype“.

Problem erkannt. Da stellt sich die Frage: Wird in der deutschen Wissenschaft genug getan, um das Problem der gesellschaftlichen Kommunikation beherrschen und bewältigen zu können? Schließlich geht es letztendlich ja um die Frage, ob Wissenschaft weiter erfolgreich arbeiten kann.

Was die innerwissenschaftlichen Prozesse angeht, die ich gerade angesprochen habe, gibt es sicherlich eine deutlich verschärfte Problemwahrnehmung in der Wissenschaft. Da ist die Lage heute ganz anders als vor fünf Jahren – sehr viel differenzierter und kritischer.


Im Verhältnis zur Gesellschaft muss ich mich auf meine Intuition stützen. Und da würde ich sagen, es kommt nicht so sehr darauf an, ob man mehr oder weniger tut, sondern eher, ob man dieses oder anderes tun kann. Da kommt es wohl sehr viel stärker auf die richtige Form der Kommunikation an. Man muss da sehr gut unterscheiden, was man mit der Kommunikation erreichen will. Wenn ich etwa Kinder, Schüler oder Heranwachsende an die Wissenschaft heranführen möchte, dann würde man eher eine Kommunikationsform wählen, die das Faszinationspotenzial von Forschen erschließt. Wenn ich gesellschaftspolitisch für die


Wissenschaft argumentieren möchte, dann muss ich mit etwas Anderem arbeiten als mit dem Faszinationspotenzial. Wenn ich gesellschaftliche Plausibilität von Wissenschaft herstellen möchte, muss ich anders operieren als wenn ich unterhaltsam sein will. Ich argumentiere hier nicht für oder gegen das eine oder andere. Was ich meine ist, wir müssen sehr präzise die jeweiligen Adressaten bei der Wahl der Kommunikationsformen bedenken, die sich die Wissenschaft zueigen macht. Und da würde ich sagen, ist das Wissenschaftssystem in Deutschland nicht besonders gut aufgestellt.


Mir fällt auf, bei den vielen Veranstaltungen zur Wissenschaftskommunikation, die ich besuche, sind nur ganz wenige Wissenschaftler zu finden, für die ja kommuniziert werden soll. Wird das Problem Kommunikation in der Wissenschaft nicht unterschätzt?

Das kann einem auffallen. Ich bin da auch kaum zu sehen. Ich engagiere mich in zwei Jurys, die Preise für Wissenschaftsjournalismus vergeben. Aber ich selbst partizipiere an der Wissenschaftskommunikation eher von Außen.

Unterschätzt die Wissenschaft das Problem Kommunikation? Ich würde sagen Ja und Nein. Der Wissenschaftsjournalismus steht auf jeden Fall mächtig unter Druck. Und man kann diesen Druck bereits an der abnehmenden Dichte und Qualität der Berichterstattung beobachten. Das ist ein großer Nachteil, gerade auch für die Wissenschaft. Die Wissenschaft ist darauf angewiesen, dass das, was sie tut, von einem emphatischen Journalismus kundig und kritisch begleitet wird. Sie braucht einen Sparingspartner.


Kommunikation über Journalisten ist aber nur ein Weg. Angesichts der wachsenden Bedeutung der Sozialen Netzwerke, muss man da nicht über alternative Wege der Kommunikation mit der Gesellschaft nachdenken? Und dann ist dies auch nur die eine Richtung. Wie steht es um die Wahrnehmung der Gesellschaft in der Wissenschaft?

Das ist sicher so. Und darüber mache ich mir nur „handgestrickte“ Gedanken. Das ist nicht ein Thema, in dem ich mich wirklich sachkundig fühle.

Aber immerhin: Sie machen sich Gedanken darüber. Wie viele Ihrer Kollegen tun dies noch?

Meine Antwort darauf ist ein bisschen polemisch, ich denke aber, nicht sehr polemisch: Eine der Funktionsbedingungen moderner Wissenschaft, insbesondere in den Naturwissenschaften, ist es, eine Spezialisierung voranzutreiben, die in dem Maße, in dem sie betrieben wird, nur geht, wenn ich alles andere weglasse. Dazu gehören die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen von Forschung – die hat die moderne Naturwissenschaft in eine separate Erkenntnistheorie ausgelagert. Sie macht sich frei von ihnen und kann sich deswegen weiter spezialisieren.


Dazu gehören aber auch die Folgen, die Verantwortung, die gesellschaftliche Kommunikation von Wissenschaft. Moderne experimentalwissenschaftliche Forschung ist extrem voraussetzungsfrei und extrem kompetitiv. Nehmen wir die molekulare Zellbiologie. Wenn Sie irgendeine neue Erkenntnis haben und Sie wissen, es gibt noch zwei Konkurrenten weltweit. Da ist es wirklich entscheidend, ob Sie „Science“ in dieser Woche erreichen oder erst in drei Wochen. Entscheidend ist dies nicht nur für ein symbolisches Kapital der Person oder der Institution, etwa für die Entdeckerehre, sondern für Nutzungsrechte, für Haftungsfragen, für den ökonomischen Ertrag des Ganzen. Ich will das gar nicht rechtfertigen, sondern exemplarische Strukturbedingungen andeuten, bei denen man schnell sieht, dass die Auslagerung all dessen, was die Wissenschaft mit der Gesellschaft verbindet, in vielerlei Hinsicht zu einem Tunnelblick führen kann, der die Spezialisierung ermöglicht.

Den Tunnelblick gibt es in den Geisteswissenschaften natürlich auch. Und er gehört dazu: Es gibt in Max Webers berühmter Rede über Wissenschaft als Beruf einen Passus, wo er diesen Tunnelblick an der Philologie vorführt. Da sagt er: Wer nicht bereit ist, an die Frage, ob bei der Handschrift an einer Stelle diese Konjektur oder eine andere anzubringen sei, sein Leben daran zu geben, der lasse die Finger von der Wissenschaft.

Der Tunnelblick ist eine Konstitutionsbedingung moderner Wissenschaft generell. Er spielte keine Rolle, solange die Gesellschaft das hohe Maß an Autonomietoleranz aufgebracht hat, hingenommen hat, dass es diese „weltfremden“ Leute gibt. Das tut Sie aber nicht mehr angesichts der wachsenden Bedeutung und des Gewichts, das Wissenschaft für die Gesellschaft gewonnen hat. Auf jeden Fall nicht mehr in der Weise, wie das einmal der Fall war. Und wenn ich mir die Berichterstattung in den Medien über Naturwissenschaften ansehe, dann habe ich als interessierter, aber sachunkundiger Leser relativ wenig davon, da sie mir kaum Kontext bietet, sie nimmt kaum Einordnung vor. Es ist weithin eine Berichterstattung für Spezialisten. Das heißt, der Tunnelblick wird in der Außendarstellung und in der Wahrnehmung von Außen fortgesetzt.

Sie heben sehr stark auf den Wissenschaftsjournalismus ab. Muss bei der Frage Kommunikation der Wissenschaft mit der Gesellschaft nicht der Blick geweitet werden, bis hin zum Verhalten der Wissenschaft und natürlich Internet und Soziale Medien?

Ich habe vorhin ja schon etwas zu den Verheißungen der Wissenschaft gesagt. Zum Verhalten der Wissenschaft halte ich es für zwingend, dass sie die Unsicherheit ihres Wissens mitkommuniziert. Das gilt nicht nur für die Auseinandersetzung um den Klimawandel, sondern auch in anderen Bereichen, etwa für den Rat der Wirtschaftsweisen in Deutschland. Das ist ein wissenschaftliches Beratungsgremium der Politik, das kaum je die Ungewissheit seines Wissens mitkommuniziert. Und das ist ein Problem. Denn es führt zu den Abwehrreaktionen, von denen wir bereits gesprochen haben, die dann alle Formen von Expertise und Elitismus in den gleichen großen Topf werfen.


Natürlich gibt es in der Wissenschaft Mandarin-Verhalten, natürlich gibt es Desinteresse, natürlich gibt es auch eigennützige Politik in den Wissenschaftsorganisationen, die sagen „drei Prozent für mich und der Rest ist mir egal“. Das kann man alles kritisieren, aber das ist noch keine Antwort auf die Frage: Tut die Wissenschaft genug oder was wäre das Richtige zu tun? Und das kann ich abstrakt leider nicht beantworten.

Wenn man diese Defizite erkannt hat, warum sucht man nicht Hilfe? Warum misst man der Wissenschaftskommunikation und den professionellen Kommunikatoren dann nicht einen höheren Stellenwert zu als die Wissenschaft dies heute tut?

Was die Wissenschaftskommunikation betrifft, kann die DFG für sich in Anspruch nehmen, ziemlich aktiv zu sein. Doch im Wissenschaftssystem gibt es die Gratifikationen nicht für Kommunikation, sondern für Papers. Darunter leiden alle anderen Funktionen, etwa die akademische Lehre, darunter leiden etwa Transferbereiche und darunter leidet auch die Wissenschaftskommunikation. Das Problem ist, abstrakt gesprochen, dass ein polyfunktionales System vor allem über einen Parameter gesteuert wird. Und das sind wissenschaftliche Publikationen.


Ist das gut für die Wissenschaft?

Nein, das ist nicht gut für die Wissenschaft. Da bin ich eindeutig. Forschung ist nicht alles, nicht einmal alles in der Wissenschaft – das kann ich auch als Präsident einer Forschungsförderorganisation sagen. Es gibt auch andere Dimensionen für die Wissenschaft als die Forschung allein. Andere Wissenschaftssysteme tun sich mit solchen Dimensionen leichter als wir. Beispiel USA: Das amerikanische Universitätssystem gehört zunächst einmal zum Higher-Education-Sektor und nur ein kleiner Teil dieses Systems wird über Forschung und Forschungs-Output gesteuert. Es tut sich an vielen Stellen, beispielsweise bei der Karriereentwicklung, an vielen Stellen des akademischen Unterrichts und der Qualität des Studiums, viel leichter als die deutschen Universitäten. Andererseits ist die Tradition der Humboldt’schen Forschungsuniversität bei uns, so sehr die zerrüttet sein mag, doch auch eine Gegebenheit unter der wir in Deutschland Politik machen. Und man muss auch bedenken, dass die bildungsbürgerlichen Milieus, in denen es klar war, was und wofür Wissenschaft da ist, dass diese Milieus in unser Gesellschaft erodieren.


Die Wissenschaft hat sich nicht nur selbst von der Gesellschaft wegbewegt, im Rahmen ihrer Spezialisierung, sondern sie verliert auch ihren gesellschaftlichen Außenbezug durch sozialstrukturellen Wandel in der Gesellschaft. In dem Maße, in dem die Verbindlichkeit eines Wissenskanon im Gymnasium zurückgeht, in dem Maße bekommt auch das Wissenschaftssystem auf seiner Reproduktionsseite immer weniger Leute, die mit dem wissenschaftlichen Wissen etwas anfangen können. Ein Beispiel: Es gibt relativ wenig naturwissenschaftlich gebildete Literaturwissenschaftler, es gibt auch relativ wenige gesellschaftswissenschaftlich gebildete Physiker. Die epistemische Spezialisierung der Wissenschaft bildet sich auch auf der sozialen Seite ab. Die Spannungen innerhalb des Wissenschaftssystems werden immer größer und die bildungsbürgerlichen Resonanzräume verfallen. Das ist deswegen von Belang, weil die deutschen Universitäten nicht darüber laufen – wie die guten amerikanischen Privatuniversitäten – dass sie im wesentlichen die Selbstreproduktions-Einheiten einer sehr zahlungskräftigen ökonomischen Elite sind.




??? - ansehen: After the rediscovery of a 19th-century novel, our view of black female writers is transformed




127 Über Wissenschaft in Zeiten des Populismus Rede auf der Festveranstaltung im Rahmen der Jahresversammlung 2017 der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Halle an der Saale, 4. Juli 2017


Fakten, für wissenschaftliche Evidenz, für Wahrheit in der Politik�“5


Das ist die Parole der Szientokratie. Sie verwechselt unzweideutige Fakten mit ambivalenten politischen Folgerungen� Sie verkennt, dass keineswegs für alle dasselbe evident ist. Sie sieht politische Macht durch Wahrheit anstatt durch Mehrheit und Verfassung legitimiert� Und gleich den Autokraten und Populisten, gegen die sie sich wenden will, ist sie „ihrer inneren Logik nach antipluralistisch“ 6�



Doch in den Streit für die pluralistische Moderne und gegen vulgäre For- schungsfeinde eintreten können Studenten, Wissenschaftlerinnen, Forscher


4 Peter Strohschneider: Haltet den Lügner! In: Der Spiegel, Nr� 16 (15�4�2017), S� 109� 5 Kathrin Zinkant: „Auf die Barrikaden!“ In: Süddeutsche Zeitung, Nr� 35 (11�/12�2�2017)� 6 Jan-Werner Müller: Was ist Populismus? Ein Essay� Berlin 2016, S� 115�


130 allein dann, wenn sie sich nicht als Instanz des Wahrheitsbesitzes verstehen, sondern als diejenige der rationalen, methodischen Suche nach Wahrheit� Un- ser Wissen steht unter Revisionsvorbehalt – allein dann ist ja an Erkenntnis- fortschritte zu denken; wir müssen kollektiv bindende Entscheidungen zwar informieren, können sie aber nicht selbst treffen� Und allein wenn wir uns in dieser Weise ernst nehmen, können wir unser Teil dazu beitragen, dass die Un- terscheidung von Wahrheit und Lüge auch in Zukunft auf Sachfragen bezogen wird anstatt auf Machtfragen�


3. An dieser Stelle liegt eine entscheidende Verantwortung moderner Wissen- schaften� Ihr können sie allein gerecht werden, wenn sie auch mit sich selbst verantwortlich umgehen.


Damit ist ein sehr weites Feld angesprochen – von der Qualität des Studi- ums bis zur Chancengleichheit, die ein wichtiges Thema auch dieser Jahres- versammlung ist� Ich will mich allerdings auf zwei Aspekte verantwortlicher Wissenschaft konzentrieren: die Seriösität der Erkenntnisgewinnung und die Seriösität unserer Leistungsversprechungen gegenüber der Gesellschaft� Gute wissenschaftliche Praxis: Dies ist der Titel für ein komplexes Problem- bündel heutiger Wissenschaft� Zu ihm gehören Plagiat und Fälschung, Autor- schafts- und Zitierungsfragen, aber auch laxe und überhastete Forschungswei- sen und zudem all das, was derzeit als Krise der Replizierbarkeit empirischer Forschung mit breiter, auch öffentlicher Aufmerksamkeit intensiv diskutiert wird�


Dabei geht es um Standards wie um Anstand: Was sich von selbst verstehen sollte, ohne es doch immer zu tun, wird formal reguliert und prozeduralisiert� Das ist notwendig und aller Anstrengung wert� Es eröffnet indes – unhintergeh- bare Paradoxie jeder Formalisierung – zugleich neue Felder persönlicher Aus- einandersetzung: Der Anonymitätsschutz des Whistleblowing ist wichtig, weil er Hierarchieschranken zu durchbrechen erlaubt� Aber gegen den Missbrauch für Insinuation und Denunziation ist er nicht gefeit� Und so kann es unter dem taktisch gezielten Einsatz von Zeitdruck und Publizität auch dahin kommen, dass Personen oder Organisationen in die Lage geraten, so oder so allein noch falsch handeln zu können�


So befand sich die DFG, als sie im März die Verleihung des Leibniz-Preises an Frau Nestler aussetzte� Das war eine schwere Entscheidung, und sie war auch für Frau Nestler schwer zu ertragen� Gleichwohl hoffe ich, dass Sie sie, wenn schon womöglich nicht billigen, so doch nachvollziehen können� Jeden- falls freut es mich sehr von Herzen, dass wir vorhin die Preisverleihung haben nachholen können�


131 Dennoch muss der Vorgang zu denken geben� Denn auch die Erhebung un- gerechtfertigter Vorwürfe in der Art und Weise, wie sie Frau Nestler widerfah- ren ist, gehört in die Symptomatologie jener Dysfunktionen von Wissenschaft, von denen ich hier spreche� Diese Dysfunktionen haben stets eine persönliche Ebene, und im Fehlverhaltensfall muss dann auch individuell sanktioniert wer- den� Aber sind wir denn gewiss, dass solche Konflikte sich nicht besorgniser- regend häufen und dass angesichts dessen nicht auch Entwicklungstrends des Wissenschaftssystems selbstkritisch zu bedenken sind? Der Senat hat gestern über eine Stellungnahme der DFG hierzu diskutiert� Sie versucht differenziert deutlich zu machen, dass Nicht-Replizierbarkeit eines Resultats dieses weder widerlegt noch schon in jedem Fall schlechte Wissen- schaft beweist; dass sehr wohl allerdings, was unterdessen „Reproduktionskrise“ heißt, auch dann zu ernster Sorge Anlass gibt, wenn es „auf eine Mehrzahl von Ursachen zurückzuführen“ ist� Es ist hier ein „Qualitätsproblem von Forschung“ angezeigt, und für dieses gibt es „neben individuellem Fehlverhalten […] strukturelle Gründe“�7 Auch über sie ist zu sprechen� Also etwa über das viel zu große Gewicht „von quan- titativ parametrisierenden Steuerungs-, Bewertungs- und Gratifikationssyste- men“, das sich längst „auf die Forschung als gestiegener (und weiter steigender) Wettbewerbs- und Beschleunigungsdruck aus[wirkt]�“


Auch werden Trennlini- en zwischen wissenschaftlichem Ideenwettbewerb, Konkurrenz um Finanzmit- tel und dem Marketing von Wissenschaftseinrichtungen zunehmend unscharf� „Die notwendige skrupulöse Sorgfalt“ in der Forschung „muss eher gegen diesen Wettbewerbs- und Beschleunigungsdruck durchgesetzt werden, als dass sie von ihm befördert würde�“ Und dies muss uns allen zu denken geben, die wir für die Wissenschaften Verantwortung tragen: im Publikationswesen, bei Personal- fragen und auch – ich sage dies durchaus in meiner Amtsfunktion – bei Finan- zierungsentscheidungen

Ich fürchte, das hier angedeutete Qualitätsproblem der Forschung ist gravie- rend� Es ist zugleich ein Vertrauensproblem moderner Wissenschaft überhaupt

Diese aber kann ohne die Glaubwürdigkeit der Forscherinnen und Forscher und ohne die Vertrauenswürdigkeit des Wissenschaftssystems insgesamt nicht funktionieren – zu komplex ist ihr Wissen, zu weltverändernd seine Kraft Das populistische Experten-Bashing untergräbt dieses Vertrauen gezielt� Des- wegen muss es zurückgewiesen werden� Doch haben wir uns auch einzugeste- hen, dass wir es ihm in mancher Hinsicht auch zu leicht machen – wegen Fällen


7 Hiernach und im Folgenden: Replizierbarkeit von Forschungsergebnissen� Eine Stellungnahme der DFG� April 2017�


132 kritikwürdiger Forschungspraxis, aber auch, weil wir aufs Ganze gesehen mehr verheißen, als wir erfüllen können�

Diese Vollmundigkeit liegt freilich nahe: Ansprüche an die direkte und kurz- fristige Effektivität wissenschaftlichen Wissens wachsen ebenso wie die Härte der Verteilungskämpfe, und dies lädt geradewegs dazu ein, immer Größeres zu versprechen und die Nebenwirkungen kleinzureden� Allzu oft wurde die Energiefrage schon abschließend technisch gelöst, und der Segen individuali- sierter Medizin wird so beredt beschrieben, wie die sozioökonomischen Vertei- lungsprobleme beschwiegen werden, mit denen sie einhergehen wird� Solche Verheißungen sind riskant.


Sie bergen die Gefahr struktureller Selbstüberforderung von Wissenschaft� Sie wecken Erlösungshoffnungen, die jedenfalls kurzfristig eher enttäuscht werden. So wird das gesellschaftliche Ansehen von Wissenschaft jedoch nicht gestei- gert, sondern gemindert: Unerfüllte, gar unerfüllbare Verheißungen erzeugen Glaubwürdigkeitslücken� Vertrauen aber erhalten und gewinnen wir allein, wenn auch die Voraussetzungen und Grenzen jedes Wissensanspruchs offen- gelegt werden, wenn die Differenzen zwischen sorgfältiger Forschungspraxis und alltäglichem Handeln deutlich gezogen werden und wenn die Leistungs- versprechungen der Forschung seriös sind – weniger ist hier mehr� Meine zwei Beispiele – verkürzt, wie ich sie darstellte – sind Aspekte einer kritischen Diagnose unseres Wissenschaftssystems� Ich fürchte, dass wir uns ihr ernsthaft stellen müssen, und ich glaube, dass wir das in reflektiertem Selbst- bewusstsein auch können� Und wenn die angedeutete Diagnose wenigstens in die richtige Richtung weisen sollte, dann ist sie individuell ebenso zu bedenken wie bei der institutionellen Gestaltung des Wissenschaftssystems� Wissenschaft – befasst mit dem Noch-Nicht-Gewussten und mit der Störung etablierten Wissens durch neue Erkenntnisse – kann nicht funktionieren ohne die Redlichkeit derer, die sie betreiben.

Diese Redlichkeit ergibt sich als Verpflichtung auf die Integrität von For- schung aus der Freiheit, die ihr garantiert ist; und sie verbindet sich mit einer wissenschaftlichen Haltung, die entscheidend durch Selbstdistanz geprägt ist� Wer heute nämlich Wissenschaft betreibt, der tut dies in höchst komplexen, höchst dynamischen, höchst spannungsreichen Kontexten. Und das kann al- lein gelingen, wenn man den Ort der je eigenen wissenschaftlichen Speziali- sierung zu bestimmen vermag, wenn man der eigenen Erkenntnisleidenschaft nicht völlig ausgeliefert ist und wenn man von der Bedeutung des eigenen wis- senschaftlichen Tuns überzeugt bleibt, gerade unter Beachtung seiner Grenzen� Dies erfordert eine Haltung offener Ehrlichkeit und der wachen Irritierbarkeit durch die Welt und das, was andere über sie wissen, sowie die Fähigkeit, von 133 sich selbst auch Abstand nehmen zu können, also die eigene Expertise nicht schon für das Ganze von Wissenschaft zu halten, die methodische Verlässlich- keit wissenschaftlichen Wissens nicht mit so etwas wie absoluter Gewissheit zu verwechseln, und zu wissen, dass Forschung zwar über gesellschaftliche und politische Diskurse informieren muss, aber nicht an ihre Stelle treten kann� Szientokratie, wie ich sie vorhin kritisch kommentiert habe, wäre übrigens gerade der Kollaps dieser Fähigkeit zur Distanznahme

Daneben braucht es freilich auch Bedingungen, die solche Sorgfalt und Red- lichkeit, diese Haltung der Irritationsbereitschaft und Selbstdistanzierung be- günstigen� Damit sind wir bei der sozialen Organisierung der Wissenschaften Und leicht ließen sich viele praktische und selbst politische Fragen auch auf die angesprochene Diagnose beziehen

An der Grundfinanzierung der Universitäten hängt ja auch die Frage, ob es hier – wie in der außeruniversitären Forschung auch – Räume gewährten Vertrauens gibt, die im Interesse bester Forschung vom steten Finanzierungs- wettbewerb und von ununterbrochener individueller accountability (die sich ja längst zu einer Form institutionalisierten Misstrauens entwickelt hat) freigehal- ten sind


Viele Instrumente der Beobachtung und Steuerung von Wissenschaft haben den durchaus unerwünschten Nebeneffekt, dass das Tempo von Forschungs- prozessen und die Größe von Forschungseinheiten geradezu systematisch mit der Qualität von Forschung verwechselt werden

Und womöglich hat solches auch mit einer Art von Überproduktionskrise von Wissenschaft zu tun Jedenfalls – um es polemisch zuzuspitzen – hat doch das Publizieren als wichtigstes Ziel von Forschung eine derartige Dominanz erlangt, dass wir uns anscheinend allein noch mit der Verfeinerung jener Techniken zu behelfen wissen – vom Abstract bis zum Review-Artikel, von der Bibliometrie bis hin zum text mining –, die die Lektüre dessen gerade ersparen, was da publiziert wurde.


Ich führe dies nicht weiter aus, um stattdessen lediglich zu sagen, dass auch die DFG hier Verantwortung trägt� Ihre Projektförderung hilft auch dabei, Red- lichkeit und skrupulöse Sorgfalt der Forschung zu begünstigen; allmählich aus den Aporien der Überproduktionskrise auch wieder herauszuführen; Qualität von Forschung (und Projektplanung) wichtiger zu nehmen als Tempo, Größe oder den Publikationsort, der ja kein Sach-, sondern (wie in der vormodernen Wissenschaft) ein Autoritätsargument ist�


Manches wäre in diesem Zusammenhang zu nennen: etwa die rigide Begren- zung der Zahl der Literaturangaben in Projektanträgen (als eine der wichtigsten 134


Weichenstellungen der DFG im zurückliegenden Jahrzehnt); die Zeit für inhalt- liche Diskussion in den Entscheidungsgremien der DFG; die Neugestaltung des Auswahlprozesses im Gottfried Wilhelm Leibniz-Verfahren ist dafür beispielge- bend; die Unterstützung verschiedener Fachgemeinschaften bei der Entwick- lung spezifischer Standards für die Reproduktion von Forschungsergebnissen; die Frage der Förderung von Reproduktions- und Metastudien; von unserem weiteren Engagement im Ombudssystem, bei der Dual-use-Problematik und manch anderem für diesmal abgesehen�


4. Gerecht werden können die Wissenschaften dem Zusammenhang von Frei- heit und Verantwortung nach meiner festen Überzeugung gerade in Zeiten des populistischen Anti-Intellektualismus und autokratischer Wissenschaftsfeind- schaft nur mit sorgfältiger Selbstbegrenzung und Selbstdistanz – wenn Sie mö- gen: mit Ehrlichkeit und Bescheidenheit� Auf diese Haltung kommt es, wie in der offenen, pluralistischen Gesellschaft und in der konstitutionellen Demo- kratie, auch in den Wissenschaften an. Die Partikularität und also Pluralität jeder wissenschaftlichen Expertise, das Prinzip methodischer Skepsis, die Un- möglichkeit, vom Sein einfach aufs Sollen zu schließen: All dies verlangt uns eine Zurückhaltung ab, ohne die sich bei erhöhtem Außendruck die Herausfor- derungen guter wissenschaftlicher Praxis und die Seriosität von Leistungsver- sprechungen nicht werden bestehen lassen

Was in diesem Zusammenhang an der DFG liegt, ist klar: Als Selbstverwal- tungsorganisation und als Fördereinrichtung, die einen gewichtigen Bereich des wissenschaftlichen Wettbewerbs maßgeblich gestaltet, steht und arbeitet sie für eine Forschung, die großes gesellschaftliches und politisches Vertrauen tat- sächlich verdient; und fördert sie die Unabhängigkeit der Forschenden – ohne die jene die Verantwortung für ihre Forschung gar nicht tragen könnten� Deswegen ist es alles andere als ein Organisationsegoismus, wenn ich Sie bit- te, auch künftig der Deutschen Forschungsgemeinschaft kritisch und engagiert zugewandt zu bleiben.



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Tirschenreuther Teichpfanne




Mattering: Für andere Menschen wichtig sein


Wertschätzung: Bin ich wichtig? Von anderen Menschen gesehen zu werden, ihnen etwas zu bedeuten: Dieses Gefühl, in der Fachsprache »Mattering« genannt, fördert das Wohlbefinden auf vielfältige Weise. Es kann aus frühen Kindheitserfahrungen erwachsen, lässt sich aber auch später noch beeinflussen. Francine Russo Junge Frau wird an ihrem Geburtstag gefeiert © LuckyBusiness / Getty Images / iStock (Ausschnitt) Ein Geburtstagskuchen kann Wertschätzung ausdrücken. (Symbolbild) Exklusive Übersetzung aus Scientific American

In South Carolina verteilt eine trauernde Mutter, deren Sohn Jackson sich das Leben genommen hat, Aufkleber an Jugendliche. Auf dem Aufkleber steht »Jackson Matters and So Do You« – zu Deutsch: Jackson ist wichtig, und du bist es auch. »Du bist wichtig«, so lautet auch der Slogan der US-amerikanischen nationalen Hotline zur Suizidprävention. Und der Satz »Black Lives Matter« macht auf den Rassismus aufmerksam, dem mehr als einer von acht Menschen in den USA ausgesetzt ist.

Seit etwa 30 Jahren – und heute mehr denn je – gilt »Mattering« als ein psychologisches Konstrukt, das viel über die Gesundheit eines Menschen verraten kann: über Depressionen und Suizidgedanken, über weitere psychische Leiden und sogar über die körperliche Widerstandsfähigkeit älterer Menschen. Zunehmend bildet sich der Konsens heraus, dass das Gefühl der eigenen Bedeutsamkeit etwas psychologisch Eigenständiges ist. »Es gibt kein anderes Konstrukt für das menschliche Bedürfnis, sich geschätzt zu fühlen und von anderen als wichtig angesehen zu werden«, sagt Gordon Flett von der York University in Ontario, Autor des Buchs »The Psychology of Mattering« aus dem Jahr 2018.



Mattering überschneide sich zwar mit den Gefühlen von Selbstwert, sozialer Unterstützung und Zugehörigkeit, erläutert der Psychologe. Es sei aber nicht dasselbe. Wenn sich jemand nicht wichtig fühle, lasse sich das vergleichsweise leicht ändern: »Der Mensch kann lernen, sich auf eine Weise auf andere einzulassen, die sein eigenes Gefühl von Wichtigkeit fördert.« »Mattering« kann man messen

1981 entwickelte der US-Soziologe Morris Rosenberg eine fünfstufige »Wichtigkeitsskala« mit Fragen wie »Wie sehr sind andere Menschen von Ihnen abhängig?« und »Wie sehr würden Sie vermisst werden, wenn Sie weggingen?«. Rosenberg, bekannt für seine Rosenberg-Selbstwertgefühl-Skala, testete die Mattering-Skala aber nicht selbst. Anfang der 1990er Jahre schlug er auf einer Jahrestagung dem Soziologen R. Jay Turner bei einem Bier vor, die Fragen in eine große Studie im kanadischen Toronto aufzunehmen. Die Daten aus dieser Umfrage wertete daraufhin sein Student John Taylor, heute Soziologe an der Florida State University, in seiner Doktorarbeit aus.

Taylor leuchtete die Skala intuitiv ein, er zweifelte aber zunächst daran, ob es sich dabei wirklich um etwas Neues handelte oder nur um ein anderes Label für das Selbstwertgefühl. Doch 2001, nach einer von ihm durchgeführten Studie, verschwanden die letzten Zweifel. »Mattering unterscheidet sich von Selbstwertgefühl, sozialer Unterstützung und anderen Faktoren«, sagt Taylor. »Es ist ein wichtiger Teil des Selbstkonzepts.«

In den Folgejahren entstanden immer mehr Mattering-Tests, darunter die »Anti-Mattering-Skala« von Gordon Flett mit Fragen wie »Inwieweit hat man Ihnen das Gefühl gegeben, dass Sie unsichtbar sind?» und die von Ae-Kyung Jung und Mary J. Heppner an der University of Missouri entwickelte »Work Mattering Scale«. Wissenschaftler können daneben auch das Gefühl der Bedeutung für die Familie, die Universität, die Gemeinschaft und die Gesellschaft messen. Eine Skala erfasst sogar die Bedeutung für den Partner oder die Partnerin.

   »Was die Vernachlässigung durch die Eltern so zerstörerisch macht, ist die Botschaft, die sie an das Kind sendet«Gordon Flett, Psychologe

Der Soziologe Gregory Elliott von der Brown University unterscheidet drei Komponenten von Mattering. Erstens »wahrgenommen werden«: Schenken Ihnen die Leute Aufmerksamkeit, oder gehen sie an Ihnen vorbei? Zweitens »wichtig sein«: Haben Sie Menschen, die sich wirklich für Ihr Wohlbefinden interessieren? Und drittens »sich verlassen können«: Gibt es Menschen, die Sie um Hilfe, Unterstützung oder Rat bitten würden?

Das Gefühl der eigenen Wichtigkeit (oder Unwichtigkeit) beginnt in der Kindheit, sagt Flett. »Was die Vernachlässigung durch die Eltern so zerstörerisch macht, ist die Botschaft, die sie an das Kind sendet«, sagt Flett. »Es fühlt sich daraufhin irrelevant, unsichtbar und unbedeutend.« Was Mattering für die Gesundheit bedeutet

Bei Teenagern hat das gravierende Folgen. In einer Studie mit 2000 Jugendlichen aus dem Jahr 2009 stellte Elliott fest: Je weniger Jugendliche das Gefühl hatten, der eigenen Familie wichtig zu sein, desto mehr zeigten sie antisoziales, aggressives oder selbstzerstörerisches Verhalten. Umgekehrt gilt: Wer glaubt, für seine Familie wichtig zu sein, gerät weniger leicht auf die schiefe Bahn. Die Psychologin Robin Kowalski von der Clemson University hat die Beiträge von Teenagern auf der Reddit-Seite »Suicide Watch« ausgewertet. »Etwa die Hälfte hatte das Gefühl, nicht wichtig zu sein«, sagt sie.

John Taylor hatte bereits in seiner Studie von 2001 herausgefunden, dass das Gefühl, anderen wichtig zu sein, mit psychischer Gesundheit einhergeht. 2018 entdeckte er außerdem einen Zusammenhang mit körperlicher Gesundheit. Er und seine Kollegen Michael McFarland und Dawn Carr hatten mehr als 1000 Erwachsene im US-Bundesstaat Tennessee ausführlich befragt und bei ihnen körperliche Maße wie Blutdruck, Kortisolspiegel und Hüft-Taille-Verhältnis erhoben.

Das Team stellte fest, dass die Menschen mit zunehmendem Alter umso stärker gesundheitlich litten, je weniger sie das Gefühl hatten, für andere wichtig zu sein. »Selbst kleine Unterschiede im Mattering sagen die körperliche und geistige Gesundheit besser vorher als soziale Unterstützung«, berichtet Taylor. Soziale Unterstützung gilt als entscheidender Faktor bei der Beschreibung der körperlichen Widerstandsfähigkeit, kann aber auch mit gestörten Beziehungen zur Familie zusammenhängen. »Mattering ist ein besseres Maß«, sagt er. »Es umfasst nur die positiven Effekte von engen persönlichen Beziehungen.«


Der Psychologe Isaac Prilleltensky von der University of Miami meint, das Gefühl von Bedeutung gründe nicht nur auf persönlichen Beziehungen, sondern auch auf Arbeit und Gemeinschaft. Prilleltensky hat für dieses erweiterte Maß seine eigene Skala entwickelt: »Mattering in Domains of Life Scale«. Sie erlaubt einzuschätzen, inwieweit sich ein Mensch wertvoll, anerkannt und geschätzt fühlt und ob er das Gefühl hat, zum Wohl von anderen beizutragen.

Prilleltensky schuf das Bild eines Rads. Im Zentrum steht »Mattering«, dann folgen zwei Halbkreise: »sich wertvoll fühlen« und »Wert schaffen«, die in Wechselbeziehung stehen zum äußeren Kreis, den Bereichen »Selbst«, »Beziehungen« und »Gemeinschaft«. Das Ziel sei, einen positiven Kreislauf zu schaffen, »bei dem die Vorteile des Gefühls der Wertschätzung zur Wertschöpfung führen«, wie er schreibt. Je mehr eine Person das Gefühl bekommt, für andere wichtig zu sein, desto wahrscheinlicher leistet sie einen Beitrag für sie und erntet so wiederum Aufmerksamkeit und Anerkennung.

   Frauen ziehen das Gefühl, wichtig zu sein, mehr aus engen Beziehungen, Männer eher aus ihrem Status innerhalb der Gesellschaft

Mattering-Skalen werden zunehmend auch im Arbeitsumfeld eingesetzt. Ein Team um die Psychologin Julie Haizlip, Professorin für Krankenpflege und Pädiatrie an der University of Virginia, fragte in einer nationalen Umfrage Krankenschwestern und -pfleger nach Burnout-Symptomen. Das Team stellte fest, dass diejenigen, die sich für Patienten und Kollegen wichtiger fühlten, weniger ausgebrannt waren.

»In der Gesundheitsversorgung scheint es mehr um das Zwischenmenschliche als um das Organisatorische zu gehen. Bedeutung erwächst aus den kleinen Dingen«, sagt Haizlip. Dazu kann es gehören, die Hand eines verängstigten Patienten zu halten oder dass die Kollegen das Mittagessen füreinander mitbestellen. In einer aktuellen Studie hat Haizlip herausgefunden, dass es ganz einfach sein kann, ein Gefühl von Wichtigkeit zu vermitteln, etwa indem man sich an die Namen der Studierenden in der Medizin oder Krankenpflege erinnert.

Das Gefühl, von Bedeutung zu sein, hängt auch mit dem Geschlecht zusammen. Frauen berichteten »fast durchgängig« über ein höheres Maß an Wichtigkeit in ihren Beziehungen, sagt Taylor. Das sei schon in den 1990er Jahren so gewesen und heute nicht anders, obwohl sich die Rollen der Frauen verändert haben. Das könnte Sie auch interessieren: Spektrum Kompakt Peinlich! – Scham und Beschämung Peinlich! – Scham und Beschämung

Sowohl Männer als auch Frauen ziehen aus engen Beziehungen ein Gefühl der Wichtigkeit, aber Frauen mehr aus ihrer Rolle als Eltern und enge Freunde, ergab eine aktuelle Studie der Soziologen Rebecca Bonhag und Paul Froese von der Baylor University. Bei Männern entsteht das Gefühl demnach eher daraus, wie sie ihren Status innerhalb einer Gemeinschaft wahrnehmen, zum Beispiel durch Mitgliedschaft in einer Gruppe. Eine Spende an örtliche Organisationen etwa trägt für Männer dazu bei, für Frauen jedoch weniger. Männer, die sich stark als Republikaner identifizierten und in den sozialen Medien aktiv waren, empfanden ein stärkeres Gefühl von Wichtigkeit. Ein solcher Zusammenhang war bei Männern, die politisch unabhängig oder demokratisch orientiert waren, nicht zu beobachten.

Die Ursache ist unklar, aber Bonhag spekuliert, eine starke politische Identifikation könnte Männern ein Gefühl von Bedeutsamkeit vermitteln, die dieses Gefühl zuvor vermisst haben. Wenn das der Fall sei, sagt sie, »wäre das ein beunruhigender Trend«. Andererseits vermutet sie, dass die sozialen Medien Männern helfen, sich auf eine Weise mit anderen verbunden zu fühlen, wie es Frauen durch ihre engen Beziehungen tun.

Das Gefühl, für andere Menschen nicht wichtig zu sein, wird auch mit Suizid- und sogar mit Mordgedanken in Verbindung gebracht. Mehrere Wissenschaftler haben Amokläufe teilweise darauf zurückgeführt. Der Attentäter von der Virginia Tech 2007 hinterließ ein erschreckendes Manifest: »Keiner von euch weiß, wer ich bin, also muss ich euch zeigen, dass ich wichtig bin«, zitiert der Soziologe Gregory Elliott daraus. Eine Studie aus dem Jahr 2003 untersuchte Medienberichte über Schriften von zehn Amokläufern. Ein durchgängiges Thema beschreibt Flett wie folgt: »Man hat mir das Gefühl gegeben, dass ich nicht wichtig bin, aber ich bin wichtiger, als euch bewusst ist.« Mattering kann man lernen

Da Mattering immer mehr Beachtung findet, wird es in den USA inzwischen in Maßnahmen zur psychischen Gesundheit integriert. Ein wichtiges Beispiel dafür ist die »You Matter Lifeline«. Ein Anruf bei der Telefonnummer 988 kann Menschen mit Suizidgedanken das Gefühl geben, dass ihnen jemand zuhört und sie einem anderen Menschen wichtig sind.

An der McMaster University testen die Psychologin Christine Wekerle und ihre Kollegen »JoyPop«, eine Telefon-App für junge Menschen. Sie soll helfen, die eigene Stimmung zu verstehen, sich von negativen Gedanken abzulenken und soziale Kontakte zu knüpfen. Das soll laut Wekerle »das Gefühl vermitteln, wichtig zu sein, weil man etwas Positives für sich selbst tut«.


Auch einige US-Gemeinden bieten Mattering-Aktionen für junge Menschen an. Kini-Ana Tinkham, Direktorin eines Resilienznetzwerks im US-Bundesstaat Maine, verweist auf eine Gesundheitsstudie aus dem Jahr 2021: Demnach glaubten 51 Prozent der Kinder an Gymnasien und 45 Prozent derer an Mittelschulen, dass sie in ihren Gemeinden keine Rolle spielen. Daraufhin startete der Bundesstaat eine Initiative, die für das Thema Mattering sensibilisieren soll.

Als ein Bibliothekar bemerkte, dass Jugendliche nach der Schule auf einem leeren Grundstück rauchten, bot er ihnen an, einen Lagerraum als Jugendtreff zu gestalten. Ein lokales Outdoor-Programm, »Teens to Trails«, richtete ein Beratungsgremium für Jugendliche ein, um sicherzustellen, dass »wir keine Entscheidung über euch ohne euch treffen«, wie die Geschäftsführerin Alicia Heyburn formulierte. Und im US-Bundesstaat Michigan fanden Forschende heraus, dass Schulkinder durch die Möglichkeit, sich einzubringen und mitzubestimmen, ein stärkeres Gefühl der Wichtigkeit entwickeln. Wege aus der Not

Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Situation ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116117.

Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 08001110111 und 08001110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 08001110333.

Laut Kini-Ana Tinkham aus Maine macht es schon einen Unterschied, wenn die Kinder einfach nur wahrgenommen werden – etwa, wenn ein Ladenbesitzer zum Beispiel sage: »Justin, ich habe dich schon eine Weile nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?« Viele Interventionen erfolgen spontan, ohne dass es dazu eine Institution braucht. Jugendliche können Gruppen beitreten, sich ehrenamtlich engagieren. Anderen zu helfen, steigert das Selbstwertgefühl. Die Forschung zeigt, dass ältere Menschen das Gefühl entwickeln, für andere wichtiger zu sein, wenn sie auf Facebook mehr mit anderen interagieren.

Einem vernachlässigten Kind hilft es schon, wenn sich eine Vertrauensperson – sei es eine Verwandte, ein Lehrer oder ein Betreuer um es kümmert und ihm Aufmerksamkeit schenkt. Doch wie Berichte aus der klinischen Praxis besagen, sind manchmal viele Veränderungen nötig, um Menschen das Gefühl zu vermitteln, für andere wichtig zu sein. Es ist aber nicht unmöglich. Und das Gefühl, für jemanden wichtig zu sein, kann viel bewirken, sagt Flett. »Sie können nicht mehr denken, dass sie unwichtig sind.«





Buber - Jüdische Renaissance


Lexikus Verlag Bibliothek Home › Digitale Bibliothek › Jüdische Renaissance Jüdische Renaissance Aus: Die jüdische Bewegung. Erste Folge 1900-1914 Autor: Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph und Bibelübersetzer, Erscheinungsjahr: 1900 Themenbereiche Politik, Gesellschaft, Wirtschaft Kunst & Kultur Juden und Judentum Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Ostjuden, Einwanderung, Einwanderer, Deutschland, Russland, Polen, Progrome, Gewalt, Krieg, Vertreibung, Wohnungsnot, Gründe, Not, Elend, Arbeitsplätze, Wir leben in einer Zeit, die eine Epoche der Kulturkeime*) einzuleiten scheint. Wir sehen die nationalen Gruppen sich um neue Fahnen scharen. Es ist nicht mehr der elementare Selbsterhaltungstrieb, der sie bewegt; nicht die äußere Abwehr feindlichen Völkeransturms ist der Grundzug dieser Erscheinung. Nicht der Besitzdrang und die territoriale Expansionskraft der Nationen will sich nun ausleben, sondern ihre individuelle Nuance. Es ist eine Selbstbesinnung der Völkerseelen. Man will die unbewusste Entwicklung der nationalen Psyche bewusst machen; man will die spezifischen Eigenschaften eines Blutstammes gleichsam verdichten und schöpferisch verwerten; man will die Volksinstinkte dadurch produktiver machen, dass man ihre Art verkündet. Goethes Traum einer Weltliteratur nimmt neue Formen an: nur wenn jedes Volk aus seinem Wesen heraus spricht, mehrt es den gemeinsamen Schatz. *) „Die Frage, ob diese oder jene Zeit Kultur habe, darf niemals bedingungslos verneint werden. Doch gibt es Zeiten der Kulturreife und Zeiten der Kulturkeime. Die ersten tragen ein fest ausgebildetes Gepräge, das oft schon die starren Formen annimmt, welche den nahen Tod verkünden; das zu Lebenserhöhung Erzeugte dient nun der Aufhebung des Lebens. Die andern sind von überströmendem Feuer erfüllt, das in Kampf und Sehnsucht wogt und alle Formen sprengt; die Harmonisierung bereitet sich erst vor, noch glüht und webt die hohe Fruchtbarkeit der Gegensätze. Aber Ernteland und Ackerland begegnen sich in der Zeit; und überall sehen wir jene Epochen der Gärung und des Überganges, zu denen auch unsere gehört. ,Die alten Stämme des Waldes zerbrachen, aber immer wuchs ein neuer Wald wieder: zu jeder Zeit gab es eine verwesende und eine werdende Welt.' In dem Wirrwarr unserer Tage kündigt sich eine Epoche der Kulturkeime immer stärker und farbenreicher an. Unter uns sind Menschen erstanden, die zur Zeit, da die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt ist und neues Leben aus der Erde bricht, den Geist und das lebendige Feuer verkünden und der werdenden Zukunft den Weg bereiten. In ihrem Werk offenbaren sich uns neue Kräfte, neue Arten zu sehen und zu schaffen, neue Geburten, neue Entwicklungen." (Aus einem Aufsatz „Kultur und Zivilisation" [„Kunetwart", 1. Maiheft I901]) So sehen wir in der tiefen Einheit des Werdens allgemeine und nationale Kultur verschmelzen. Was den besten Geistern unserer Zeit vorleuchtet, ist ein von Schönheit und gütiger Kraft durchtränktes Menschheitsleben, in dem jeder Einzelne und jedes Volk mitschafft und mitgenießt, ein jedes in seiner Art und nach seinem Werte. Jener Teil des jüdischen Stammes, der sich als jüdisches Volk fühlt, ist in diese neue Entwicklung hineingestellt und wird von ihr durchglüht wie die anderen Gruppen. Aber seine nationale Teilnahme an ihr hat einen ganz eigenen Charakter: den der Muskelanspannung, des Aufschauens, der Erhebung. Das Wort „Auferstehung" drängt sich auf die Lippen: ein Erwachen, das ein Wunder ist. Freilich, die Geschichte will keine Wunder kennen. Doch sie kennt Ströme des Volkslebens, die zu versiegen scheinen, aber unter der Erde weiterfließen, um nach Jahrtausenden hervorzubrechen; und sie kennt Samenkörner des Volkstums, die sich Jahrtausendelang in dumpfen Königsgräbern ihre Keimkraft bewahren. Dem jüdischen Volke steht eine Auferstehung von halbem Leben zu ganzem bevor. Darum dürfen wir seine Teilnahme an der modernen nationalinternationalen Kulturbewegung eine Renaissance nennen. Es scheint zum Wesen der Schlagworte zu gehören, dass sie missverstanden werden. Das kommt wohl daher, dass sie immer nur einer Seite des Geschehens abgelauscht werden, was gleichsam die Rache der anderen Seiten herausfordert. So ging es auch der „jüdischen Renaissance". Wenn man von Renaissance spricht, denkt man zunächst an die große Zeit des Quattrocento. Auch diese hat man eine Zeitlang missverstanden: man hat sie als Rückkehr zu den Denk- und Sprach formen des Altertums, als Erneuerung des klassischen Lebensstils aufgefasst. Aber als man tiefer in ihre Geschichte eindrang, erkannte man, dass Renaissance nicht Rückkehr, sondern Wiedergeburt bedeutet: eine Wiedergeburt, eine Erneuerung des ganzen Menschen, den Weg aus der dialektischen Enge der Scholastik zu einer weiten seelenvollen Naturanschauung, aus mittelalterlicher Askese zu warmem, flutendem Lebensgefühl, aus dem Zwange engsinniger Gemeinschaften zur Freiheit der Persönlichkeit. Das Geheimnis des Neuen, der reiche Sinn des Entdeckers, das freie Leben der Wagnisse und der überströmenden Schaffenslust beherrschen diese Zeit, und die Zeitpsyche ist es, die (wie Dilthey in seiner schönen Analyse jener Epoche gezeigt hat) aus Marlowes Helden, Mortimer, spricht, wenn er im Augenblick vor seiner Hinrichtung sagt: „Beweint mich nicht. Der, diese Welt verachtend, wie ein Wandrer Nun neue Länder zu entdecken geht." Jene Zeit steht im Zeichen der „neuen Länder“. Nein, keine Rückkehr — aber auch kein „Fortschritt" in dem Gebrauchssinn dieses Wortes. In der Seele des einzelnen Menschen, in der Struktur, der gesellschaftlichen Wechselbeziehungen, in der künstlerischen Geburt von Werken und Werten, in den ewigen Kreisen des Kosmos, in den letzten Rätseln alles Seins — überall werden neue Länder entdeckt, überall tauchen schlummernde Welten wie grüne Inseln aus Meeres tiefen auf, alle Dinge sind erneut, in jungem Lichte gebadet, aus frischen Augen blickt die alte Erde — und die Wiedergeburt feiert ihre stillen Sonnenfeste. „Jüdische Renaissance" . . . Man hat darunter eine Rückkehr zu den alten, im Volkstum wurzelnden Gefühlstraditionen und zu deren sprachlichem, sittlichem, gedanklichem Ausdruck verstanden. Man braucht diese Vorstellung nur an der Quattrocento-Renaissance zu messen, um ihre Kleinheit und Unzulänglichkeit einzusehen. Eine solche Rückkehr würde den edlen Namen „Renaissance", diese Krone der Geschichtszeiten, in keiner Weise verdienen. Wir müssen schon tiefer graben, wenn wir die Zukunft unseres Volkes verstehen wollen. Zahlreicher als in irgendeiner anderen Zeit sind in der unseren jene Menschen, die den Sinn für das Kommende besitzen, jene Johannesnaturen, die an den eigenen Schmerzen die werdende Gestaltung eines neuen Menschheitslebens erkennen. Diesen Hellsichtigen ist es heute vergönnt, die Boten einer neuen Menschheits-Renaissance mit Augen zu schauen. Aus dem Gären einer Kulturbewegung, das ich zu schildern versucht habe, sehen sie schon die künftigen Formen emportauchen. Sie leiden, wie einst die Propheten litten: weil sie wissend und einsam sind; und weil sie in der Zukunft schönere, glücklichere Entwicklungsbedingungen erblicken, die sie nicht erreichen sollen. Ihrer aus Leiden geborenen Prophetie müssen wir uns anvertrauen. Sie zeigt uns das Nahen einer Wiedergeburt, an der jeder Einzelne und jedes Volk teilnimmt, ein jedes in seiner Art und nach seinem Werte. Einer Wiedergeburt des Menschentums. Einer Herrschaft der „neuen Länder". Schwieriger als jedem anderen Volke wird es dem jüdischen werden, in diese Wiedergeburt einzutreten. Ghetto und Golus, nicht die äußeren, sondern die inneren Feindesmächte dieses Namens halten es mit eisernen Fesseln zurück: Ghetto, die unfreie Geistigkeit und der Zwang einer ihres Sinnes entkleideten Tradition, und Golus, die Sklaverei einer unproduktiven Geldwirtschaft und die hohläugige Heimatlosigkeit, die allen einheitlichen Willen zersetzt. Nur durch einen Kampf gegen diese Mächte kann das jüdische Volk wiedergeboren werden. Der äußeren Erlösung von Ghetto und Golus, die nur durch eine weit über das heute Gewährte hinausgreifende Umwälzung geschehen kann, muss eine innere vorausgehen. Den Kampf gegen die armselige Episode „Assimilation", der zuletzt in ein wortreiches und inhaltsarmes Geplänkel ausgeartet ist, soll ein Kampf gegen tiefere und mächtigere Zerstörungskräfte ablösen. Dieser soll latente Energien in tätige umsetzen, Eigenschaften unseres Stammes, die sich in einer Selbständigkeitsgeschichte geäußert haben, um in den Qualen der Diaspora zu verstummen, unserem modernen Leben in dessen Form wiederschenken. Auch hier keine Rückkehr; ein Neuschaffen aus uraltem Material. Ich kann hier nur die allgemeinsten Gesichtspunkte andeuten; aus stiller Zusammenarbeit der Mitstrebenden wird mit der Zeit, so hoffe ich, ein positives, festgefügtes Aktionsprogramm hervorgehen. Nicht das Programm einer Partei, sondern das ungeschriebene Programm einer Bewegung. Diese Bewegung wird vor allem das einheitliche, ungebrochene Lebensgefühl des Juden wieder auf den Thron setzen. Das ist ein Losungswort gegen die reine Geistigkeit. Als wir noch das kleine weltbewegende Volk jenes seltsam gesegneten Erdenwinkels waren, da schufen wir Geistiges, aber wir waren voll starken expansiven Lebensgefühls, das oft genug überschäumte und sich, wenn das eigene Gesetz keinen Raum dafür ließ, in den fremdartigen Orgien der unproduktiven Nachbar-Völker auszuleben versuchte; und in Wahrheit blühten gerade aus diesem Lebensgefühl, lose in ihm ruhend wie Seerosen auf den Fluten, unsere großen Geistesschöpfungen auf. Das Exil wirkte wie eine Folterschraube: das Lebensgefühl wurde verrenkt. Die äußere Knechtung der Wirts Völker und die innere Zwingherrschaft des Gesetzes trugen in gleichem Maße dazu bei, das Lebensgefühl von seinem natürlichen Ausdruck, dem freien Schaffen in Wirklichkeit und Kunst, abzulenken. Die Bewegung, die in unserer Zeit anhebt, wird den Juden wieder dazu bringen, sich als Organismus zu fühlen und nach harmonischer Entfaltung seiner Kräfte zu streben, ins Gehen, Singen und Arbeiten so viel Seele zu legen wie in die Behandlung intellektueller Probleme, und eine gesunden und vollkommenen Leibes in Stolz und Liebe froh zu werden. Sie wird den Zwiespalt zwischen Denken und Tun, die Inkongruenz von Enthusiasmus und Energie, von Sehnsucht und Opfermut aufheben und die einheitliche Persönlichkeit, die aus einer Willensglut heraus schafft, wiederherstellen. Sie wird Staub und Spinnweben des inneren Ghettos von unserer Volksseele abkehren und dem Juden den Blick ins Herz der Natur verleihen, ihn lehren, Bäume, Vögel und Sterne seine Geschwister zu nennen und an der Individualität aller Wesen seine eigene zu messen. Sie wird durch Erziehung eines lebendigen Schauens und durch Sammlung der schöpferischen Kräfte die Gabe jüdischen Malens und Meißelns entfalten und vor dem dunklen Tasten jungjüdischer Dichter die Feuersäule der Auferstehung einherwandeln lassen. Den Festen der Tradition wird sie eine zweite Jugend schenken: wir werden lernen, das Werdende zu feiern, das künftige Erringen, die geahnte Wiedergeburt; von starren Denkmälern schützender Tradition wird sie uns zu jungen Weihegärten eines jungen Volkes führen. Sie wird uns die Schlichtheit und Wahrhaftigkeit eines freitätigen Lebens zuteilen. Sie wird uns vor einer äußeren eine innere Heimat schaffen : dadurch, dass sie das Judentum zu neuer Einheit zusammenschließt und uns so das Ruhen im Brudertum der Herzen gewährt; dadurch, dass sie uns im Neuhebräischen eine moderne Sprache schenkt, in der wir die wahren Worte für Lust und Weh unserer Seele finden können; dadurch, dass wir in eine Lebensgemeinschaft eintreten, welche die alte angestammte und doch wieder eine neue ist. Über unsere Tage wird der Glanz einer neuen Schönheit ausgegossen. Diese nationale Bewegung ist die Form, in der sich die neue menschheitliche Kultur für unser Volk ankündigt. Uns liegt ein innerer Kampf ob, ehe wir ihres Segens teilhaftig werden können. Manchen Krankheitsstoff müssen wir entfernen, manches Hemmnis niederzwingen, bevor wir reif werden zur Wiedergeburt des Judenvolkes, welche nur ein Teilstrom ist der neuen Menschheits-Renaissance. Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph Alter Jude Alter Jude Jüdischer Mädchenkopf Jüdischer Mädchenkopf Jüdin des Ostens Jüdin des Ostens Ostjüdin mit Kopftuch Ostjüdin mit Kopftuch Bärtiger Jude mit Pelzmütze Bärtiger Jude mit Pelzmütze Judenjunge Judenjunge Judenkind Judenkind E-Book Weiße Geheimnisse unsere Bücher SeptemberfrostKindle E-Book Septemberfrost von Carola Herbst Historischer Roman 730 Seiten, 2,99€ bei amazon kaufen Hein HannemannHein Hannemann alle Informationen zum Projekt und den Büchern hier Copyright Lexikus Verlag | Impressum

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Juedische-Renaissance




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Identitätspolitik vergiftet die Gesellschaft

Von: Markus C. Schulte von Drach

16. Jun 2021 Schlagworte:

Identitätspolitik Rassismus



Linke Identitätspolitik verfolgt die gleichen Ziele wie ihre Kritiker unter den Soziallinken und Liberalen: Gleichberechtigung. Das Problem liegt in der Strategie. Gruppenidentitäten sind der wesentliche Faktor bei gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – das ist gefährlich. Und damit hören die Probleme noch lange nicht auf.


1999 begann der Sänger Johnny Clegg in Frankfurt am Main ein Konzert mit dem Lied "Asimbonanga". Er hatte es Nelson Mandela gewidmet, als dieser noch auf Robben Island inhaftiert war. Während des Liedes betrat Mandela selbst die Bühne, hielt Cleggs Hand, tanzte mit ihm, dann sagte er: "Musik und Tanz söhnen mich mit der Welt aus, und mit mir selbst."


Was das mit linker Identitätspolitik zu tun hat? Clegg war ein Weißer, seine Band spielte eine Mischung aus afrikanischer und westlicher Musik, seine Lieder sang er teils in der Sprache der Zulu. Als privilegierter, strukturell rassistischer Weißer in einem Apartheidsstaat hatte er sich der Kultur der unterdrückten Schwarzen bemächtigt und der kulturellen Aneignung schuldig gemacht – zumindest in den Augen der Identitätspolitik.

Die Wut ist b

erechtigt

Vielleicht veranschaulicht dieses Beispiel ein Weltbild, das Menschen sehr streng nach Merkmalen wie Hautfarbe und Herkunft unterscheiden will, andererseits diese Merkmale als soziale Konstrukte betrachtet. Und Erklärungsbedarf gibt es noch eine Menge. Denn wenn die AnhängerInnen dieser umstrittenen Politik ihre Vorstellungen in der Öffentlichkeit darlegen, erfährt man meist nur die Hälfte von dem, worum es geht. Dort betonen sie, wie berechtigt ihr Anliegen und wie gerechtfertigt ihre Wut sei. Weil Schwarze noch immer diskriminiert werden, die Herkunft über die Chancen auf Arbeits- und Wohnungsmarkt mitentscheidet, die Frauen noch nicht gleichgestellt sind und Behinderte bei der Planung von Gebäuden mitreden sollten, zum Beispiel. Das Versprechen von Staat und Gesellschaft, dass alle die gleichen Chancen haben sollen, wird noch zu häufig gebrochen.


Deshalb, so sagte kürzlich Alicia Garza der FAZ, sei es für manche Betroffene gar nicht möglich, nicht über Identitäten zu sprechen. "Weil sie unsere Leben prägen. Auch wenn ich nicht darüber sprechen würde, dass ich schwarz bin, werde ich auf eine bestimmte Weise behandelt, weil ich schwarz bin", so die Mitbegründerin der Bewegung Black Lives Matter.


Allerdings: Da widersprechen die Kritikerinnen und Kritiker unter den Soziallinken und Liberalen gar nicht. Im Gegenteil. Sie wissen es und setzen sich sogar für die gleichen Ziele ein: Gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft für alle und das Ende jeder Diskriminierung. Was sie dagegen kritisieren, ist der Weg, auf dem Identitätspolitik zu diesen Zielen kommen will. Was linke Identitätspolitik ausmacht

Die schwarze US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw hat in einem einflussreichen Artikel vielleicht am anschaulichsten erklärt, was Identitätspolitik eigentlich ist: "Wir alle können den Unterschied zwischen der Aussage 'Ich bin Schwarz' und der Aussage 'Ich bin eine Person, die zufällig Schwarz ist', erkennen. 'Ich bin Schwarz' nimmt die sozial auferlegte Identität und stärkt sie als Anker der Subjektivität."

Die Identitätspolitik setzt also gezielt darauf, dass Menschen, die Unterdrückung erleben, Kraft und Selbstbestätigung daraus gewinnen, wenn sie sich zusammenschließen, so wie andere Interessengruppen auch. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied etwa zu Arbeiterbewegungen oder Klimaschützern: Die Identitätspolitik übernimmt gerade die Kategorien der Diskriminierung wie Hautfarbe, Herkunft, Religion, Geschlecht, sexuelle Orientierung und anderes, betont diese als Gruppenmerkmale ausdrücklich und erklärt sie zu einem essenziellen Teil des menschlichen Wesens.


Die Betroffenen sollen sich demnach über Gruppenmerkmale definieren. Um an Bedeutung in der Gesellschaft zu gewinnen, wird die Bedeutung der Personen verschoben vom Individuum zum Merkmalsträger – was die persönliche Bedeutung letztlich allerdings verkleinert. Und obwohl die Identitätspolitik häufig von der "Kultur" von Gruppen spricht, geht es eigentlich nur um einige wenige Marker. Die tatsächliche Lebensweise verschiedener Gruppen, der eigentliche Inhalt ihrer Kultur, ist für die führenden Akteure der Bewegung oft nur eine Nebensache, sagt der Ethnologe Christoph Antweiler von der Universität Bonn. "Der Begriff Identität wird als argumentative Waffe benutzt". Identitätspolitik heizt Gruppenkonflikte an

Ein ganz grundsätzliches Problem mit der Identitätspolitik wird in der Regel überhaupt nicht angesprochen: Sie greift ausgerechnet auf jenes menschliche Verhalten zurück, das auch das Fundament des Rassismus und jeder Form von Fremdenfeindlichkeit bildet: Menschen denken in Kategorien – auch in Bezug auf andere Menschen. Sie neigen dazu, sich zu Gruppen zusammenzuschließen und dann die Merkmale besonders zu betonen, über die sich die Gruppe identifiziert. So wird der Kontrast zu anderen Gruppen systematisch verstärkt, während etwa Unterschiede innerhalb der eigenen Gruppe ausgeblendet werden, erklärt Antweiler.


Die rechte Identitätspolitik versucht auf diese Weise, eine fantasierte Hierarchie mit der eigenen Gruppe an der Spitze herzustellen. Linke Identitätspolitik zielt dagegen auf ein Miteinander solidarischer Gruppen. Das hört sich erst einmal gut an, ist aber wohl schwieriger als es klingt. Denn eine der wichtigsten Erkenntnisse der Sozialwissenschaften, der Verhaltensbiologie und der Psychologie ist: Je relevanter die eigene Gruppe für einen Menschen ist, desto höher bewertet er oder sie diese im Vergleich zu allen anderen Gruppen.


Das fängt schon bei willkürlich eingeteilten Gruppen von Kindern an. Und je stärker die Abgrenzung und Ausgrenzung, desto geringer die Solidarität und desto größer das Konfliktpotential. Antweiler bezeichnet das als "allgegenwärtigen Ethnozentrismus", dessen Grundhaltung laute: 'Wir' sind ganz besonders, ganz anders, wir sind die Besten oder Auserwählten.' Der Psychologe und Aggressionsforscher Thomas Elbert von der Universität Konstanz fasst es so zusammen: "Der Mensch ist als soziales Wesen zu Gruppenbildung verdammt. Gemeinsam kämpfen, gemeinsam schlagen ist genauso sozial wie menschlich."

Es ist also zu befürchten, dass die Hoffnung der linken Identitätspolitik auf Solidarität statt Spaltung vergeblich ist – selbst wenn es natürlich ein Unterschied ist, ob eine Mehrheit Identitätspolitik betreibt, um auszugrenzen, oder ob Minderheiten sie nutzen, um auf ihre soziale Benachteiligung hinzuweisen und Kräfte dagegen zu mobilisieren. Widerspruch zum Weltbild des Universalismus

Ein weiterer Punkt, der selten angesprochen wird, ist, dass die Identitätspolitik als taktisches Werkzeug grundsätzlich im Widerspruch zum Anspruch der Aufklärung steht, dass alle Menschen Mitglieder einer einzigen Menschheit sind, bestehend aus gleichwertigen und gleichberechtigten Individuen. Identitätspolitik ist hier geradezu reaktionär. Denn zumindest dort, wo der humanistische Anspruch konsequent verfolgt wurde, hat er sich als friedensstiftend erwiesen.

Nationalismus, Rassismus, Sexismus sind heute im Westen absolut geächtet – meist schon per Gesetz und im Prinzip auch innerhalb der Mehrheit der Gesellschaft. Überwunden sind sie noch nicht. Minderheiten erleben auch in Deutschland immer noch Diskriminierung. Aber die Entwicklung ist historisch und global gesehen weltweit bislang eine Erfolgsgeschichte des Universalismus. Und schlimme Rückschläge wie zum Beispiel die Verbrechen der Nationalsozialisten waren gerade die Folgen einer Identitätspolitik, einer konsequenten Politik des "Wir" gegen "die Anderen". Welcher Weg verspricht also den größeren Erfolg? Sprache oder Evolution: Nicht alles ist sozial konstruiert

Ein weiterer, mehr als fragwürdiger Aspekt der linken Identitätspolitik, der in der Regel verschwiegen wird: Ihre VertreterInnen sind Kinder der Postmoderne. Diese hat ihren Ursprung in der "kritischen Theorie" der Frankfurter Schule um Theodor Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse und wurde vor allem durch Intellektuelle wie Jacques Derrida und Michel Foucault vorangetrieben.

Am Ende ihrer konstruktivistischen und poststrukturalistischen Überlegungen steht knapp zusammengefasst: Objektive Erkenntnisse sind unmöglich. Die gesamte soziale Wirklichkeit ist ein Konstrukt, gebildet im Sinne der Macht, die kontrolliert, wie über die Dinge geredet wird. Selbst Menschen gelten als vollständig sozial konstruiert: Identität, Charakter, Sexualität, der Körper - alles Produkte der Machtverhältnisse und der Sprache. Und die Machtstrukturen sollen sich überwinden lassen, indem man "dekonstruiert", die Hintergründe der Verhältnisse offenlegt und anprangert und die Diskurse im Sinne der Unterdrückten verändert.

Diese Beschränkung auf Sprache als einziges Werkzeug, das wirklich zählen soll, ignoriert eine der bedeutendsten Erkenntnisse der Wissenschaft überhaupt: Der Mensch ist Produkt der Evolution. Über Jahrmillionen mussten seine Vorfahren sich an eine Realität anpassen, die jene, die ihre Bedingungen ignorieren oder falsch interpretieren, mit dem Aussterben bestraft. Deshalb ist nicht die Sprache der Ausgangspunkt dafür, wie die Dinge wahrgenommen werden, sondern die an die Realität angepassten Sinnesorgane.

Natürlich nimmt der Mensch über die Kommunikation Einfluss darauf, wie die aufgenommenen Informationen interpretiert werden. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Und durch die Fortschritte der Hirnforschung und Kognitionspsychologie ist in den letzten Jahren auch die Konstruktion von "Bedeutung" in den Fokus der Naturwissenschaften gerückt, sagt Eckart Voland, emeritierter Professor für Biophilosophie an der Universität Gießen. Dinge existieren in der Realität, aber "Bedeutung entsteht nur im Gehirn, und zwar in jedem einzelnen. Sie ist zweifelsohne konstruiert."

Das heißt: Biologen ist klar, dass die Bedeutung von zum Beispiel Geschlechterrollen sozial konstruiert ist – aber die Rollen selbst sind es nicht ausschließlich. Auch die Natur spielt mit hinein. Und das gilt auch für das Phänomen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Voland zufolge wäre es sogar sinnvoller zu fragen, was es eigentlich bedeuten solle, Angehöriger einer Rasse zu sein – die Antwortet lautet: nichts –, und strukturelle Ungleichheiten mit emanzipatorischer Motivation zu bekämpfen, als zu fordern, den Begriff Rasse abzuschaffen. Jeder Gruppe ihre eigene Wahrheit?

Gegen solche Hinweise hat sich die postmoderne linke Identitätspolitik allerdings immunisiert. Denn es wird noch schlimmer: Die Postmodernen der Gegenwart haben zwar wie ihre Vorgänger den Anspruch auf objektive Erkenntnisse aufgegeben. Sie stellen sich selbst aber nicht mehr infrage. Stattdessen konstruieren sie nun Vorstellungen von der Welt auf der Grundlage der Erfahrungen verschiedener Gruppen, entsprechend deren jeweiliger "Narrative". Ihre vor allem moralisch gerechtfertigten Diskurse sollen den herrschenden Diskurs der Privilegierten ersetzen und endlich für soziale Gerechtigkeit sorgen. Nachdem die Objektivität sowieso aufgegeben wurde, kann jede und jeder die eigenen Vorstellungen als wahr betrachten. Und der Anspruch, für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen, adelt diese eigene Wahrheit.

Aus dieser Perspektive versucht die Gruppe der weißen, heterosexuellen, älteren cis-Männer immer noch zu definieren, was als "wahr" zu gelten hat, um ihre Machtposition zu erhalten. Um diesen Diskurs herauszufordern, sollen unterdrückte Identitätsgruppen dieser "Wahrheit" die eigenen, gleichberechtigten "Wahrheiten" entgegenstellen.

Der Postmodernismus behauptet tatsächlich: Menschen können aufgrund ihrer Gruppenidentität auf besondere Weise etwas "wissen", das allen anderen verschlossen bleibt: als Frauen, als Homosexuelle, als Muslime, als Angehörige einer Gruppe, die unter Sklaverei und Kolonialismus gelitten hat, oder auch einfach als Volk oder Stamm. Dabei geht es aber nicht darum, vielfältige individuelle Erfahrungen zu sammeln, um auf dem Wege der wissenschaftlichen Beobachtung, der Empirie, einer objektiven Wahrheit näher zu kommen. Die

Empirie gilt vielmehr als der Weg, den der weiße heterosexuelle Mann seit der Aufklärung beschritten hat, um die Natur zu kontrollieren und alle zu beherrschen, die anders sind als er – und deshalb wird sie abgelehnt. Die Forderung nach einem Realitäts-Check selbst gilt als Zeichen westlicher Arroganz kulturellen Minderheiten gegenüber. Schließlich hat die westliche Wissenschaft nur deshalb Erfolg gehabt, weil dahinter die militärische und wirtschaftliche Macht westlicher Nationen steht, behauptet etwa die populäre postmoderne Philosophin Sandra Harding, und nicht weil sie wahr, rational oder effektiv sei.


Alles akzeptieren, um niemanden zu diskriminieren

Stattdessen gelten im Postmodernismus etwa überlieferte Traditionen den wachsenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen als ebenbürtig. Jeder Schöpfungsmythos soll genauso als Wissen betrachtet werden wie die Evolutionstheorie. Was für JoAllyn Archambault, Angehörige der Sioux und Direktorin des American Indian Program am Smithonian Institute schon gegen den gesunden Menschenverstand verstößt: "Die Ursprungsgeschichten zum Beispiel [...] variieren stark von Stamm zu Stamm. Je nach Stamm kann die Schöpfung das Werk von Coyote, einem Vogel, dem ersten Menschen, einer Schildkröte und so weiter sein. Selbst innerhalb eines Stammes kann überlieferter Glaube verschiedene Erschaffungsgeschichten beinhalten."

Als eigenes Wissen dürfen solche Vorstellungen jedoch im postmodernen Weltbild nicht infrage gestellt werden. Gerechtfertigt wird dieser Multikulturalismus-Anspruch auch mit dem Argument, dass so kulturelle Diskriminierung verhindert wird. Das aber funktioniert nicht, sagt Christoph Antweiler, gerade "weil ja unterschieden – also diskriminiert – wird." Trotzdem etabliert sich diese Haltung seit einigen Jahren zunehmend an nordamerikanischen Colleges und Universitäten.

Letztlich kehren die Postmodernisten damit zu den Vorstellungen des Romantikers Johann Gottfried Herder und der anti-aufklärerischen Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurück, die Kultur, Wissen, Volk, Sprache und völkische Identität als untrennbare Einheit betrachteten und so eine der Grundlagen für den Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts schufen.

Vor diesem Hintergrund weist der Kulturanthropologe Antweiler darauf hin, dass sogar der Begriff "Vielfalt" gefährlich werden kann. "Es sollte uns zu denken geben, wenn jetzt sogar die extreme Rechte kulturelle Vielfalt gut findet", warnt er. Es werde leider notorisch vergessen, dass Menschen in vieler Hinsicht gleich sind, biologisch und auch kulturell. "Auch wenn ich Kulturwissenschaftler bin, ist mein Motto deshalb: Lasst uns Kultur runter dimmen und mehr auf Individuen einerseits und die ganze Menschheit andererseits achten."


Nur Weiße können rassistisch sein – und sind es immer?

Die linke Identitätspolitik aber kümmert sich nicht um solche Widersprüche, sondern befasst sich fast ausschließlich mit der negativen Rolle von Menschen mit weißer Hautfarbe und westlicher Abstammung. Gerade hier lässt sich zeigen, wie versucht wird, sich der Sprache zu bemächtigen, um die Machtverhältnisse zu verändern.

Die Identitätspolitik wirft den Weißen zum Beispiel vor, Rassismus erfunden zu haben, um Kolonialismus und ihre Vorherrschaft in der Welt zu rechtfertigen. Im Prinzip war dieser Rassismus die Diskriminierung von Gruppen aufgrund angeborener Merkmale. "Weiße haben diesen Rassismus systematisiert und pseudobiologisch untermauert", sagt Antweiler. "Allerdings ist auch der Kampf gegen den Rassismus ein Kind des Westens."

Statt sich aber differenziert mit dem Phänomen auseinanderzusetzen, wurde der Begriff übertragen auf die Benachteiligung von Gruppen aufgrund von sexuellen, religiösen oder kulturellen Merkmalen. Wo die Hautfarbe angesprochen wird, gilt sie ebenfalls als sozial konstruierte Eigenschaft. Damit ist man den spezifisch biologischen Aspekt des Rassismus los. So hat der Begriff allerdings auch jede Kraft für eine eigentlich antirassistische Argumentation verloren, warnt Antweiler.

Dafür kann er nun entsprechend der postmodernen Vorstellungen von Machtverhältnissen angewendet werden. Und obwohl der ursprüngliche Rassismus in der Gesellschaft geächtet ist, lässt er sich im neuen Gewand allen Weißen zum Vorwurf machen. So erklärt die zunehmend populäre identitätspolitische "Critical Race Theory" (CRT), alle Strukturen in Gesellschaften, die von Weißen gebildet wurden, seien grundsätzlich rassistisch.

Es wird darüber hinaus behauptet, überhaupt könnten nur Weiße rassistisch sein, weil auch nur sie von den Strukturen profitieren – und weil sie als Weiße davon profitieren, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst sind, sind sie auch und immer strukturell rassistisch. Der populäre schwarze US-Buchautor Ibram X. Kendi etwa behauptet, Weiße könnten nur dann keine Rassisten sein, wenn sie aktive Antirassisten wären – indem sie seinen Lehren folgen.

Weiße, die auf die rassistische Behandlung von Schwarzen wie jüngst in China während der Pandemie oder auf rassistische Konflikten zwischen Schwarzen und Indern in Afrika hinweisen, wollen der CRT zufolge nur ablenken und dokumentieren so ihren anhaltenden Rassismus. Sie sollten sich stattdessen ihres rassistischen Weißseins bewusst werden, sagt die amerikanische Bestseller-Autorin Robin DiAngelo. Sie bietet auch gleich ihre Hilfe in Form von Büchern, Vorträgen und Kursen an. Manche großen Unternehmen fordern dank DiAngelos Einfluss ihre MitarbeiterInnen inzwischen auf, weniger "weiß" zu sein.

Denn der Begriff "weiß" bezeichnet nicht mehr die Hautfarbe. Er steht für die privilegierte Position der Menschen weißer Hautfarbe, während die Hautfarbe selbst irgendwie keine Rolle mehr spielen soll. Ein weißer Bettler wäre demnach im Prinzip privilegiert gegenüber allen Schwarzen, unabhängig von deren Position und Einkommen.


"Das ist die Erbsünde"

Der schwarze US-Sprachforscher John McWhorter von der Columbia University hält von diesen Vorstellungen überhaupt nichts. So erklärte er unlängst in einem Vortrag: "Die Vorstellung, dass eine verantwortungsvolle weiße Person sich zu ihrem 'weißen Privileg' bekennen und einsehen soll, dass sie es nicht loswerden könne, und sich dafür ewig schuldig fühlen solle – das ist die Erbsünde."

Trotz solcher Einwände setzen sich die Vorstellungen der linken Identitätspolitik weiter durch. So schreiben Anhänger der CRT heute von "Schwarzen Menschen" mit großem "S", aber von "weißen Menschen" mit kleinem "w", um das Selbstbewusstsein der Schwarzen zu stärken. Selbst Zeitungen wie die New York Times oder die Nachrichtenagentur AP orientieren sich inzwischen daran. Natürlich denkt man damit tendenziell rassistisch im Sinne von festen Kategorien der Menschen, wendet Christoph Antweiler ein. Mit anderen Worten: AnhängerInnen der CRT verhalten sich selbst rassistisch.

Wer das allerdings kritisiert, setzt sich wiederum dem Verdacht aus, Rassist zu sein, oder – als Nichtweißer – den Rassisten in die Hände zu spielen. Der Erfolg der Identitätspolitik verhindert so ein präzises Studium der eigentlichen Ursachen und Zusammenhänge der Unterdrückung, warnt Antweiler. "Dabei sagt die kulturelle Genese eines Gedankens oder Arguments natürlich überhaupt nichts über deren Richtigkeit oder Berechtigung aus, genauso wenig wie Hautfarbe, Alter oder Geschlecht derjenigen, die sie verbreiten".


Gerechtigkeit für alle, ohne Identitätspolitik

Vor dem Hintergrund des westlichen Kolonialismus und Imperialismus lehnen Anhänger der Postmoderne den Anspruch universeller Menschenrechte als kulturimperialistisch und eurozentristisch ab. Allerdings verändern sich Kulturen über die Zeit sowieso ständig und beeinflussen sich gegenseitig. Und die Vorstellung universeller Menschenrechte hätte sich auch andernorts entwickeln können.

Gesellschaften bestehen aus menschlichen Individuen, die sich zwar mit ihren Kulturen in der Regel weitgehend identifizieren – sie werden aber zuerst einmal als Menschen geboren – frei, die Ketten kommen später. Die sozialen Regeln und Kompromisse der Gesellschaft sollen vor allem die Möglichkeit des friedlichen Miteinanders gewährleisten. Kulturelle Traditionen, Normen und Werte als Argument gegen die universellen Menschenrechte auszuspielen, nutzt nur denen, die auf Kosten anderer davon profitieren.

Nichts rechtfertigt einen prinzipiellen Anspruch einzelner oder einer Gruppe auf Vorteile anderen gegenüber. Wo bereits Gerechtigkeit herrscht, sind die universellen Menschenrechte umgesetzt. Wo sie nicht gelten sollen, überlässt man das Feld der Diskriminierung und Unterdrückung.

Soziale Gerechtigkeit für alle lässt sich nur erreichen, wenn Menschen ihrer Gruppenidentität keine besondere Bedeutung anderen Gruppen gegenüber beimessen. Mehrheiten sind hier in der Pflicht, aber es gilt auch für Minderheiten, dass sie Angehörige der Mehrheit nicht pauschal denunzieren und deren Interessen delegitimieren sollten. Identitätspolitik, egal von welcher Seite, vergiftet die Gesellschaft. Sie ist toxisch.





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Der "Westen" als Feindbild im theologisch-philosophischen Diskurs der Orthodoxie von Thomas Bremer Original auf Deutsch, angezeigt auf Deutsch▾ Erschienen: 2012-03-19 Drucken PDF E-mail XML Metadaten




Die Einrichtung in Paris wurde 1924 gegründet. Der Pariser orthodoxe Metropolit wollte eine Institution zur Ausbildung von Priestern einrichten, die angesichts der großen Zahl der in Paris und Frankreich lebenden Russen benötigt wurde. Aus bescheidenen Anfängen entwickelte sich rasch eine der bedeutendsten orthodoxen Lehranstalten, an der die berühmtesten Theologen ihrer Zeit wirkten. Hier seien nur Sergij Bulgakov (1871–1944) , Georges Florovsky, Nicolas Afanassieff (1893–1966) , Alexander Schmemann (1921–1983) und John Meyendorff (1926–1992) genannt. Die orthodoxen Theologen beeinflussten


einerseits die katholische Theologie in Frankreich (besonders die Nouvelle Théologie ist hier zu nennen), doch andererseits waren sie gezwungen, sich mit dem Denken der westlichen Theologie auseinanderzusetzen. Bei Bulgakov geschah das sehr stark durch ökumenisches Engagement gegenüber den Anglikanern, das ihn sogar dazu brachte, bei einem ökumenischen Treffen die Interkommunion vorzuschlagen. George Florovsky, der sich auf die Kirchengeschichte konzentrierte, engagierte sich vor allem in der multilateralen Ökumene und war über viele Jahrzehnte der wohl bedeutendste und aktivste orthodoxe Theologe in der ökumenischen Bewegung.17


Von zentraler Bedeutung für die orthodoxe Theologie war jedoch Florovskys Beitrag zur Überwindung der "Schultheologie", womit die von den westlichen Denkmodellen geprägte orthodoxe Theologie gemeint war, wie sie in den theologischen Schulen und Lehrbüchern überall in der orthodoxen Welt verbreitet war. Florovsky postulierte eine Rückkehr zur Theologie der (Kirchen-)Väter, zum ersten Mal deutlich und mit großem Echo geäußert beim Kongress orthodoxer Theologen 1936 in Athen.18 Er kritisierte die Übernahme der Modelle westlichen theologischen Denkens scharf, weil sie nicht mehr kirchlich seien, sondern eine eigene Autonomie entwickelt hätten. Diese Vorstellung von der "Pseudomorphose"19 bzw. "babylonischen

Gefangenschaft" der orthodoxen Theologie stieß auf große Zustimmung und beeinflusste das moderne theologische Denken in den östlichen Kirchen stark. Bemerkenswert ist, dass durch seine Forderung nach der Schaffung einer lebendigen Tradition, die sich nicht auf die Wiederholung von überkommenen Sätzen und Formeln beschränkt, eine ökumenische Perspektive in der orthodoxen Theologie entstanden ist; Florovsky konnte seine ökumenischen Aktivitäten gerade wegen dieser seiner theologischen Position entwickeln, da sie auf einer Hermeneutik basiert, die die Bedingungen für das theologische Gespräch über die theologischen Differenzen zu anderen Traditionen ermöglicht.


Einer der wichtigsten Schüler von Florovsky ist der griechische Theologe Ioannis Zizioulas (*1931) , der lange Jahre in Glasgow lehrte und 1986 zum Metropoliten ernannt wurde. Zizioulas ist einer der wichtigsten Vertreter einer "eucharistischen Ekklesiologie", wie sie schon vor ihm von Nicolas Afanassieff entwickelt worden war.20 Danach wird Kirche immer als Kirche an einem konkreten Ort verstanden, als Eucharistie feiernde Gemeinde unter einem Bischof. In einer solchen Perspektive spielen die Gesamtkirche und auch die Frage nach einem päpstlichen Primat, die ja gerade zwischen der Orthodoxie und der katholischen Kirche immer strittig ist, keine zentrale Rolle mehr. Ein weiterer, aber mit

der Ekklesiologie zusammenhängender Akzent in seiner Theologie betrifft die Anthropologie; durch die Gemeinschaft mit anderen wird der Mensch zur Person, die nur in Kontakt, im Dialog existiert. Zizioulas sieht im Westen genau das als Manko, der Gemeinschaftsaspekt werde vernachlässigt, die Person durch den Menschen (im oben genannten Sinne) ersetzt. Dem liegt zwar ein Stereotyp zugrunde, dennoch lässt sich diese Sichtweise grundsätzlich mit einer positiven Haltung gegenüber dem westlichen Christentum verbinden, das gleichsam die Chance hat, zur ursprünglichen Gestalt von Kirche, Eucharistie und Gemeinschaft zurückzukehren.


Neben diesen für den ökumenischen Dialog offenen Modellen gibt es nach wie vor auch theologische und philosophische Ansätze im Osten, die den Westen und seine Modelle stark ablehnen. Aus dem Bereich der griechischen Theologie ist ein weiterer Grenzgänger zu nennen: Ioannis (John) S. Romanidis (1927–2001) . Er wuchs in den USA auf, wirkte aber als Professor vor allem in Griechenland. Auch Romanidis war stark ökumenisch engagiert. Für ihn spielte der grundsätzliche kulturelle Unterschied zwischen dem christlichen Osten und dem Westen eine zentrale Rolle, auf den auch die theologischen

Unterschiede zurückgeführt werden konnten. Wie viele andere orthodoxe Theologen, so sah auch er in der mystischen Theologie des Gregorios Palamas (1296–1359) die Orthodoxie ideal verwirklicht. Das basierte bei Romanidis auf einer starken Ablehnung von Augustinus (354–430) , in dem er die Fehlentwicklung des Westens gleichsam personifiziert sah. Durch die hesychia, die kontemplative Ruhe, könne der Mensch zur Anschauung (theoria) Gottes gelangen. Dabei handelt es sich nicht um eine intellektuelle Fähigkeit, sondern um das Ergebnis eines mystischen Strebens.


Christos Yannaras (*1935) ist ein griechischer Theologe und Philosoph, der durch seine ins Englische und Deutsche übersetzten Schriften auch im Westen bekannt ist. Yannaras hat immer versucht, die Unterschiede zwischen der westeuropäischen und der griechischen Philosophie zu betonen. Das geschieht auf der Grundlage intensiver Studien und guter Kenntnis der westlichen Philosophie (wie viele bekannte griechische Philosophen und Theologen hat auch Yannaras, der über Martin Heidegger (1889–1976) promovierte, in Bonn studiert). Diese Unterschiede seien kulturbildend, so dass

sich aus ihnen auch unterschiedliche Lebensstile ergeben. Ähnlich wie Zizioulas hebt er auf das Verständnis des Menschen als Person ab, den er in scharfem Gegensatz zu einem westlichen Individualismus sieht, der eng mit dem Rationalismus verbunden ist. Die Differenzen seien also nicht so sehr metaphysischer oder theoretischer Natur, sondern führen zu einer jeweils anderen Praxis. Daraus ergibt sich auch eine scharfe Kritik an westlichen oder als westlich verstandenen Werten

wie den Menschenrechten – sie wird auch von anderen orthodoxen Kritikern des Westens geteilt. Für Yannaras lassen sich zahlreiche negative Erscheinungen der Welt auf die Grundposition des Westens zurückführen, insbesondere die religions- und existenzbedrohenden Phänomene wie Entkirchlichung, Atheismus oder sorgloser Umgang mit der Schöpfung. Wie für viele andere Kritiker des Westens ist auch für ihn die orthodoxe Kirchlichkeit ein Hort der Bewahrung der echten, von Gott gewollten Menschlichkeit.


In der Philosophie in Russland ist Sergej Choružij (*1941) zu nennen, der sich als Mathematiker auch mit philosophischen Fragen beschäftigte und intensiv die ostchristliche mystische Tradition des Hesychasmus studierte. In dieser Richtung, die mystische Praxis mit einer Erfahrung Gottes verknüpft, sieht Choružij einen authentischen Ausdruck ostkirchlicher Theologie und Askese. Sie stellt einen Gegenakzent zu westlichen Entwürfen dar, die stark durch ihren rationalen Aspekt geprägt seien. Er bezieht sich auf die aus der hesychastischen Tradition stammende Vorstellung von den Energien und versucht sie interdisziplinär, unter Einschluss von Psychologie, Linguistik und anderen Wissenschaften, zu erforschen. Für Choružij ergibt sich so eine neue Akzentuierung der Anthropologie. Sein System ist dem Westen gegenüber nicht so ablehnend wie etwa das von Yannaras, betont aber doch die Besonderheit der ostkirchlichen philosophischen Tradition.21


Es zeigt sich, dass viele der Vorwürfe an den Westen im Lauf der Geschichte wiederkehren oder nur geringfügig modifiziert werden. Ihnen ist gemeinsam, dass sie einen grundsätzlichen Unterschied zwischen beiden kirchlichen und theologischen Traditionen kennen. Dem östlichen mystischen, wahren, innigen und in gewisser Weise emotionalen Ansatz wird ein westlicher rationaler, nüchterner und kalter gegenüber gesetzt. Viele Phänomene des gesellschaftlichen Seins werden damit in Verbindung gebracht und erklärt. Dazu gehört auch der Topos, dass westliche Theologen den Kontakt zu ihrem Gegenstand, zu Gott, verloren hätten, weil sie nicht mit Liebe und Ehrfurcht an in herangingen, sondern mit wissenschaftlicher Distanz. Der Grundirrtum des Westens sei daher also nicht in strittigen Einzelaussagen zu finden, sondern in dieser prinzipiell falschen, ungeeigneten Art der Theologie.


Viele dieser Beispiele zeigen aber auch, dass die Begriffe "Osten" und "Westen" nur noch relativ verstanden werden können. Orthodoxe Einrichtungen in Frankreich und den USA gehören zur östlichen Kirche, aber zugleich zum Westen. Die Vorstellung von der eucharistischen Ekklesiologie ist in der katholischen Kirche breit rezipiert worden; das lässt sich an den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils ersehen: Afanassieff ist der einzige orthodoxe Theologe, der namentlich in den Konzilsakten genannt wird. Wie einst die westlichen Modelle den Osten beeinflusst haben, so geschieht das jetzt auch umgekehrt, oder besser gesagt: Ost und West lassen sich nicht mehr so einfach unterscheiden.


Zugleich ist aber auch festzustellen, dass in der modernen orthodoxen Theologie die palamitische Tradition größeres Gewicht erlangt hat, nachdem Palamas über Jahrhunderte keine besondere Bedeutung in der Orthodoxie hatte. Offensichtlich ist in ihr ein Element enthalten, das für die orthodoxe Theologie identitätsbildend wirkt. Der Palamismus ist eine theologische Lehre der griechischen Tradition, die vom Westen nicht rezipiert wurde, zumal sich dort die Scholastik durchgesetzt hatte. Er unterscheidet sich also von allen Prinzipien westlichen theologischen Denkens und ist damit ein Spezifikum des christlichen Ostens. Zugleich kommt er einem eher auf die Erfahrung konzentrierten Verständnis von Theologie entgegen. Es wird sich zeigen müssen, ob er die Fähigkeit besitzt, sich als ein Merkmal der orthodoxen Theologie rezipieren zu lassen, das als neues und weiteres Unterscheidungskriterium zum Westen fungieren kann. ▲39

Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass auch eine Beziehung zwischen den Bildern, die der Westen und der Osten voneinander haben, und den historischen Ereignissen besteht, aus denen diese Bilder konstruiert werden. Es handelt sich um Konstrukte, da die historische Wirklichkeit nicht mehr eingeholt werden kann, aber sie sind eben nicht willkürlich, sondern müssen aus vorhandenem Material konstruiert werden. Die Haltungen und Aktionen des Westens gegenüber dem Osten waren im Lauf der Geschichte von solcher Art, dass es nicht schwierig war, dieses Bild von Bedrohung und Machtwillen zu malen. Es ist zwar nicht das einzig mögliche, aber es ist eben auch nicht ohne Grundlage in der Geschichte. Für die Kirchen und Theologien wäre es eine wichtige Aufgabe, ihre gegenseitigen Beziehungen daraufhin zu überprüfen, ob sich nicht auch Material für andere Konstrukte finden lässt.

Thomas Bremer



xen Kirchen haben in ihrer Antwort darauf verwiesen, dass der Glaube von der gesamten Kirche ("der Leib der Kirche oder das Volk selbst") bewahrt werde, nicht von einem speziellen "Lehramt". Hierzu im Einzelnen (mit Belegstellen): Ivánka, Dogma 1984, S. 312f.

   ^ Detaillierter bei Bremer, Kreuz 2007, S. 205–224.
   ^ Vgl. hierzu Wendebourg, Pseudomorphosis 1996; Oeldemann 2005.
   ^ Vgl. die oben (in Anmerkung Nr. 4) referierte Antwort der östlichen Patriarchen, auf die sich auch die Slawophilen, vor allem Chomjakov, bezogen.
   ^ Chomjakov, Worte 1923, S. 179.
   ^ Vgl. hierzu Schmid, Religionsphilosophen 2003, S. 211–213.





Fachherausgeber: Reinhard Flogaus Redaktion: Lisa Landes Eingeordnet unter:


Bremer, Thomas: Der "Westen" als Feindbild im theologisch-philosophischen Diskurs der Orthodoxie, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2012-03-19. URL: https://www.ieg-ego.eu/bremert-2012-de URN: urn:nbn:de:0159-2012030774 [JJJJ-MM-TT].




Heft 891, August 2023 Der Geist der Gesetze von Philip Manow Contested concepts




nseuphorischen Bundesregierung unabhängiges Bundesverfassungsgericht ein von einer integrationsskeptischen Regierung mittlerweile abhängiges polnisches oder ungarisches Verfassungsgericht ja womöglich auf dumme Gedanken bringen könnte:14 Tod der Gewaltenteilung im Dienste eines heroischen politischen Kampfes gegen eine getötete Gewaltenteilung!


Constitutional conflicts

Das normative Argument bleibt schematisch: In einer majoritären Lesart muss der Rechtsstaat gar nicht einer Mehrheit dauernd von außen aufgezwungen werden – was ohnehin machtpolitisch wenig nachhaltig wäre. Die rechtliche Selbstbindung liegt in der Demokratie eigentlich im Eigeninteresse der Mehrheit. In der Demokratie ist jede politische Mehrheit (Minderheit) nur eine Mehrheit (Minderheit) auf Zeit, und die Selbstbeschränkung derjenigen, die momentan an der Macht sind, kann man als eine Versicherung für die Zeit verstehen, wenn sie es einmal nicht mehr sind. Das ist die insurance

theory of judicial independence, es geht um die Verringerung politischer Unsicherheit. Was du nicht willst, das man dir tu … Nebenbei bemerkt: Erst dann, wenn politische Entscheidungsmehrheiten beständig über gesellschaftliche Minderheiten bestimmen, fangen Argumente für die starke verfassungsrechtliche Einhegung des Mehrheitswillens an, überzeugen zu können. Das beträfe etwa für lange Zeit das Problem des Rassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft und sicherlich auch das Verhältnis zwischen jüdischen und arabischen Israelis (ist aber ansonsten viel seltener, als es die Rede von der Tyrannei der Mehrheit suggeriert).

Rechtsstaatlichkeit in Demokratien ist, wenn sie stabil ist, politisch endogen stabil. Das ist allein schon deswegen ein ernst zu nehmendes Argument, weil eines ihrer exogenen Stabilität schwer zu machen ist, will man nicht auf diffuse Konzepte demokratischer Werte abheben,15 die mal internalisiert, mal nicht internalisiert sind – und wenn sie es nicht sind, durch Staatsbürgerkunde, Erinnerungsorte der Demokratie und Steinmeier-Reden, also durch zivilreligiöse Fundierung per präsidialer Selbstergriffenheit, in die Leute hineingetrichtert werden müssen. Aber wie sollte in unseren positivistischen Zeiten das Rechtliche nicht im Schatten des Politischen stehen? Schließlich wird als Voraussetzung für die Folgebereitschaft der Politik gegenüber Verfassungsgerichten eine demokratische Kultur des Respekts gegenüber dem Eigenwert und der Eigenwürde des Rechts genannt. Aber wenn es diese Kultur gibt, braucht man Verfassungsgerichte nicht – und wenn es sie nicht gibt, nutzen sie nichts.


Die Populisten stehen im Ruf, Feinde einer starken rechtlichen Einhegung des Mehrheitswillens zu sein, sie sind skeptisch gegenüber der Vorstellung, das Rechtliche sei etwas Unpolitisches, Neutrales, das der Politik ganz unschuldig, wie von außen gegenübertrete.16 Das halten viele für skandalös. Mark Tushnet und Bojan Bugarič geben in einem neueren Aufsatz aber zu bedenken, ob Populisten nicht »a better understanding of law as such, that is as ultimately instrumental, than their critics« hätten.17 Solche Verschiebungen deuten darauf hin, dass der Populismus nicht eine von außen kommende Infragestellung des acquis constitutionnel ist, sondern der Konstitutionalismus sich selbst in den letzten Jahrzehnten von Grund auf verändert hat. Die globale Ausbreitung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsrechtsprechung stehen im Zentrum dieser Transformation.


Solange Verfassungen tatsächlich die Spielregeln des demokratischen Wettbewerbs festlegen, wie es die Theorie der Verfassung als Rahmenordnung will, und nicht zu einem Sammelsurium des Schönen, Guten, Wahren werden (»blueprint for the good society«; »medley of liberal values«)18 oder – wie im Vertragsrecht der Europäischen Union – der Konstitutionalisierung eines grenzüberschreitenden kapitalistischen Marktmodells dienen, reagieren politische Öffentlichkeiten üblicherweise sensibel auf Versuche der Regeländerung. Denn diese können als Hinweis dafür genommen werden, dass hier womöglich jemand den demokratischen Machtwechsel unwahrscheinlicher machen möchte. Das aber wäre in der Demokratie eine Entmachtung des Demos, und das können auch die nicht wollen, die sich zur momentanen Mehrheit rechnen. Denn sie wissen, dass andere Zeiten auch andere Politiken erfordern werden und dass ihre zukünftigen Präferenzen sich von ihren gegenwärtigen womöglich unterscheiden. Dafür möchte man zumindest die Möglichkeit offenhalten. Warum also sollte ich mein zukünftiges Ich entmündigen, warum sollte sich mein zukünftiges Ich freiwillig in die Gefangenschaft meines jetzigen begeben? Das ist auch der durchschnittlichen ungarischen Fidesz-Wählerin, dem durchschnittlichen türkischen AKP-Wähler nicht unbedingt eingängig zu machen.


Mit Blick auf den Umstand, dass der Angriff auf das israelische Verfassungsgericht heute eine andere öffentliche Reaktion hervorruft als die Entmachtung des ungarischen und polnischen Verfassungsgerichts 2010ff. und 2015ff., braucht man dann nicht sofort über die unterschiedliche demokratische Reife von Öffentlichkeiten zu spekulieren. Könnte es doch auch daran liegen, dass etwa das in den 1990er Jahren extrem aktivistische, aggressive, eine eigene Agenda verfolgende Verfassungsgericht Ungarns sehr viel weniger glaubwürdig als ehrlicher Hüter demokratischer Spielregeln erscheinen konnte. So oder so zeigt aber das israelische Beispiel, dass, wenn überhaupt, die Demokratie den Rechtsstaat rettet, und nicht etwa umgekehrt.


Die insurance theory of judicial independence verbleibt jedoch innerhalb der Logik regelmäßiger demokratischer Machtwechsel, und es wäre damit noch nicht geklärt, was den ganz außerordentlichen weltweiten Konstitutionalisierungsschub seit den 1990er Jahren erklärt, also die langfristige und grundsätzliche Verschiebung zwischen dem Majoritären und dem Nichtmajoritären, die damit vollzogen wurde. Immerhin ist sie es, die man mit guten Gründen für die gegenwärtige politische Unruhe zumindest mitverantwortlich machen kann. Eine naheliegende Erklärung fällt aus: Wenn Rechtsstaatlichkeit wesentlich als Resultat eines funktionierenden Parteienwettbewerbs zu verstehen ist, könnten ja aktuelle Defizite des Parteienwettbewerbs eventuell ihre Krise erklären. Aber durch Wahlen induzierte Machtwechsel sind seit 1980 nicht seltener geworden, eher im Gegenteil19 – obwohl ein solcher Rückgang nach den Diagnosen eines globalen Aufstiegs der Autokratien schon längst beobachtet hätte werden müssen.

Schon an dieser Stelle der Überlegungen lassen sich zwei Einsichten im Hinblick auf aktuelle Diskussionen über die Krise der Demokratie formulieren. Erstens: Skepsis ist angebracht, wenn immer wieder einmal behauptet wird, es gehe um die Verteidigung der Demokratie gegen ihre neuen Feinde. Grundsätzlich wäre jedes Mal zu fragen: um welche beziehungsweise um wessen Demokratie? Und zweitens: Die langfristigen Verschiebungen hin zu möglichst umfassenden institutionellen

Beschränkungen des Mehrheitswillens unter der Grobzuschreibung und dem Passepartout »liberale Demokratie« scheinen von grundlegenderen Verschiebungen im politisch-sozialen Gleichgewicht von Gesellschaften zu zeugen, sie künden davon, dass hier ein Milieu seine Macht zur arrondieren versucht – ein Milieu, dessen weiterhin vorherrschende Kontrolle über die Deutung des Geschehens mit seiner abnehmenden Kontrolle über dessen Dynamik einhergeht. Seine Kategorien herrschen noch, aber sie tragen immer weniger zur Beherrschung der Lage bei.

Die Gründe dieser ebenso selbstbezogenen wie dysfunktionalen Beschreibungen wären zu ermitteln. Zu erkunden wäre, was sich längerfristig (und nicht nur im üblichen demokratischen Wechsel zwischen einer Regierung und einer Opposition) verschoben hat. Recht besehen müsste es also darum gehen, eine Politische Ökonomie der liberalen Demokratie zu entwickeln, die sich in gewisser Weise als notwendiges Komplement zu einer Politischen Ökonomie des Populismus versteht.20 Das würde auf die richtige und wichtige Anregung reagieren, sich doch nicht nur andauernd mit den neuen,


echten oder eingebildeten, Verlierern zu beschäftigen, sondern auch einmal mit den Gewinnern, also den neuen, überaus sendungsbewussten Mittelklassen, mit deren politischem Projekt, aus dem heraus die neuen Zeitdiagnosen von den Selbstgefährdungen der elektoralen Demokratie überhaupt erst verstanden werden können.21 Es scheint aussichtsreicher und ergiebiger, sich mit den Prozessen gegenwärtiger politischer Normensetzung, Normierung, Normalitätsdefinition, mit den Normalitätsdefinierern zu befassen, mit den politischen Prämien auf den Besitz der Kategorisierungsmacht – aussichtsreicher jedenfalls als mit denen, die durch sie als Abweichler konstituiert werden. Denn die obsessive Beschäftigung mit Letzteren, die die Sozialwissenschaften seit nun fast zwanzig Jahren praktizieren, hat ja doch immer nur die vorherrschenden Abgrenzungen nachvollzogen und damit zertifiziert. Conjurements

Rest, rest, perturbed spirit …


2015 hatte Cas Mudde in einem Meinungsbeitrag im Guardian mit dem Titel The problem with populism diesen als »illiberale demokratische Antwort auf einen undemokratischen Liberalismus« bezeichnet, um sich dann im Weiteren aber ausschließlich mit dem Populismus und seinem mangelnden Liberalismus, nicht aber mit dem Liberalismus und seinem problematischen Verhältnis zur Demokratie zu beschäftigen.


Der Populismus ist ein Gegner der liberalen Demokratie – sagen Liberale, und dabei bleibt im Dunkeln, wo diese Gegner so zahlreich plötzlich herkommen. Die begriffliche Unschärfe, das Abstrahieren von jeder konkreten institutionellen Form, erlauben es zu unterschlagen, dass »die liberale Demokratie«, gegen die die Populisten protestieren, recht besehen nicht so viel älter ist als der Protest gegen sie selber – denn was den massiven Konstitutionalisierungsschub anbetrifft, ist das ein Vorgang, der sich wesentlich in den 1990ern vollzog. Was, ganz bequem aus einer bestimmten Perspektive, davon enthebt, darüber nachdenken zu müssen, ob die neue Ordnung den neuen Populismus nicht vielleicht erst hervorgebracht haben könnte. Mit dem Populismus ist der Liberalismus aber nicht mit seinem Gegner, sondern mit einem Gespenst, mit dem Geist der von ihm erstickten Politik, konfrontiert, der er doch einen so schönen, guten, so gerechten Tod bereitet hat – le spectre des lois.22

Die von der marxistischen Mutterkirche abgespaltene Hauntology-Sekte sollte man sich nicht ins Haus holen, wenn man auf Geisterjagd gehen will, denn sie jagt dem falschen Phantom nach.23 Die große liberale Landnahme der 1990er Jahre war nicht in erster Linie eine ökonomische,24 sondern eine politisch-konstitutionelle. Beziehungsweise dort, wo sie auch eine


ökonomische war, also insbesondere in Europa, hatte sie die liberal-konstitutionelle Landnahme zu ihrer Voraussetzung, als Verlagerung von Steuerungskompetenzen im Dienste der enormen Intensivierung europäischer Marktintegration.25 Ein Gespenst geht um in Europa: der Populismus – so die gängige Diagnose. Dabei handelt es sich gar nicht um das problem with populism, sondern um das problem with liberalism, denn populism is the problem of liberalism. Aber das liberale Milieu ist ganz davon überzeugt: Man muss der Leiche nur etwas fester und etwas länger den Hals zudrücken, dann ist es sicher auch bald mit den politischen Spukerscheinungen und dem Wiedergängertum der Politik vorbei.



Anmerkungen


10 Peter Mair, Ruling The Void. The Hollowing Of Western Democracy. London: Verso 2013; Armin Schäfer /Michael Zürn, Die demokratische Regression. Berlin: Suhrkamp 2021. Den Begriff »Euthanasie der Politik« selber übernehmen Schäfer und Zürn von Jan-Werner Müller (Das demokratische Zeitalter. Berlin: Suhrkamp 2013).

11 »Die israelische Mapai-Partei (Arbeiterpartei) und ihre überwiegend säkulare, dem Establishment zugehörige aschkenasische Wählerschaft lehnte jahrzehntelang eine richterliche Kompetenz zur Normenkontrolle ab, aber setzte sich ab dem Moment für sie ein, ab dem die politischen Mehrheitsverhältnisse sich zu ihren Ungunsten entwickelten.« Ran Hirschl, Constitutional Theocracy. Cambridge /Mass.: Harvard University Press 2010.

12 Um die israelische Justizreform besser zu verstehen vgl. auch Eva Illouz, Vom Paradox der Befreiung zum Niedergang der liberalen Eliten. In: Heinrich Geiselberger (Hrsg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit (Berlin: Suhrkamp 2017).

13 Auch aus britischer Perspektive fällt es nicht so ganz leicht zu erklären, worin genau denn nun das besonders Ruchlose der israelischen Justizreform besteht: »There is a profound irony, for UK lawyers at least, in the reforms now being demanded by the ultra-nationalist coalition which is keeping Benjamin Netanyahu in office (and off the dock). These include shifting judicial appointments and promotions, at present made by a nine-member committee drawn from government, parliament, bench and bar, into the hands of politicians; restricting the power of the courts to declare legislation incompatible with the Basic Law; and reducing the advice given by the attorney general from its present near oracular status to that of contestable opinion. The irony is that the UK, with a constitution composed of common law, statute and convention, has an attorney general who is anomalously both the government’s independent legal advisor and one of its ministers; […] Until the creation in 2006 of a judicial appointments commission, all UK judiciary appointments were made in private by a politician, the lord chancellor. So far as concerns the possibility of judges striking down constitutionally offensive primary legislation, the UK Supreme Court earlier this year reiterated: ›The most fundamental rule of UK constitutional law is that Parliament, or more precisely the Crown in Parliament, is sovereign and that legislation enacted by Parliament is supreme‹ – a rule that would empower the Knesset at any time to do whatever it wants to the Basic Laws, without any need for new constitutional powers.« Stephen Sedley, Cloudy Horizon. Constitutional Business. In: London Review of Books vom 13. April 2023.

14

Franz C. Mayer, Der Ultra-vires-Akt. Zum PSPP-Urteil des BVerfG v. 5.5.2020 – 2BvR 859/15 u.a. In: Juristenzeitung, Nr. 75/14 vom 17. Juli 2020. Vgl. auch Droht ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland? In: Legal Tribune Online vom 11. Mai 2020 (www.lto.de/recht/hintergruende/h/bverfg-urteil-ezb-eugh-ultra-vires-anleihekaeufe-vertragsverletzungsverfahren-deutschland-kommission-polen/).

15 Christoph Möllers, Unsere Werte. In: Merkur, Nr. 883, Dezember 2022.

16 Wie bei allen anderen auch gibt es einen Opportunismus der Lage – starke verfassungsgerichtliche Kontrolle wird von den Populisten eher kritisch gesehen, wenn sie an der Macht sind, und positiv bewertet als Schutzinstrument der Minderheit, wenn sie von der Macht ausgeschlossen bleiben.

17 Mark Tushnet /Bojan Bugarič, Populism and Constitutionalism. An Essay on Definitions and Their Implications. In: Cardozo Law Review, Nr. 42/6, April 2020.

18 Martin Loughlin, Against Constitutionalism. Cambridge /Mass.: Harvard University Press 2022.

19 Andrew Little /Anne Meng, Subjective and Objective Measurement of Democratic Backsliding. Paper vom 17. Januar 2023 (papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4327307).

20 Philip Manow, Die Politische Ökonomie des Populismus. Berlin: Suhrkamp 2019.

21 Carsten Nickel, Das Trilemma des bürgerlichen Politikbegriffs – ein Essay. In: Berliner Debatte Initial, Nr. 2/2003.

22 Martin Loughlin schildert den ausgreifenden Prozess der Konstitutionalisierung von Politik »at the cost of eviscerating the modern idea of democracy«: nehmen /teilen /ausweiden.

23 The Advisory Circle (alias Cate Brooks) hat ein neues Album veröffentlicht, wie immer auf dem Label Ghost Box (!). Mit Full Circle schließt sich tatsächlich ein Kreis. Vgl. Mark Fisher, Ghosts of My Life. Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures. Alresford: Zero Books 2014; Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Frankfurt: Suhrkamp 2003.

24

So wie es eine abundante und nicht sonderlich differenzierende Literatur über den Neoliberalismus will.

25

»Für was steht der Geist von Hamlets Vater? Schon vor einem Jahr stand er etwa für Stalin. Die Vaterfigur dieses Staates, der Geist von Europa. Dann ist die Frage, wer ist Fortinbras? […] entstanden ist jetzt, daß es nur geht mit der Stimme von Hamlet, daß Hamlet am Schluss Fortinbras wird. Kein Schauspieler spielt den Fortinbras. Nein, der Hamlet wird von dem Geist, der natürlich nicht mehr der Geist Stalins ist, sondern der Geist der Deutschen Bank, zu Fortinbras gemacht.« (Heiner Müller, Es war unvorstellbar – die Dummheit! [1990]. In: Werke, Bd. 11: Gespräche 2: 1987–1991. Frankfurt: Suhrkamp 2008). Es war aber vielleicht gar nicht in erster Linie (wenngleich natürlich auch) der Geist der Deutschen Bank. Philip Manow








Tabubruch mit Ansage Putins Krieg und das Recht

Angelika Nußberger, 7.4.2022



enständige Staaten[29] und bei der Annexion der Krim.[30] Allerdings ist – außerhalb des kolonialen Kontexts – allgemein anerkannt, dass das Selbstbestimmungsrecht nicht zu einer Abspaltung eines Gebiets von einem Gesamtstaat, sondern nur zu einem Recht auf adäquate Vertretung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe im Gesamtstaat führt, es sei denn, es wäre tatsächlich ihre Auslöschung zu befürchten („remedial secession“).[31] Auf diese Ausnahme aber hat sich Putin in allen Fällen – modelliert nach dem


Vorbild der Begründung der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo – berufen, allerdings ohne je Beweise für das Vorliegen der Voraussetzungen eines existenzauslöschenden Angriffs zu erbringen, die Anerkennung gefunden hätten. Dementsprechend ist es auch nur eine sehr kleine Zahl von Russland eng verbundenen Staaten, die Südossetien und Abchasien als unabhängige Staaten[32] oder die Krim als integralen Bestandteil der Russländischen Föderation[33] anerkannt haben, während die Unabhängigkeit des Kosovo mit 115 Anerkennungserklärungen weitaus größere Zustimmung gefunden hat.[34]

Ein „freies“ Selbstbestimmungsrecht all jener, die auf dem Territorium der Ukraine wohnen, aufgrund von Grenzverschiebungen aber in historischer Zeit zu anderen Staaten gehört haben, gibt es dagegen nicht im Völkerrecht; ein entsprechendes „Wahlrecht“ einräumen zu wollen, entbehrt jeder Grundlage; es würde die Stabilität der Staatenordnung insgesamt gefährden.

Und auch die mit der Rede vom 21.2.2022 erfolgte Anerkennung von Luhansʼk und Donecʼk als unabhängige Staaten ist ein klarer Verstoß gegen das Interventionsverbot und eine Missachtung bestehender Grenzen.[35] Dem Vortrag, die Anerkennung sei durch einen Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung dieser Gebiete ausgelöst worden, widerspricht Russland selbst im von der Ukraine initiierten Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof.


Genozid-Vorwurf

Die Ukraine rief am 26.2.2022 den Internationalen Gerichtshof in Den Haag an, um die Frage zu klären, ob ein Genozid[36] an der russischsprachigen Bevölkerung von Donecʼk und Luhansʼk vorliege und Russland daraus rechtliche Konsequenzen – bis hin zum Einsatz bewaffneter Gewalt – ziehen dürfe.[37] Russland hielt die Beschwerde für unzulässig, da – anders als von Art. IX Völkermordkonvention gefordert – kein Streit über die Auslegung der Konvention vorliege. Es weigerte sich so, an dem Verfahren überhaupt teilzunehmen, legte seine Position aber in einem an den IGH gerichteten Schreiben dar.[38] Darin berief sich Russland darauf, dass Putin in seiner Rede vom 24.2.2022 zwar von „Genozid“ gesprochen habe, dass diese Referenzen aber nicht auf die Völkermordkonvention bezogen gewesen seien[39] und die Russländische Föderation daher auch nicht anerkenne, dass ein Streit über die Auslegung dieser Konvention vorliege. Damit falsifiziert aber Russland selbst die These von Putin, auf der das gesamte Argumentationsgebäude mit der Anerkennung der neuen Staaten Luhansʼk und Donecʼk beruht. Der Anspruch, ein Recht auf Unabhängigkeit aus dem Selbstbestimmungsrecht abzuleiten, fällt in sich zusammen; die nach 2014 andauernden Grenzscharmützel würden den Voraussetzungen von „truly exceptional circumstances“ nicht genügen.

Dasselbe gilt für die Rechtfertigung der Gewaltanwendung mit der humanitären Intervention, die Putin nicht explizit erwähnt, die er aber mit den Verweisen auf die Parallelen zum Kosovo implizit aufruft.

Entnazifizierung

Mit dem Kriegsziel der „Entnazifizierung“ versucht Putin an das Narrativ des Zweiten Weltkriegs anzuknüpfen. Richtig ist, dass mit der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung immer auch nationalistische Elemente verbunden waren und die Freiheitskämpfern wie Stepan Bandera und Symon Petljura zugedachte Heldenrolle kontrovers und problematisch ist.[40] Die Regierung von Volodymyr Zelensʼkyj, der selbst

jüdischen Glaubens ist und eine differenzierte Geschichtspolitik verfolgt, als „Nazi-Regierung“ zu bezeichnen, ist aber schlichtweg absurd. Im Übrigen sind Heldenverehrung ebenso wie Regierungswahl „innere Angelegenheiten“ im Sinne von Art. 2 Abs. 7 UN-Charta und Ausdruck der Souveränität eines Volkes – jede Form des Eingriffs, und sei es unter dem Signum der „Entnazifizierung“, unterfällt völkerrechtlich dem Interventionsverbot.

Selbstverteidigungsrecht

Ausweislich dem an den Internationalen Gerichtshof gerichteten Schreiben Russlands ist das entscheidende Argument zur Rechtfertigung des Einsatzes von Gewalt das von Art. 51 UN-Charta garantierte Selbstverteidigungsrecht.[41]

Putins Argumentation bricht hier allerdings mehrfach. Er setzt das Selbstverteidigungsrecht in unmittelbaren Zusammenhang mit dem militärischen Eingreifen Russlands in vorausgehenden militärischen Konflikten, angefangen vom Tschetschenienkrieg, bei dem man gegen „Terroristen im Kaukasus“ habe

vorgehen müssen. „Wir haben […] die Integrität unseres Staates verteidigt, wir haben Russland gerettet“. Putin zieht von dort eine Linie zur Krim und zum Syrienkrieg, „um dem Eindringen von Terroristen aus Syrien nach Russland einen verlässlichen Riegel vorzuschieben.“[42] Man habe keine andere Möglichkeit gehabt, sich selbst zu verteidigen. Darin anschließend heißt es wörtlich:

„Heute geschieht wieder dasselbe. Man lässt uns, Ihnen und mir schlicht keine andere Möglichkeit, Russland und unsere Leute zu verteidigen. Es bleibt nur der Schritt, zu dem wir uns heute gezwungen sehen. Die Umstände verlangen entschlossenes und rasches Handeln. Die Volksrepubliken im Donbass haben ein Hilfegesuch an Russland gerichtet.“[43]

Damit aber vermischt er zwei rechtliche Begründungen, das individuelle Selbstverteidigungsrecht Russlands gegen einen ihm unmittelbar geltenden bewaffneten Angriff und das kollektive Selbstverteidigungsrecht, wenn es einen anderen Staat, der von seinem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch macht, zu unterstützen gilt. Das „Sich-selbst-Verteidigen“ und das „Um-Hilfe-gebeten-Sein“ stehen unverbunden nebeneinander.


Aus der Sicht des Völkerrechts ist auch hier die Argumentation so haltlos, dass man kaum von einer „Argumentation“ sprechen kann. Zur Begründung des individuellen Selbstverteidigungsrechts wird keinerlei Nachweis für einen „gegenwärtigen bewaffneten Angriff“ auf Russland geliefert.[44] An einer Stelle der Rede vom 24.2.2022, nach einer Aufzählung von gegen die NATO gerichteten Vorwürfen, heißt es, die


nationalistischen Gruppen und Neonazis „fordern jetzt auch noch eigene Nuklearwaffen“.[45] An anderer Stelle wird davon gesprochen, die Militarisierung der Grenzregionen sei nicht tolerierbar. Außerdem bestünde die Gefahr, dass die Krim und Sevastopolʼ zurückerobert würden. All diese Anschuldigungen beinhalten aber nicht mehr als Verweise auf mögliche Pläne und Absichten. Dies reicht aber nicht für die Annahme eines „bewaffneten Angriffs“ auf Russland aus, dieser müsste entweder bereits erfolgen oder unmittelbar bevorstehen. Einen konkreten Angriff nachzuweisen macht Putin aber keinen Versuch.

So bezieht er sich im entscheidenden Teil seiner Rede vom 24.2.2022 auf das kollektive Selbstverteidigungsrecht und auf die mit der Volksrepublik Doneck und der Volksrepublik Lugansk geschlossenen Verträge über Freundschaft und gegenseitigen Beistand. Aber auch diese Argumentation kann vor dem Völkerrecht nicht bestehen. Zum einen ist, wie bereits ausgeführt, die Anerkennung dieser „Volksrepubliken“ selbst ein gegen das Interventionsverbot verstoßender Akt, da es sich um Teile des international anerkannten ukrainischen Territoriums handelt. Zudem hätte eine derartige Form der kollektiven Selbstverteidigung aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch nie Bombenangriffe auf die gesamte Ukraine in einem das Land in seiner Existenz bedrohenden Ausmaß rechtfertigen können.

Das bedeutet, dass Putin zwar die von Art. 51 UN-Charta geforderten Formalitäten – die offizielle Information des Sicherheitsrats – einhält, der Versuch einer Rechtfertigung des bewaffneten Angriffs aber scheitert; was immer – andeutungsweise – vorgebracht wird, ist inhaltlich ohne jede Substanz.[46]

Der bewaffnete Angriff gegen die Ukraine stellt sich somit als Bruch zwingenden Völkerrechts (ius cogens) dar.

Damit könnten sich andere Staaten auf das kollektive Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta berufen; unterstützten sie die Ukraine, würden sie völkerrechtskonform handeln.[47] Aber nicht alles, was man völkerrechtlich „darf“, „will“ man auch – der Westen greift nicht ein, weil er die Konsequenzen fürchtet. Dies würde sogar dann gelten, wenn sich nachweisen lässt, dass Russland seinerseits bei seinen Angriffen und bei der Belagerung ukrainischer Städte gegen das Völkermordverbot verstößt – dies ist der Vortrag der Ukraine vor dem Internationalen Gerichtshof. Zwar wird für diesen Fall auf der Grundlage der sogenannten „Responsibility to protect“ ein Recht zum Eingreifen völkerrechtlich gefordert.[48] Allerdings gilt dies nur auf der Grundlage einer Zustimmung des Sicherheitsrats – die gegen Russland nicht zu erlangen ist. Zudem bestünde auch dann nur ein Recht, nicht aber eine Pflicht einzugreifen.


Sind aber die Staaten zur Unterstützung der Ukraine nicht rechtlich verpflichtet, bleibt es bei einem Appell an das moralische Gewissen der Menschheit. Dass bei der Entscheidung über ein Eingreifen die Gefahr eines dritten Weltkriegs zu berücksichtigen ist, zeigt die Tragik und das Dilemma der Situation. Putins Aussage dazu in seiner Kriegsrede vom 24.2.2022 war klar:


„Und jetzt einige wichtige, sehr wichtige Worte an alle, die versucht sein könnten, sich von außen in den Gang der Ereignisse einzumischen. Wer immer sich uns in den Weg stellt oder gar unser Land, unser Volk bedroht, muss wissen, dass Russlands Antwort augenblicklich erfolgen wird, und sie wird Folgen für Sie haben, wie Sie sie in ihrer Geschichte noch nicht erlebt haben. Wir sind auf alle Entwicklungen vorbereitet. Alle notwendigen Entscheidungen sind getroffen. Ich hoffe, meine Worte werden gehört.“[49]

Worte und Waffen: rechtliche Verpflichtungen zur Beendigung der Gewalt

Der Bruch zwingenden Völkerrechts ist offenkundig. Dementsprechend wurden auch alle zur Verfügung stehenden rechtlichen Mechanismen eingesetzt, um eine Beendigung der Gewaltausübung zu erreichen – allerdings bisher ohne Erfolg.

Die einstweiligen Anordnungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Eine der ersten Anlaufstellen für die Ukraine war der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der unmittelbar mit dem Erlass von einstweiligen Anordnungen reagierte. So verfügte er auf Antrag der Ukraine am 4.3.2022, Russland müsse,

„von militärischen Angriffen auf Zivilisten und zivile Objekte, einschließlich Wohnhäusern, Einsatzfahrzeugen und anderen besonders geschützten zivilen Objekten wie Schulen und Krankenhäusern, absehen und unverzüglich die Sicherheit der medizinischen Einrichtungen, des Personals und der Einsatzfahrzeuge in dem von den russischen Truppen angegriffenen oder belagerten Gebiet gewährleisten.“[50]

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Europarat, die Mutterorganisation des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der Russländischen Föderation aber bereits die Repräsentationsrechte entzogen.[51] Um einem Ausschluss zuvorzukommen, erklärte der Außenminister der Russländischen Föderation Sergej Lavrov mit Schreiben vom 15. März 2022 den Austritt Russlands aus dem Europarat und kündigte zugleich die Europäische Menschenrechtskonvention, und dies nicht mit diplomatischer Sachlichkeit und Knappheit, sondern mit Vorwürfen und Unterstellungen – der Europarat habe diskriminierende Entscheidungen gegen Russland getroffen und sich für geopolitische Ziele instrumentalisieren lassen. Aufgrund des „beispiellosen Drucks der Sanktionen“ behalte man sich einen Austritt „zu den eigenen Konditionen“ vor.[52] Mit einer Resolution vom 16. März stellte daraufhin das Ministerkomitee des Europarats die sofortige Beendigung der Mitgliedschaft fest;[53] der Gerichtshof beschloss noch am selben Tag, die Behandlung aller noch anhängigen russischen Beschwerden zu suspendieren,[54] entschied aber wenige Tage später, am 22.3.2022, die Arbeit an den gegen Russland gerichteten Fällen wieder aufzunehmen und erklärte sich für neu eingehende Beschwerden für weitere sechs Monate bis zum 16.9.2022 für zuständig.[55] Wie die weitere praktische Arbeit in dieser Zeit aussieht, ist allerdings offen. Es ist weder zu erwarten, dass die russländische Regierung die erforderlichen „goverment observations“ schickt, noch dass der Gerichtshof überhaupt die Beschwerdeführer über den Ausgang der Verfahren informieren kann. Die einstweiligen Anordnungen des Gerichtshofs mögen damit theoretisch weiterhin verbindlich sein, da sie in der Zeit der Mitgliedschaft der Russländischen Föderation im Konventionssystem getroffen wurden. Eine Umsetzung zu erwarten wäre allerdings weltfremd.

Die einstweilige Anordnung des Internationalen Gerichtshofs

Eine einstweilige Anordnung hat auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag auf der Grundlage des Verfahrens zur Interpretation der Völkermordkonvention erlassen.[56] Darin heißt es, die Russländische Föderation müsse die von ihr im Hoheitsgebiet der Ukraine begonnenen militärischen Operationen unverzüglich einstellen; nur der russische Richter und die chinesische Richterin votierten dagegen, die dreizehn anderen Richterinnen und Richter stimmten dafür. Der Sprecher von Präsident Putin, Dmitrij Peskov, argumentierte allerdings, die Entscheidung könne nicht berücksichtigt werden, da internationale Gerichtsbarkeit auf Konsens beruhen müsse, es hier aber keinen Konsens gäbe.[57]

Die Resolution der Generalversammlung

Last but not least hat die UN-Vollversammlung in unerwarteter Klarheit den bewaffneten Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt, mit 141 gegen fünf Stimmen bei 34 Enthaltungen; mit Russland gestimmt haben lediglich Belarus, Nordkorea, Eritrea und Syrien.[58] Aber, anders als die Resolutionen des Sicherheitsrats, sind die Resolutionen der UN-Vollversammlung nicht bindend.[59] Und selbst wenn sie es wären – Russland hat längst unter Beweis gestellt, dass es in diesem Konflikt das Recht nicht zu achten bereit ist. Ob die Existenz des Atomwaffenarsenals letztlich dafür ausreicht, dass Recht auf Dauer und nicht nur vorübergehend der Macht weichen muss, ist zur Schicksalsfrage nicht nur für Europa geworden.

Angelika Nußberger (1963), Prof. Dr. iur., Dr. h.c., M.A., Direktorin der Akademie für europäischen Menschenrechtsschutz an der Universität zu Köln, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht des Europarates, der sogenannten Venedig-Kommission


– Christine Chinkin: The legality of NATO’s action in the former re