Benutzer:Baiofs/Autoritäres oder liberales Strafrecht

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

TEXT:

Niemand wird heute noch leugnen wollen, dass wir in einem Zeitalter der Kulturkrise leben. Es ist selbstverständlich, dass in einer solchen Zeit auch die Rechtsordnung, die doch nur die äußere Form für ethische, politische und wirtschaftliche Inhalte abgibt, ergriffen worden ist von jenem elementaren, unerhört tiefgreifenden Umschichtungsprozess politischer, sozialer, ökonomischer, ja überhaupt aller geistigen Werte, dessen bewusste Zeugen wir sind. Das unmittelbar hinter uns liegende Stadium der Krise war auf allen Gebieten gekennzeichnet durch den Kampf, in dem eine junge Rechte mit Individualismus, Rationalismus und Materialismus um die Überwindung der Aufklärung focht. Gerade unter den Jüngsten halten viele dieses Stadium heute schon für beendet. Sie glauben, das Wort von dem Kampf der „Politik aus Glauben“ gegen den „Glauben aus Politik“ charakterisiere nicht nur die neuen Fronten, sondern deute zugleich negativ an, dass in dem Kampf zwischen Vernunft und Glauben der Glaube, von dem allein noch die Rede sei, den Sieg davongetragen habe.

In einer solchen Situation bedarf es der Rechtfertigung, wenn in dieser Schrift für den Bereich des Strafrechts die bisherige Antithese zwischen liberalem und autoritärem Staat wiederaufgenommen wird. Es mag richtig sein, dass auf manchen Gebieten, so von den juristischen Disziplinen im Staatsrecht, nicht nur die politische, sondern auch die geistige Diskussion sich bereits neuen Problemen zugewendet hat, dass dort die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Richtungen innerhalb der Recht schon beginnt und der Gegensatz von konservativem und totalitärem Staat bereits aktueller ist als der Kampf gegen den anscheinend schon besiegten Liberalismus. Von dort aus gesehen ließe sich unser Unternehmen nur rechtfertigen durch die Überlegung, dass auch „Nachhutgefechte“ notwendig sind und durchgefochten werden müssen. Indessen scheint uns überhaupt dies Wort vom „Nachhutgefecht“ eine falsche Kennzeichnung der heutigen Lage zu enthalten. Noch gibt es weite Provinzen des Geisteslebens, in denen rationalistisch-individualistisches Denken sich bisher völlig ungestört behauptet hat, und andere, in denen die Auseinandersetzung eben erst begann. Zu den Provinzen der letzteren Art gehört auch das Strafrecht.

Damit sind zugleich Thema und Ziel dieser Schrift bestimmt. Sie will nicht eine wissenschaftliche Abhandlung sein. Indem sie lediglich mit dazu beitragen möchte, die neue Richtung auch auf dem Gebiet des Strafrechts deutlich zu machen und zu zeigen, wie man vom Standpunkt der Jüngeren aus die bisherige und die zukünftige Strafrechtsentwicklung sieht, verfolgt sie bescheidenere und doch auch wieder weitere Ziele. Durch Presse, Film, Bühne und Literatur wurde die deutsche Öffentlichkeit seit langem daran gewöhnt, das, was auf dem Gebiet des Strafrecht jung und „fortschrittlich“ ist, mit einer seichten Sentimentalität und Humanitätsduselei gleichzusetzen. Die Folge war jene „Parteinahme der Öffentlichkeit für den Verbrecher“, die wesentlich mit beigetragen hat zu der Auflösung des Strafrechts und zur Erschütterung der Staatsautorität. Gerade hier gilt es, eine Bresche zu schlagen, und deshalb wendet sich die Schrift nicht nur an die enge Gruppe der Fachleute, sondern darüber hinaus an einen größeren Kreis staats- und kulturpolitisch interessierter Menschen. Vorher jedoch ist noch zwei Missverständnissen vorzubeugen, welche heute denen, die auf irgendwelchen geistigen Gebieten autoritäre Zielsetzungen verfechten, immer wieder entgegentreten:

  1. Es ist falsch, solche Zielsetzungen ohne weiteres parteimäßig zu etikettieren, sie also etwa „nationalsozialistisch“ oder „deutsch-national“ zu nennen und demgemäß zu beurteilen. Wer das tut, verkennt noch immer, dass die politischen Parteien und Gruppen der Rechte, so vor allem auch der Nationalsozialismus, heute nur der tagespolitische und deshalb offenkundige Ausdruck einer weit breiteren und tiefen geistigen Bewegung sind, welche besonders die Jugend ergriffen hat, in sich sehr viel differenzierter ist, als jene Parteiorganisationen es andeuten und eben darum auch in ihrem Erfolg oder Misserfolg unabhängig sein wird von dem Obsiegen einer einzelnen politischen Partei oder Regierung. Auch in der Kriminalpolitik ist diese Bewegung weder tagespolitisch gebunden noch überhaupt völlig einheitlich, sondern die Gemeinsamkeit ihrer Anhänger besteht vornehmlich in einer gleichen weltanschaulichen „Grundstimmung“. Die Verfasser sind keineswegs bereit, alles, was auf dem Strafrechts jemals von nationalsozialistischer Seite getan oder gesagt worden ist, kritiklos zu billigen. Aber sie glauben darum auch, durch den Hinweis auf solche Äußerungen oder Handlungen nicht widerlegt zu werden.
  2. Des weiteren werden diejenigen enttäuscht sein, welche von dieser Schrift völlig neue Gedanken erwarten. Die Erfindung neuer Strafzwecke ist heute weder möglich noch erforderlich. Gerade konservativ-organisches Rechtsdenken wird den radikalen Bruch mit der Vergangenheit vermeiden und in den entscheidenden Fragen anknüpfen an eine seine große Tradition, an die Lehren Savignys und Hegels. Darum kann es sich hier nicht so sehr um neue Erkenntnis als um ein grundsätzliches Bekenntnis handeln.

I: Die Erscheinungsformen des Individualismus in der modernen Strafrechtsentwicklung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der Natur der Strafe als des Stärksten und offenkundigsten Eingriffs einer höheren Macht in die Sphäre des Einzelnen ist es begründet, dass die Strafrechtsauffassungen aller Zeiten nur eine Funktion der jeweiligen Anschauungen über das Verhältnis zwischen Einzelindividuum und überpersönlichen Gewalten, insbesondere Staat, Kirche und Gott, gewesen sind. Der Strafzweck und die sittliche Rechtfertigung der Strafe, die Art ihrer Ausgestaltung, vor allem aber auch die Voraussetzungen ihrer Verhängung und die Garantien, die dem Einzelnen gegen ungerechte Verfolgung gewährt werden, alle diese Fragen sind in ihrer jeweils gültigen Lösung weltanschaulich bedingt. Wer die Einzelindividuen (genauer: ihre Freiheit oder Gleichheit oder Wohlfahrt) selbst als höchstes und einzigen Wert anerkennt, wird sie anders entscheiden als der, welcher neben und über ihnen höhere, überindividuelle Werte für die Rechtsordnung bestimmend sein lässt. Nachdem seit dem Mittelalter der Staat die Bestrafung der Verbrecher mehr oder minder ausschließlich für sich in Anspruch genommen hat, mussten notwendig Sinn und Inhalt der Strafe durch Sinn und Inhalt des Staates bestimmt werden. So spiegelt sich seither in der Strafrechtsgeschichte die Geschichte des Staatsgedankens wider.

Für die deutsche Staats- und Kulturentwicklung der Neuzeit ist es typisch, dass in ihr niemals eine Idee völlig rein und einschränkungslos zum Ausdruck gekommen ist. Das gilt namentlich auch für jenes zweite Reich, wie es von 1871 bis zur Revolution von 1918 bestand. Gustav Radbruch hat es sehr treffend ein recht eigentlich „national-liberales Gebilde“ genannt und aus dieser Verschmelzung konservativer und liberalistisch-individualistischer Elemente auch seine Strafrechtsordnung zu erklären versucht. Wie der alte Staat zugleich Obrigkeitsstaat und Rechtsstaat war, so trafen sich in der weltanschaulichen Fundierung und Einzelgestaltung seines Strafrechts Konservatismus und Liberalismus in den Prinzipien der Vergeltung und Abschreckung, auf denen das Strafgesetzbuch von 1871 beruht.

Vom konservativen Standpunkt ist die Strafe „Herstellung der Herrlichkeit des Staates durch die Vernichtung oder das Leiden dessen, der sich wider Sie empört hat“, also Bewährung der Staatsautorität. Zugleich bringt die konservative Auffassung des Staates als einer sittlichen Institution die staatliche Bewertung des Rechtsbruches mit der ethischen Bewertung in Einklang.

Auch der Liberalismus kann die Vergeltungsstrafe hinnehmen. Freilich ist sie für ihn nicht so sehr Wiederherstellung der Staatsautorität als Genugtuung für das einzelne Opfer des Verbrechens. Nichts ist natürlicher, als dass eine Zeit, in welcher der Liberalismus die Erscheinungsform des Kapitalismus annahm, für eine solche Betrachtung des Strafrechts vom Verletzten der besonderes Verständnis zeigte. Aber auch den Vorteil hat vom liberalen Standpunkt die Vergeltungsstrafe, dass sie, indem sie die zu vergeltende Tat zum letzten, genau bestimmbaren Maßstab hat, die Freiheitssphäre des einzelnen Bürgers vor staatlichen Übergriffen weit besser zu schützen scheint als die ihr entgegengesetzte, an die Persönlichkeit des Täters anknüpfende und daher notwendig unbestimmtere Erziehungs- und Sicherungsstrafe. Dazu kommt weiter, dass es überhaupt der liberalen Anschauung widersprechen muss, sich mit der Idee der staatlichen Erziehung einem erwachsenen Verbrecher zu nähern. So gesehen, kann auch ein reines Vergeltungsstrafrecht individualistisch begründet werden.

Indessen beschränkt sich der liberale Einfluss im Strafrecht des alten Reichs nicht im Vergeltungsprinzip und seinen Einwirkungen auf Strafe und Schuld. Von mindestens gleicher Bedeutung ist, dass der § 2 des Strafgesetzbuches mit dem Satz nulla poena sine lege, keine Bestrafung ohne vorherige ausdrückliche gesetzliche Strafandrohung, dem Richter die Möglichkeit nimmt, die Freiheit des einzelnen durch Bestrafung auch in solchen Fällen zu beschränken, die vom Gesetzgeber nicht als strafwürdig vorhergesehen waren. Erst dieses Verbot berechtigte Franz von Liszt dazu, das Strafgesetzbuch die magna charta des Verbrechers zu nennen. Es ist nichts weiter als die strafrechtliche Erscheinungsform des Prinzips der Gewaltenteilung, das seit Montesquieu das Fundament aller liberalen Gesetzgebungskunst darstellt. Soweit möglich, wird die Bewertung einer Tat dem Gesetzgeber vorbehalten; der Richter hat nur die konkreten Sachverhalte aufzuklären und mittels logischer Schlüsse festzustellen, ob jene die abstrakten Strafbarkeitsvoraussetzungen des Gesetzes erfüllen.

Der gesetzlichen Ausprägung der Gewaltenteilung entsprach wiederum die in den Vorkriegsjahrzehnten herrschende „begriffsjuristische“ Methode der Gesetzesauslegung, die ihre philosophische Grundlage im Relativismus und Positivismus fand. Sie verfuhr streng formal-logisch, hielt sich vor allem an den Wortlaut des geschriebenen Rechts und lehnte ein Zurückgehen auf den dahinterstehenden Zweck der Rechtslage und das „natürliche Recht“ ab. Auch sie beruhte teils bewusst, teils unbewusst auf der Vorstellung, es könne und müsse im Interesse des Rechtssicherheitsgedankens die Wertung und Zweckerwägung dem Gesetzgeber vorbehalten werden.

Zu den strafrechtlichen Auswirkungen des Gewaltenteilungsgedankens gehört aber vor allem auch das Prinzip der Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit der Richter. Durch sie glaubte man umgekehrt, Eingriffen der gesetzgebenden und der ausführenden Gewalt in die Rechtspflege ausschließen zu können.

Mit dem alten Staat verschwand auch das „national-liberale“ Strafrecht. Freilich nicht auf einmal und plötzlich, sondern im Verlauf jahrzehntelanger Entwicklung, deren Anfänge schon im ausgehenden 19. Jahrhundert liegen, und deren Abschluss auch heute noch nicht erreicht ist. Wie der neue Staat von Weimar in seiner Verfassung, seiner sozialen und ökonomischen Struktur, vor allem aber auch in seiner Kulturpolitik auf einer Verschmelzung liberalistischer und sozialistischer Gedankengänge beruht, so ist auch die Strafrechtsentwicklung der letzten Jahrzehnte von der gleichen Ideenverbindung beherrscht.

Dass in dieser Kombination der Liberalismus vielfacher andere Ausprägungsformen annehmen musste als bei seiner Vereinigung mit dem konservativ-autoritären Gedanken, ist begreiflich und darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch im Strafrecht des Weimarer Staats liberale Prinzipien auf das Stärkste wirksam geworden sind. Für die Beurteilung der strafrechtlichen Auswirkungen des Sozialismus ist von entscheidender Bedeutung die Feststellung, dass auch er, ebenso wie der Liberalismus, eine individualistische Bewegung ist. In der Feststellung dieser Tatsache ist heute die konservative Staatsphilosophie mit der Sozialistischen einig. Für Marx wie für Rousseau ist die Welt nur eine Summe von Individuen und der Staat nichts als ein künstlich geschaffenes Ordnungsinstrument, bestimmt zum Dienst am Individuum. Letztlich ist auch der Sozialismus eine „Frucht der Aufklärung“ (Binder, Bortolotto). Vom Liberalismus trennt er sich „nicht schon in der Frage der Rechtfertigung des Staates, sondern erst vor dem Problem der Grenzen der Staatstätigkeit“ (Radbruch).

Dass der individualistische Charakter des Sozialismus solange verkannt und der Begriff Individualismus auf den Liberalismus beschränkt worden ist, trägt gerade in der Kriminalpolitik auch heute noch viel zur Verwirrung der Diskussion bei, ist aber andererseits erklärlich vom Standpunkt einer Generation aus, die durch die Umstände daran gewöhnt war, in dem älteren Liberalismus und dem jüngeren Sozialismus die beiden allein noch lebendigen Kräfte im geistigen Ringen der Zeit zu sehen und für die deshalb jene Antithese Liberalismus-Sozialismus oder Kapitalismus-Marxismus ein unausgesprochenes tertium non datur enthielt. Dabei übersah man, dass auch für Marx, Engels und Lenin der Staat nicht, wie etwa für Hegel, das Endziel der Geschichte, sondern nur eine Übergangsstufe ist, die überwunden werden muss. Als letztes und angestrebtes Ziel der Entwicklung tritt nach dem „Kommunistischen Manifest“ „an die Stelle der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Im individualistischen Endziel sind sich also Liberalismus und Sozialismus einig, nur dadurch entsteht ein Gegensatz zwischen ihnen, dass der Liberalismus glaubte, sein Freiheitsideal sofort und ohne Übergangsformen verwirklichen zu müssen, während der Sozialismus erkannte, dass in der gegenwärtigen unvollkommenen Gesellschaft die Freiheit einzelner Starker die Unfreiheit der unterdrücken Masse zur Folge haben muss.

Der liberale Staat soll vor allem die Freiheit, der sozialistische aber die Gleichheit oder besser noch: die „gleiche Freiheit“ seiner Bürger garantieren. Mit dem Gleichheitsprinzip rückt das Individuum aus seiner Isolierung heraus und tritt von selbst die Masse und ihr Wohlfahrt in die erste Linie der staatlichen Aufgaben. Die Gewährleistung der Gleichheit aber lässt sich nicht erreichen ohne mehr oder minder erhebliche Eingriffe in die Freiheit des Individuums. So kommt es, dass trotz der Gemeinsamkeit des Ausgangspunktes die Idee des Wohlfahrts- und Fürsorgestaates in einen gewissen Gegensatz zur Idee des liberalen Rechtsstaates tritt.

Die Staatsumwälzung von 1918 jedoch ersetzte nur ein Kompromiss durch das andere. Ohne den Freiheitsgedanken zu beseitigen, trat der Wohlfahrtsgedanke hinzu. Das Ergebnis war wenigstens theoretisch ein Höchstmaß von Vorteilen für das Individuum, das zwar selbst von den Verpflichtungen gegenüber dem Staat und seinen Eingriffen weitmöglich freibleibt, aber doch durch ihn positive Förderung und Fürsorge empfängt. Wie mehr oder weniger auf allen Gebieten, so musste auch im Strafrecht das liberalistisch-sozialistische Kompromiss zur Überbetonung der gemeinsamen individualistischen Grundlage und damit zur immer stärkeren Zurückdrängung der Strafe als einer staatlichen Übelszufügung gegenüber dem Einzelnen führen. Dem entspricht es, dass sich in der unmittelbar hinter uns liegenden Periode in allen Zweigen der Strafrechtspflege, so in der Gesetzgebung, in der Rechtsprechung, im Strafvollzug und der wissenschaftlichen Lehre, Erscheinungen mehrten, welche in ihrem Endergebnis auf eine allmähliche Auflösung des Strafrechts hinauslaufen, Erscheinungen, von denen manche ohne Zweifel als Einzelvorgänge zu begrüßen sein würden, die aber doch in ihrer Häufung und Einseitigkeit die Symptome eines verhängnisvollen Zerfalls darstellen.

Die Gestaltungstendenzen, welche die Strafrechtsentwicklung im „sozial-liberalen“ Staat im Gegensatz zum „national-liberalen“ Staat charakterisieren, gruppieren sich vor allem um drei Punkte: einmal um die veränderte Bestimmung der Strafzwecke, sodann um die Verschiebungen, die sich in der Bewertung der durch das Strafrecht zu schützenden Interessen („Rechtsgüter“) vollzogen, und endlich um die Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips. In allen drei Gruppen machen sich die gleichen Auflösungssymptome bemerkbar, und überall führen diese Symptome auf die gleiche übersteigert individualistisch-rationalistische Grundhaltung zurück.

II: Der Individualismus in der Bestimmung der Strafrechtszwecke

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vielleicht am offenkundigsten tritt diese Entwicklungslinie hervor in den Erscheinungen, die aus der Verdrängung des Vergeltungs- und Abschreckungsgedankens durch den Erziehungs- und Sicherungsgedanken resultieren. Dieser Vorgang hat dem Strafrecht der letzten anderthalb Jahrzehnte vor allem anderen seine entscheidende Prägung gegeben. Er erscheint zunächst als eine unmittelbare Folge der naturwissenschaftlichen Verbrechenserforschung, deren Beginn in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts fällt und durch den Namen Lombroso gekennzeichnet wird. Indem man nämlich dazu überging, das Verbrechen nicht nur als juristische, sondern daneben als biologische und soziologische Erscheinung, als Produkt von Anlage und Umwelt des Täters zu begreifen, veränderte sich zugleich die ethische Bewertung der Tat. Es erschien sinnlos, dem einzelnen einen ethischen Vorwurf zu machen, ihm gegenüber Vergeltung zu fordern, wenn nicht sein freier Wille, sondern die Natur und die Mangelhaftigkeit der Gesellschaftsordnung für seine Tat verantwortlich waren. Es konnte nicht Sache des Staates sein, durch die Strafe einen Rachetrieb zu befriedigen, der sich bei moderner, naturwissenschaftlicher Prüfung als eine unbegründete und primitive Reaktion erwies.

Schon damit verschob sich das Schwergewicht von der Tat auf den Täter. Hinzu kam noch, dass die Zunahme der Kriminalität die Erfolglosigkeit der alten Bekämpfungsmethode zu beweisen schien. Die generalpräventive Wirkung der Strafe, ihr abschreckender Eindruck auf die Gesamtheit war offenbar überschätzt worden. Die Spezialprävention, die Einwirkung auf den einzelnen Täter, schien weit erfolgsversprechender, zumal für eine Zeit, in der mehr denn je der Glaube der Aufklärung an den Menschen und die Möglichkeit einer Verbesserung der Welt lebendig war. Weder Vergeltung noch Abschreckung, sondern Verbrechensbekämpfung durch Erziehung der Erziehbaren, sichernde Verwahrung der Unerziehbaren schien die Aufgabe des Strafrechts zu sein. Daneben ergab sich die Forderung nach Verbrechensverhütung durch eine fortschrittliche Sozialpolitik. Sollten die neuen Gedanken verwirklicht werden, so bedurfte es einer weitgehenden Individualisierung des Strafrechts, einer Anpassung der Strafvoraussetzungen und der Strafmittel an die individuelle Eigenart der jeweiligen Täterpersönlichkeit. So entstanden die wesentlichen Programmpunkte der strafrechtlichen Reformbewegung: konsequenter Erziehungsstrafvollzug für alle Besserungsfähigen, Sonderbehandlung der Jugendlichen, Beseitigung der überflüssigen, vom Erziehungsstandpunkt aus schädlichen, kurzzeitigen Freiheitsstrafen durch Geldstrafen und bedingte Verurteilung, dauernde Internierung der besserungsfähigen Gewohnheits- und Berufsverbrecher.

Große Teile dieses Reformprogramms sind im neuen sozialliberalen Strafrecht in die Praxis umgesetzt worden. Indessen wurden mit einer geradezu erstaunlichen Einseitigkeit nur diejenigen Punkte des Programms verwirklicht, die sich irgendwie zugunsten des einzelnen Rechtsbrechers auswirken konnten, während alle anderen, die vornehmlich auf Sicherung des Staates und der Gesellschaft gerichtet waren, unter den Tisch fielen. Nicht nur, dass Vergeltung und Abschreckung zurückgedrängt wurden, sondern auch innerhalb der an ihre Stelle tretenden Erziehungs- und Sicherungsstrafe wurde der Erziehungsgedanke einseitig betont, der ihm theoretisch gleichgesetzte Sicherungsgedanke aber hintangesetzt. Doch selbst damit nicht genug: die Statistik der Strafzumessung ergibt, dass sogar der Erziehungsgedanke sich nicht hat durchsetzen können, wo er sich zum Nachteil des Individuums in einer Verlängerung der Strafe aus erziehlichen Gründen hätte auswirken müssen.

Sucht man nach einer Erklärung für diese Entwicklung, so wird man zunächst zugeben müssen, dass die biologisch-soziologische Erforschung der Verbrechensursachen und ihre kriminalpolitischen Konsequenzen, die starke Betonung der Spezialprävention und die Anpassung des Strafrechts an die Verschiedenheit der Täterpersönlichkeiten für sich allein noch nicht zu einer individualistischen Auflösung des Strafrechts hätte zu führen brauchen. Indessen hat uns gerade die gegenwärtige Krise der Kultur gelehrt, dass tiefe Erkenntnis geistiger Vorgänge nur möglich ist, wenn man sie nicht isoliert, sondern in ihrer Verknüpfung als Teile eines einheitlichen Ganzen betrachtet. Die wenigsten werden heute bestreiten, dass der plötzliche Aufstieg der Naturwissenschaften und mit diesem auch die naturwissenschaftliche Verbrechenserforschung nur der Ausfluss einer weiteren geistigen Bewegung war, die ihre weltanschauliche Grundlegung im Rationalismus und naturalistischen Positivismus, ihren politischen Ausdruck aber im marxistischen Sozialismus fand.

Der Rationalismus erst verschaffte jenen Ergebnissen und Konsequenzen der naturwissenschaftlichen Verbrechenserforschung einen Anspruch auf Alleingeltung auch für die staatliche Betrachtung von Verbrechen und Strafe, der ihnen ihrem Wesen nach nicht zukam. In einem „rationalisierten“ Staat, einer durch die menschliche Vernunft erklügelten Organisation zu einer maximalen Förderung der Freiheit oder des Wohlstandes ihrer Mitglieder, war auch die Strafe als staatlicher Machtausdruck ihrer überpersönlichen Würde entkleidet und zu einem möglichst rationellen, in seiner Wirkung durch die Naturwissenschaften zu berechnenden Mittel der Verbrechensbekämpfung degradiert.

Dass dann wiederum diese Rationalisierung nur halb gelang, nur insoweit nämlich, als sie sich in einer Erweichung des Strafrechts zugunsten des Rechtsbrechers äußerte, diese Erscheinung findet ihre Erklärung in der Kompromissnatur des sozialistisch-liberalistischen Strafrechts, zugleich aber auch in dem Wesen des Sozialismus selbst.

Es ist natürlich, dass gerade der Sozialismus dem neuen kriminalpolitischen Programm größtes Verständnis entgegenbrachte, schon deshalb, weil er ja in seiner weltanschaulichen Grundlage, dem Materialismus, von der gleichen naturwissenschaftlichen Strömung getragen wurde, welcher die strafrechtliche Reformbewegung ihr Dasein verdankt. Außerdem schien die neue kausale Verbrechenserforschung zu ergeben: nicht der Verbrecher, sondern die Gesellschaft ist schuldig. Dadurch wurde die sozialpolitische Kritik und das Reformverlangen des Sozialismus gestützt. Hinzu kam ferner, dass die Spezialprävention durch Erziehung und Sicherung der einzige Strafzweck ist, der im Gegensatz vor allem zur Abschreckung den Charakter der Strafe als Übelszufügung nicht notwendig voraussetzt und mit der behaupteten größeren Wirksamkeit ein Höchstmaß von Humanität auch im Strafvollzug zu vereinigen schien. Damit kam er dem aufklärerischen Humanitätsideal der Sozialisten entgegen. So ist es verständlich, dass das Strafrecht des sozialistischen Staates ein in Richtung auf Täter und Strafe individualisierendes Spezialpräventions-Strafrecht sein musste. Ihre Bestätigung findet diese Auffassung in Strafgesetzen der sozialistisch regierten Staaten: sowohl in dem berühmten Strafgesetzentwurf Ferris, der während der kurzen Sozialistenherrschaft in Italien (1921) entstand, als auch in den Strafgesetzen der Sowjetunion ist die Schuld als Strafvoraussetzung durch die Gefährlichkeit, die Strafe aber durch ein System medizinisch-pädagogischer und sichernder Maßregeln ersetzt.

Zum Unterschied davon musste sich in der deutschen Strafrechtsentwicklung des sozial-liberalen Staates neben dem sozialistischen der liberalistische Einschlag geltend machen. Die Feststellung der Unverbesserlichkeit und die daraus folgende dauernde Internierung bedeutet ein außerordentlich scharfen Eingriff in die Freiheit, ja fast die Aufopferung des Individuums, gegen die der Liberale eine natürliche Abneigung empfinden muss. Diese Abneigung ist um so größer, als die Möglichkeiten zur Feststellung der Unerziehbarkeit bei unseren heutigen kriminalpsychologischen Kenntnissen äußerst unsichere, dem Irrtum ausgesetzte sind. Vom liberalistisch-individualistischen Standpunkt aus musste es unter solchen Umständen als das kleinere Übel erscheinen, auf die Gefahr hin, dass der Staat mehr oder minder häufig seine Kräfte auf Erziehungsversuche am Unerziehbaren verschwendet, die Besserungsfähigkeit aller Verbrecher unwiderleglich zu vermuten. Dies war der Preis, den der Liberalismus für die Aufgabe der bestimmten Vergeltungsstrafe zugunsten der unbestimmten Spezialpräventionsstrafe verlangen musste.

Dass nun wieder der Sozialismus diesen Preis ohne große Bedenken gewähren konnte, liegt in seiner innersten Natur begründet. Es macht sich hier der offensichtliche Widerspruch geltend, der zwischen dem Gleichheitsprinzip des Sozialismus und der strafrechtlichen Reformforderung einer Verschiedenartigkeit der Behandlung entsprechend der naturbedingten Ungleichartigkeit der Täterpersönlichkeiten besteht. Auch der sozialistische Gleichheitsgedanke hängt zwar insofern mittelbar mit naturwissenschaftlicher Denkweise zusammen, als er ihr, wenn auch nicht seine Existenz, so doch seinen Aufstieg seit der Aufklärung verdankt. Er verkörpert jedoch eine ältere Periode der naturwissenschaftlichen Entwicklung, das 18. Jahrhundert, welches zunächst nur die physiologischen Gesetze erforschte und aus der psychologischen Gleichartigkeit aller Menschen auf ihre Gleichheit auch in genetischer und sozialer Beziehung schloss. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts aber, also die Zeit, der die sogenannte strafrechtliche Reformbewegung entstammt, brachte mit der Entdeckung der Vererbungsgesetze die Erkenntnis der genetischen Ungleichheit der Menschen. Diese Ungleichheit gilt heute als naturwissenschaftliche Wahrheit; die Gleichheit its allenfalls noch ethisches Postulat. Der Sozialismus aber musste die Ungleichheit ignorieren, wenn er sich nicht selbst gefährden wollte; denn mit ihrer Anerkennung könnte möglicherweise die These von der Gleichwertigkeit und der Gleichberechtigung des proletarischen Massenmenschen gegenüber der kapitalistischen Führerschicht ins Wanken geraten. Bei der Verbrechenserforschung führte das zur Überbetonung der Umwelteinflüsse gegenüber der vererbten Anlage, der soziologischen gegenüber der biologischen Verbrechenskomponente. Nur auf die Umwelt, nicht auf die Anlage als Verbrechensursache konnte das sozialistische Dogma von der Schuld der Gesellschaft am Verbrechen sich stützen. Von der Überbetonung der Umwelteinflüsse bis zur Überbetonung des Erziehungsgedankens war es dann nur noch ein Schritt. Er ergab sich aus der bis heute herrschenden naturwissenschaftlichen Lehre, dass zwar er ererbte, wohl aber erworbene Wesenszüge abänderbar sind. War also die verbrecherische Neigung durch Umwelteinflüsse erworben, dann musste sie auch durch richtige Erziehung beseitigt werden können. Damit führte letztlich auch das sozialistische Ideal der Gleichheit zur Annahme allgemeiner Besserungsfähigkeit.

Vom Ausgangspunkt her gesehen erscheint diese Entwicklung als eine Entartung der ursprünglichen strafrechtlichen Reformbewegung, eine Durchsetzung ihrer naturwissenschaftlichen Grundlage mit ethisch-weltanschaulichen Elementen. Dem entspricht es, dass auch innerhalb der Anhänger der Reform, ihnen selbst nicht immer bewusst, ein gewisser Gegensatz zwischen einem mehr skeptischen medizinisch-naturwissenschaftlichen Flügen und einem optimistischen pädagogischen Flügel entstand. Dieser Gegensatz kommt vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck in einem Ausspruch Liepmanns, des Vorkämpfers des modernen Erziehungsstrafvollzuges: „Das Vorhandensein Unerziehbarer mag theoretisch richtig sein, ihr Nichtvorhandensein ist eine pädagogische Maxime.“ Solange Liberalismus und Sozialismus über die Gestaltung des Strafrechts entschieden, musste der pädagogische Flügel sich durchsetzen. Mit anderen Worten: Jene pädagogische Maxime Liepmanns beanspruchte und erhielt in den letzten anderthalb Jahrzehnten auch als juristische und gesetzgeberische Maxime Geltung.

Dies sind die ideologischen Hintergründe, aus denen heraus sich einerseits der Rationalismus der Reformbewegung, andererseits aber auch ihre durchaus irrationale Umbiegung zu individualistischer Auflösung des Strafrechts erklärt. Es ist notwendig, diese Auflösungstendenz nunmehr im einzelnen aufzuzeigen und an konkreten Beispielen zu erweisen.

Seit etwa einem Jahrzehnt ist in allen deutschen Länder der Erziehungsstrafvollzug eingeführt und damit eine oft vom Standpunkt der Vergeltung und Abschreckung bedenkliche Humanisierung und Abschwächung des Strafübels bewirkt. Wenn gleichwohl in einer Reihe von Strafanstalten (so namentlich in Thüringen) unter der Leitung hervorragender Erzieherpersönlichkeiten Bedeutendes erreicht wurde, so beschränkt sich jedoch in einer mindestens ebenso großen Zahl von Anstalten die von oben angeordnete und mit sehr erheblichen Kosten durchgeführte Strafvollzugsreform auf jene humanisierende Wirkung, weil ungeeignete oder unlustige Beamte zu wirklich intensiver erziehlicher Beeinflussung des Gefangenen nicht fähig oder nicht willens sind. Aber auch der beste Erzieher wird nie ganz den inneren Widerspruch zwischen Freiheitsstrafe und Erziehung überwinden, solange eine gleichfalls „sozial-liberale“ Pädagogik die ideale Methode der Erziehung in einer möglichst freien und ungehemmten Entfaltung der Persönlichkeit sieht, und das Ziel der Erziehung bestimmt wird durch einen Staat, der nicht an sich selbst glaubt, und durch ein „Strafrecht, das sein gutes Gewissen verloren hat“ (Radbruch).

Das notwendige Gegenstück des Erziehungsstrafvollzuges, die dauernde Sicherungsverwahrung der unerziehbaren Gewohnheits- und Berufsverbrecher, steht auch heute noch auf dem Papier. Selbst wenn der Strafgesetzentwurf Gesetz geworden wäre, würde er die Sicherungsverwahrung nur in allzu abgeschwächter und unzulänglicher Form verwirklicht haben.

In der gleichen Richtung liegt die Zurückdrängung derjenigen Strafen, die nicht oder nicht ausschließlich dem Erziehungszweck dienen. Das zeigt die Statistik der Zuchthausstrafe, die sich von der Gefängnisstrafe nicht nur durch ihre meist längere Dauer, sondern auch dadurch unterscheidet, dass sie in der Wirkung entehrender ist und deshalb die Resozialisierung des Sträflings erschwert. Während 1882 bei 4,1/100 aller Verbrechen und Vergehen Zuchthausstrafe verhängt wurde, waren es 1890 bis 1903 nur 2,4/100, 1925 bis 1927 nur noch 1,2/100, 1928 noch nicht einmal 1/100 – Vor allem aber ist die Todesstrafe auf dem Wege der Gnadenpraxis in der Nachkriegszeit auf das äußerte eingeschränkt worden, obwohl in ihr nicht nur die Idee der absoluten Priorität des Staates gegenüber dem Einzelnen, sondern auch der rationalistische Gedanke der Sicherung am sinnfälligsten in Erscheinung tritt. Die in ihrer Übertreibung typisch liberale Furcht vor dem Justizirrtum und das Prinzip der allgemeinen Besserungsfähigkeit sind auch hier entscheidend gewesen. Bezeichnend für das Zurücktreten des Sicherungsgedankens ist, dass bei den Auseinandersetzungen über den Strafgesetzentwurf nicht einmal Kahls Gedanke einer dauernden Sicherungsverwahrung der Mörder sich hat durchsetzen können.

Charakteristisch ist weiterhin folgendes: die im Interesse der Erziehung und der Sicherung notwendige Erforschung der Täterpersönlichkeit würde im Prozessrecht eine gewisse Rückkehr zu inquisitorischen Methoden erforderlich machen. Statt dessen wird gerade von Seiten der Strafrechtsreformer die Forderung einer weiteren „Liberalisierung“ des Strafprozesses, eines weiteren Ausbaues im Sinne des zivilprozessualen „Parteienprozesses“ erhoben. Insbesondere soll die Stellung des Angeklagten gehoben, die des Staatsanwalts geschwächt werden.

Die unbestimmte Verurteilung ferner, die eine Verkürzung oder Verlängerung der Strafe entsprechend dem erzielten Erziehungserfolge ermöglichen soll, ist zwar nicht formal, aber doch auf dem Wege der Begnadigung praktisch allgemein durchgeführt, soweit eine Verkürzung der Strafe in Frage steht. Eine Verlängerung der gerichtlich bestimmten Strafe, die im Erziehungs- oder Sicherungsinteresse oft dringend erforderlich sein würde, ist auch heute noch nicht möglich.

Schon dieses letzte Beispiel ist ein Beweis für die Richtigkeit unserer These, dass im sozial-liberalen Strafrecht nicht nur der Sicherungsgedanke zurückgestellt, sondern auch der Erziehungsgedanke nur insoweit verwirklicht wurde, als er sich in einer Abschwächung des Strafübels zugunsten des einzelnen Rechtsbrechers auswirken konnte. Geradezu erschütternd aber ist in dieser Hinsicht das Bild, das uns vor einem Jahr Exner durch seine „Studien über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte“ enthüllt hat. Wie schon erwähnt, gehört zu den wesentlichen Forderungen der strafrechtlichen Reformbewegung die Beseitigung des vom Sicherungsstandpunkt nutzlosen, vom Besserungsstandpunkt oft schädlichen kurzen Freiheitsstrafen durch Geldstrafen und bedingte Verurteilung. In der Tat hat neuerdings, wie Exner an Hand der Statistik nachweist, die Geldstrafe die Freiheitsstrafe weitgehend verdrängt. 1882 wurden 75/100 aller Verbrechen und Vergehen mit Freiheitsstrafen, 25/100 mit Geldstrafen gesühnt. 1911 war der Anteil der Geldstrafen auf 50/100, 1928 auf 70/100 gestiegen, nachdem formale Hemmungen inzwischen durch die Geldstrafengesetze beseitigt waren. Dem steht nun aber – und gerade das ist der entscheidende Punkt – ein entsprechender Abbau der kurzen Freiheitsstrafen nicht gegenüber. Bei den Verbrechen und Vergehen gegen das Strafgesetzbuch erreichen auch jetzt noch rund 60/100 der Freiheitsstrafen nicht die Dauer von 3 Monaten. Und auch die weitgehende, wahrscheinlich allzu weitgehende Anwendung der bedingten Strafaussetzung ändert nichts daran, dass nach der von Exner für den 1. Januar 1927 als Stichtag berechneten Zahl die Durchschnittsdauer der verbüßten Freiheitsstrafen nur etwa ein Vierteljahr beträgt. Zurückgegangen sind nicht so sehr die kurzen als die langen Freiheitsstrafen: Mit Zuchthaus oder Gefängnis von einem Jahr und mehr wurden bestraft im Jahre 1886 5,8/100, im Jahre 1928 nur noch 2,7/100 aller wegen Verbrechen und Vergehen Verurteilten. Nur dadurch konnte diese Verschiebung formal ermöglicht werden, dass in der Praxis der Gerichte die normale gesetzliche Strafe zur Ausnahme, die Annahme mildernder Umstände aber zur Regel wurde: Schon in den Jahren 1911 bis 1913 bekommen solche Personen, die nicht weniger als 11 Mal und häufiger vorbestraft sind, in 52 von 100 Fällen beim Rückfalldiebstahl mildernde Umstände zugebilligt, unter den gleichen Voraussetzungen beim Rückfallbetruge in 80 von 100 Fällen. 1925 beträgt der Anteil der Fälle, in denen mildernde Umstände zugebilligt und Gefängnisstrafen verhängt wurden, beim schweren Rückfalldiebstahl 67/100, beim einfachen Rückfalldiebstahl 90/100, beim Rückfallbetruge 93/100. Um die Tragweite dieser Zahlen zu verstehen, muss man weiter wissen, dass nach dem Urteil aller erfahrenen Strafvollzugspädagogen zur Erzielung dauerhafter Erziehungserfolge eine Strafzeit von mindestens einem Jahr erforderlich ist, von der Dauerinternierung der Berufsverbrecher ganz zu schweigen.

Würde man die Vorkämpfer der Strafrechtsreform für dieses Fiasko ihrer Bemühungen verantwortlich machen, so würden sie darauf hinweisen, dass gerade die Unzulänglichkeit unserer Richter gegenüber dem Erziehungs- und Sicherungsgedanken, ihr Festhalten an einer moralisierenden Vergeltungsjustiz der Grund des Übels sei. In der Tat ist die Strafzumessung der Gerichte auch heute noch weniger von Zweckmäßigkeitserwägungen als von moralischen Gesichtspunkten beherrscht. Die Strafzumessungsgründe der meisten Urteile – das haben wieder die Untersuchungen Exners gezeigt – spiegeln das Werturteil der Gesellschaft über das Verbrechen wider, ein Urteil, das im wesentlichen von individual-ethischen Erwägungen bestimmt ist. Der Täter wird etwa härter bestraft, weil seine Beweggründe bedenklich waren, weil er raffiniert, tückisch, treulos gehandelt hat, weil er keine Reue gezeigt oder hartnäckig geleugnet hat. Strafmildernd wirkt andererseits die Not des Angeklagten, das freiwillige Geständnis, die bisherige Unbescholtenheit. Von den Bedürfnissen der Erziehung oder Sicherung ist in den Strafzumessungsgründen nur sehr selten die Rede.

Aber gerade das Festhalten der deutschen Richter am Vergeltungsprinzip lässt es erst recht als fragwürdig erscheinen, warum denn trotz Beibehaltung des alten Bewertungsmaßstabes die Bewertung selbst sich in den letzten Jahrzehnten so sehr im Sinne fortschreitender Erweichung des Strafrechts verändert hat. Diese Veränderung in der Bewertung aber führt nun doch, wenn auch nicht ausschließlich, so doch in sehr starkem Maße zurück auf eine veränderte Auffassung des Richters von der Schuld des Verbrechers und damit auf die Folgen der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, der Erklärung des Verbrechens aus Anlage und Umwelt des Täters. Allerdings zeigt sich in den Auswirkungen der neuen Erkenntnisse auf die Strafzumessung ein tiefgehender Gegensatz zwischen theoretisch-rationalistischer Konstruktion und praktischer Wirklichkeit. Während nämlich die Theorie aus der biologisch-soziologischen Erforschung der Verbrechensursachen ihren Kampf gegen den Vergeltungsgedanken überhaupt und ihren Ruf nach Erziehung und Sicherung herleitete, bewies die Praxis durch ihre Festhalten am alten Strafzumessungsmaßstab, dass der Vergeltungsgedanke viel zu tief im Rechtsgefühl des Volkes verwurzelt ist, als dass er in absehbarer Zeit durch rationalistische Theorien ausgerottet werden könnte. Zugleich aber zeigte sie, wie schädlich auch in der Kriminalpolitik ein rationalistisches „Fortschritts“-Drängen ist, dass keine Rücksichtnahme auf die organische Rechtsentwicklung durch den still waltenden Volksgeist kennt. Denn wenn auch die neue Erkenntnis der natürlichen und sozialen Bedingtheit des Verbrechens auf die Strafzumessungspraxis keineswegs ohne Einfluss blieb, so wirkte doch dieser Einfluss hier gleichsam nur quantitativ: das moralische Unwerturteil über den Täter wurde nicht aufgehoben, aber gemindert, die Aansicht, dass nicht der Täter, sondern die Gesellschaft schuldig sei, fand Ausdruck in einer Minderung der Strafe. Es bildete sich in der Praxis die Kombination einer naturalistischen Verbrechens- und einer moralisierenden Straftheorie, die ihr Motto in dem berüchtigten „Alles verstehen, heißt alles verzeihen“ fand. Im Verhältnis von Staat und Individuum offenbaren auch diese Zusammenhänge das sozialistisch-liberalistische Kompromiss: die liberale Auffassung der Strafe als Preis für die Verletzung fremder Güter bleibt bestehen, der soziale Gedanke aber kommt in einer Senkung des Preises zum Ausdruck. Das Ergebnis ist aber hier wie überall ein Höchstmaß von Vorteilen für das Individuum zum Nachteil der Staatsinteressen, das in der immer stärkeren Annäherung der richterlichen Durchschnittsstrafe an das gesetzliche Mindestmaß seinen sinnfälligen Ausdruck findet.

III: Nationalismus und Individualismus in der Bewertung der geschützten Interessen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die stetig absteigende Linie der Strafzumessungskurve zeigt jedoch nicht allein die immer stärkere Unsicherheit des Richters hinsichtlich Zweck und Rechtfertigung der Strafe. Ebenso sehr wie die Schuld des einzelnen Täters an der von ihm begangenen Interessenverletzung ließ diese Krise des vom Strafrecht geschützten Interesses selbst problematisch werden. Die einzelnen Einrichtungen sind bekannt: die Entwertung des Eigentums im Werturteil auch der besitzenden Schichten durch Krieg, Inflation und Wirtschaftskrise, der Verfall des religiösen Gefühls, die Zertrümmerung der Staatsautorität durch die Niederlage im Kriege und äußere Ohnmacht nach dem Kriege, durch Kriegswirtschaft und Notverordnungen, durch eine geistige und politische Wandlung, welche die Nation zum Interessenhaufen und den Staat zum Exponenten einzelner Machtgruppen und Klassen machte, endlich die Erschütterung der geschlechtlichen Moral. Das Ergebnis ist auf allen Lebensgebieten ein allgemeiner Zusammenbruch der überlieferten Ethik und eine weitgehende Relativierung der von der Rechtsordnung garantierten Kulturwerte, damit aber eine Entmutigung des Richters, dem der Schutz dieser Werte anvertraut ist. Auch dafür geben jene Zahlen der Kriminalstatistik einen eindrucksvollen Beweis; denn notwendig musste der Wertzerfall seinen allgemeinen Ausdruck finden in einer grundsätzlichen Neigung der Gerichte zur Milde, in einem immer stärkeren Abbau der Strafe bei allen Verbrechen.

Ebenso natürlich ist aber, dass sich die Werterschütterung nicht bei allen Rechtsgütern gleichmäßig auswirkte, sondern die einen stärker, die anderen nur schwächer von ihrer zersetzenden Wirkung betroffen wurden. Das Strafgesetzbuch selbst enthält eine genaue Rangordnung der von ihm geschützten Güter, die namentlich in der Skala der Strafandrohungen bei den verschiedenen Delikten - angefangen von der Todesstrafe beim Angriff auf das Leben bis hinab zur Geldstrafe bei der kleinen Polizeiübertretung - zum Ausdruck gelangt. Unter dem Druck der Krise nun vollzogen sich in dieser gesetzlichen Rangordnungen Verschiebungen, die sich bei einzelnen Gütern bis zu der Forderung nach völliger Beseitigung des strafrechtlichen Schutzes verstärkten. In der Art dieser Verschiebungen aber treten die gleichen Tendenzen hervor, wie sie die veränderte Strafzweckbestimmung im sozial-liberalen Strafrecht charakterisieren. Individualismus, Rationalismus und die Tendenz zur Lösung des Rechts von der Ethik beherrschen auch hier die Entwicklung der letzten Jahrzehnte.

Es genügt, auf einige typische Beispiele hinzuweisen: Am meisten vielleicht hat der Streit um den § 218 RStGB die Öffentlichkeit bewegt. Die üblichen Argumente, mit denen die kulturpolitische Linke gegen die Strafbarkeit der Abtreibung zu Felde zieht, sind insgesamt charakterisiert durch einen aufklärerischen, gelegentlich sentimentalen Individualismus und eine völlige Verständnislosigkeit für das religiös-ethische Moment und die Bedürfnisse einer nationalen Bevölkerungspolitik. Wenn auch eine gänzliche Freigabe der Abtreibung bisher nur im sozialistischen Russland erfolgt ist, so haben doch auch bei uns die Angriffe gegen den § 218 in den letzten Jahrzehnten gewisse Teilerfolge erzielt. Ein solcher Erfolg war vor allem die Gesetzesnovelle von 1926, welche die Strafe der Abtreibung erheblich milderte, und als einen neuen Erfolg wird man den Beschluss ansehen müssen, den erst kürzlich, im September 1932, die deutsche Landesgruppe der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung auf ihrer Frankfurter Tagung fasste. Dieser Beschluss, der bezeichnenderweise gegen die Stimmen gerade vieler jüngerer Mitglieder angenommen wurde, empfiehlt Straflosigkeit der Abtreibung nicht nur bei medizinischer und eugenischer, sondern auch - erst darin liegt das Bedenkliche - bei sozialer Indikation.

Bezeichnend ist ferner der in Presse, Literatur und Film ebenso laut wie geschickt geführte Kampf der Linken gegen den strafrechtlichen Schutz des Sexualempfindens, das angeblich Privatsache und deshalb für staatliche Eingriffe unzugänglich sein soll. Besonders der viel genannte § 175 RStGB (Widernatürliche Unzucht gleichen Geschlechts) wird immer wieder berannt. Auch diese Bestrebungen haben, namentlich in den verschiedenen Entwürfen für ein neues Strafgesetz, nicht unbeträchtliche Anfangserfolge erreicht.

Ähnliche auf Entethisierung und Rationalisierung des Strafrechts gerichtete Tendenzen machen sich in der Diskussion über die Religionsdelikte geltend. Sie führen hier zu der Forderung, den besonderen strafrechtlichen Schutz der Religion und der Kirche zu beseitigen und die Beschimpfung der Religionsgesellschaften den allgemeinen Strafbestimmungen über die Kollektivbeleidigung zu unterstellen. - Auch die Bemühungen um eine Reform des prozessualen und strafrechtlichen Eidesrechts gehören insofern hierher, als in ihnen das berechtigte Verlangen nach einer Einschränkung des Eides von der Linken immer wieder aus weltanschaulichen Gründe dahin ausgedehnt wird, dem Staat überhaupt das Recht zur Eidesabnahme zu bestreiten.

Typisch für die individualistische Richtung der neueren Strafrechtsentwicklung ist weiter, dass nach den statistischen Untersuchungen Exners der Hang der Gerichte zur Milde sich stärker als bei den meisten anderen Delikten gerade bei den Angriffen gegen den Staat und die öffentliche Ordnung bemerkbar macht. Es muss nachdenklich stimmen, wenn man hört, dass bei passiver Bestechlichkeit der Beamten in 96 v.H., bei der Amtsunterschlagung sogar in 97 v.H. aller Fälle mildernde Umstände gewährt werden, dass unsere Richter 80,9 v.H. aller aktiven Bestechungsfälle mit Geldstrafen, nur 1,4 v.H. mit Gefängnis von 1 Jahr und mehr sühnen, dass die Beamtennötigung im Durchschnitt nicht schwerer bestraft wird als die einfache Nötigung, dass der vom Gesetz mit Gefängnis bis zu 2 Jahren bedrohte Widerstand gegen die Staatsgewalt häufiger mit Geldstrafen bestraft wird, als der einfache Hausfriedensbruch, dessen gesetzliche Höchststrafe nur 3 Monate Gefängnis ist.

Das recht eigentlich klassische Beispiel für das blasse und inhaltsleere Staatsideal des sozial-liberalen Strafrechts aber ist die Privilegierung des Überzeugungsverbrechers in der Strafart und im Strafvollzug, wie sie in den verschiedenen Strafgesetzentwürfen, aber auch schon in den geltenden Reichsgrundlagen über den Vollzug von Freiheitsstrafen (von 1923) vorgesehen ist. Die Rechtsgrundsätze verstehen unter einem Überzeugungsverbrecher denjenigen, der sich zu der Tat auf Grund seiner sittlichen, religiösen oder politischen Überzeugung für verpflichtet hielt. Die Sonderbehandlung wird damit begründet, dass der Überzeugungsverbrecher zwar im Interesse der Selbstbehauptung des Staates mit einer Art von Kriegsgefangenschaft, aber nicht mit Vergeltungs- oder Erziehungsmaßregeln belegt werden könne: denn bei Vergeltung und Besserung werde eine sittliche Überlegenheit des vergeltenden bzw. bessernden Staates vorausgesetzt, die beim Überzeugungsverbrecher gegenüber nicht behauptet werden könne (Radbruch). In dieser Beweisführung hat die skeptische, zugleich relativistische und individualistische Strafrechtsauffassung der Nachkriegszeit ihren entschiedensten Ausdruck gefunden. Zwar hat der Rationalismus in ihr seine Grenzen überschritten, aber sie ist dennoch durchaus folgerichtig vom Standpunkt des „neutralen Staats“, wie ihn die Demokratie von Weimar verkörpert, eines Staates, der sich selbst keinen unableitbaren Eigenwert, keine höchste Würde beimisst, der die Toleranz zu seinem obersten Prinzip erhebt, der nur die Gleichheit der Waffen garantieren will in dem Kampf der Ideen, Interessen, Klassen und ihrer Träger. Dagegen hat ein Staat, der an sich selbst und die ihn tragende Idee der Nation glaubt, keinen Anlass, seine sittliche Überlegenheit gegenüber einem Rechtsbrecher irgendwann in Zweifel zu stellen. Für ihn gibt es keine Privilegierung des Überzeugungsverbrechers.

IV: Steigerung und Einschränkung der Richtermacht zugunsten des Individuums

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Wendung vom national-liberalen zum sozial-liberalen Strafrecht, die Ersetzung des Konservativen durch den sozialistischen Bestandteil im Kompromiss ist zwar sehr offenkundig und gründlich, aber ohne umfassende Änderung des Strafgesetzbuches erfolgt. Die verschiedenen Entwürfe zu einem neuen Gesetzbuch, die besonders, soweit sie in der Nachkriegszeit entstanden sind, durch jene Tendenzen ihr Gepräge erhalten, sind einstweilen gescheitert. Das alte Strafgesetz von 1871 ist - von einzelnen Änderungen abgesehen - auch heute noch in Kraft.

Diese völlige Umformung des Strafrechts ohne tiefgehende Eingriffe des Gesetzgebers wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht gleichzeitig der Grundsatz der Gewaltenteilung, der weitmöglichsten Trennung der gesetzgebenden von den rechtssprechenden und dieser beiden von den verwaltenden Staatsorganen, allmählicher Auflösung verfallen wäre. Der Reichstag, früher ein Honoratiorenparlament mit im wesentlichen legislativen Aufgaben, hat sich - in gewissem Umfange schon vor der Revolution - in eine politische Körperschaft verwandelt, welche ihre wichtigste Aufgabe in der Kontrolle der Verwaltung erblickt, die Aufgaben der Gesetzgebung aber mehr nebenher und mit dem Blick auf den Wähler erledigt. Dazu kommt, dass seit Kriegsende die wirtschaftliche und soziale Entwicklung sich ungemein schnell vollzieht, sodass die Legislative nicht Schritt halten kann, und in jüngster Zeit die Selbstausschaltung des Reichstages und die Erstarrung des Parteiensystems. Die Folge ist, dass in wachsendem Maße Aufgaben der Gesetzgebung auf Verwaltung und Rechtsprechung abgewälzt werden, dass Ministerialbürokratie und Gerichte zu Trägern der Rechtsschöpfung werden. So kommt auch jene Umbildung des Strafrechts, wie sie in den beiden vorigen Abschnitten geschildert wurde, in den letzten anderthalb Jahrzehnten weniger in der Gesetzgebung zum Ausdruck als in der Rechtsanwendung. Das Gesetz ist das gleiche geblieben, aber das Recht im Rahmen dieses Gesetzes ist völlig revolutioniert.

Soweit dies erfolgte durch die Reform des Strafvollzuges, durch einen verwaltungsmäßigen Druck auf den Richter und auf dem Wege der Gnadenpraxis, war der Träger der Umbildung die Exekutive. In der Veränderung der Strafzumessungsgrundsätze dagegen und in der neuen Bahn, die man bei der Gesetzesauslegung einschlug, offenbart sich die Ausdehnung der richterlichen Gewalt.

Von der völligen Veränderung der gesetzlichen Bewertungsmaßstäbe durch die richterliche Strafzumessungspraxis, die sich im Sinne weitmöglichster Milderung vollzog, war bereits ausführlich die Rede. In der gleichen Richtung wirkte sich auch die Wandlung der juristischen Auslegungsmethode aus, die für die neuere Entwicklung nicht nur der Rechtstheorie, sondern auch der Praxis der höchsten Gerichte charakteristisch ist. Wie auf allen Rechtsgebieten, so wurde auch im Strafrecht die Begriffsjurisprudenz verdrängt durch die Interessenjurisprudenz. Jener große, schon totgeglaubte Gedanke eines „natürlichen Rechts“, das hinter und über dem Gesetzesrecht steht, erwachte zu neuem Leben. Als staatspolitisches Phänomen bedeutet dieser Methodenwandel eine Abkehr von dem liberalen Grundsatz der Rechtssicherheit durch Gesetzgebundenheit des Richters. Die neue, naturrechtlich-teleologische Methode überträgt dem Richter nicht nur die Auslegung, sondern auch die Ergänzung des Gesetzes, dessen Lückenhaftigkeit sie erkennt. Indem sie ferner vom Richter verlangt, dass er nicht nur den Wortlaut des geschriebenen Rechtssatzes, sondern auch seinen Zweck und die Interessenlage berücksichtige, fordert sie zugleich von ihm eine Bewertung eben dieser Interessenlage. Die Rechtsergänzung aber und die Wertung sind Tätigkeiten, die nach dem Gewaltenteilungsprinzip der gesetzgebenden Gewalt vorbehalten sind.

Der Jurist wird, wenn er nach einem besonders deutlichen Beispiel für diese Kompetenzverschiebung sucht, an die gerade auch in politischen Prozessen bedeutsam gewordene Anerkennung eines „übergesetzlichen Notstandes“ durch die neuere Rechtsprechung des Reichsgerichts denken. Weiter in die Öffentlichkeit gedrungen und in der Presse vielfach kritisiert sind die Urteile, in denen Angehörige politischer Wehrverbände von der Anklage wegen unerlaubten Waffenbesitzes freigesprochen wurden, weil ihnen die Abgabe der Waffen wegen der Gefahr der Misshandlung durch politische Gegner „nicht zugemutet“ werden konnte. Das Reichsgericht machte sich kürzlich sogar in einem Meineidsfall die gleiche Freispruchsbegründung zu eigen. Hielten sich auch die Gerichte in diesen letztgenannten Fällen noch im Rahmen weitherziger „teleologischer“ Auslegung des Gesetzeswortlauts, so sind diese Urteile doch ein Warnungszeichen dafür, dass mit der Wertungsfreiheit des Richters die Relativierung und Erweichung der strafrechtlichen Verbote sich ins Unmessbare steigern würden, wenn nach einer in der Theorie schon herrschenden, in der Praxis einstweilen nur vorsichtig angewandten Lehre die „Zumutbarkeit“ der Gesetzesbefolgung zur allgemeinen „übergesetzlichen“ Strafbarkeitsvoraussetzung erhoben würde. So hat man beispielsweise behauptet, der Reisende, der die ihm anvertrauten Gelder seiner Firma unterschlug, müsse straflos bleiben, wenn ihm nicht „zugemutet“ werden konnte, durch Ehrlichbleiben sich und seine Familie der Gefahr größter wirtschaftlicher Bedrängnis auszusetzen. Die außerordentliche Bedenklichkeit dieser Lehre, zumal in einer Zeit, in der sich die äußere und innere Unsicherheit, der Zerfall aller überindividuellen Werte allenthalben auch in der Rechtsprechung geltend machen, wird auch der Nichtjurist begreifen.

Es ist bezeichnend, dass besonders die letzten Entwürfe zu einem neuen Strafgesetzbuch nicht nur die richterliche Ermessensfreiheit bei der Strafzumessung noch beträchtlich steigern, sondern auch durch ihre Abneigung gegen klare und eindeutig abgegrenzte Tatbestände den Richter geradezu anweisen, den absichtlich unbestimmt gehaltenen Wortlaut durch Werturteile und Interessenabwägungen auszufüllen. Die Entwürfe folgen also der allgemeinen Tendenz zur Abwälzung der gesetzgeberischen Aufgaben auf die Schulter des Richters, der damit zum Gesetzgeber für den Einzelfall wird.

Für die Bewertung dieser Gewaltenverschiebung und ihre Einordnung in den Gesamtzusammenhang der Strafrechtsentwicklung ist entscheidend, dass auch sie sich bislang ganz überwiegend in einer weiteren Zurückdrängung der Strafgewalt des Staates gegenüber dem einzelnen Rechtsbrecher geltend gemacht hat. In eindrucksvollster Weise zeigten uns das die Zahlen der Strafzumessungspraxis. Aber auch die Zunahme der Richtermacht durch die Wandlung der juristischen Methode hat sich zwar nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend nur zugunsten des Individuums, nämlich in der Anerkennung neuer und außerordentlich dehnbarer Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe für an sich strafbedrohte Handlungen ausgewirkt. Zwar steht dem nach der anderen Seite eine Ausdehnung des strafrechtlichen Täterbegriffs und einzelner Deliktstatbestände durch weite Auslegung des Gesetzeswortlauts gegenüber. Aber die Entwicklungsmöglichkeit dieser letzteren Fälle ist von vornherein eng begrenzt; denn dem etwaigen Verlangen des Richters, in strafwürdigen, jedoch vom Gesetz nicht erfassten Fällen Strafe zu verhängen, setzt auch heute noch jenes ausdrückliche Verbot des § 2 des Reichsstrafgesetzbuchs sehr bald ein unübersteigliches Hindernis entgegen.

Damit erweist sich das Strafrecht der letzten anderthalb Jahrzehnte auch an dieser Stelle als Verbindung liberalistischer und sozialistischer Gedankengänge mit dem Ergebnis einer besonderen und übertriebenen Hervorhebung des gemeinsamen individualistischen Ausgangspunktes. Die Zersetzung des Gewaltenteilungsprinzips ist an sich ein antiliberaler Vorgang; in ihr offenbart sich die Wandlung des liberalen Rechtsstaats zum sozialistischen Wohlfahrtsstaat. Demgemäß führte in Russland, wo sich der Sozialismus ohne liberalistische Beimischung durchsetzte, die völlige Vernichtung des gewaltenteilenden Rechtsstaats auch zur Aufhebung seiner deutlichsten strafrechtlichen Erscheinungsform, des Satzes: Keine Strafe ohne vorherige gesetzliche Androhung. In Deutschland aber blieb dieser Satz nicht nur bestehen, sondern er wurde sogar in die Weimarer Verfassung übernommen (Art. 116). Denn nur insoweit war für den Liberalismus eine Aufgabe der Gewaltenteilung erträglich, als dadurch nicht der Einzelne staatlicher und richterlicher Willkür preisgegeben wurde. Mit einer Erweiterung der richterlichen Gewalt, die sich nur zugunsten des Einzelnen, nur zuungunsten des strafenden Staates auswirken konnte, konnte man sich vom liberalen Standpunkt weit eher abfinden. Will man das Ergebnis dieser Entwicklung vielleicht überspitzt formulieren, so kann man sagen: das Strafgesetzbuch ist auch heute noch die „magna charta des Verbrechers“; aber es hat aufgehört, die magna charta der Staatsinteressen zu sein.

Vielleicht noch bedeutsamer für den Sieg der individualistischen Strafrechtstendenzen war der Umstand, dass die verstärkte Übertragung rechtsfortbildender Aufgaben an die Justiz gleichsam ihre Kehrseite fand in dem wachsenden äußeren Druck, dem sich der Richter ausgesetzt sah. Denn die Machtzunahme des Richters hat sich nur relativ vollzogen, im Verhältnis von Richterspruch und Gesetz. Absolut betrachtet ist die Stellung des Richters seit dem Kriege eher schwächer als stärker geworden. In ruhigen Zeiten, in denen sich die Gesetzgebung den langsam sich wandelnden Lebensbedürfnissen anpasst, ist der Richter im ganzen durch das Gesetz gedeckt, „unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“. Wünsche und Ansprüche richten sich an die Adresse des Gesetzgebers, eine bewegliche Legislative fängt die Kritik und den Interessendruck auf. In dem Maße jedoch, in dem der Richter sich vom Gesetze befreit, erwartet man von ihm eine Befriedigung der verschiedensten Interessen und Bedürfnisse und wird dementsprechend die Rechtsprechung in den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Tageskampf hineingezogen. Mit der Herrschaft des Gesetzes fiel die Schranke, die den Richter vom sozialen Leben trennte. Die formale Bindung wird eingetauscht gegen den Druck der öffentlichen Meinung, der Interessen, der Politik. Kaum irgendwo sonst wird das deutlicher sichtbar als in jenen Zahlen der Strafzumessungsstatistik.

Dieser Druck musste sich verstärken in der Demokratie, die den Abstand zwischen dem Richter und den Rechtsgenossen verringert, die irgendwelche Vorrechte einer führenden Schicht nicht mehr anerkennt und die Bewertung der sachlichen Arbeit weitgehend abhängig macht von der Resonanz dieser Arbeit im Volke und in der öffentlichen Meinung. Dass dieselbe geistig-politische Strömung, die zu einer so beträchtlichen Steigerung der Richtermacht führen musste, zugleich das Schlagwort von der Vertrauenskrise der Justiz geprägt hat, erscheint von hier aus gesehen nicht mehr paradox. Auch wenn Missgriffe und Fehler unterblieben wären, wäre die Justiz nicht imstande gewesen, die verschiedenen, unter sich vielfach unvereinbaren Ansprüche zu erfüllen, die von allen möglichen Seiten an sie gestellt wurden, deren Erfüllung oder Ablehnung kein Gesetzgeber ihr abnahm. Politisierung der Justiz weit über den Bereich des politischen Strafrechts hinaus, Misstrauen gegen das Gericht und Richter – für viele schlechthin das Vollstreckungsorgan einer verhassten Gesellschaftsordnung oder des „Systems“ –, damit aber wachsender Druck auf die Rechtsprechung, das wurden die Kennzeichen der Lage. Wie sollte der Richter nicht bemüht sein, sich – häufiger unbewusst als bewusst – dem Druck zu entziehen, auszuweichen und Entscheidungen zu suchen, die keinen Anstoß erregen.

Dieser Druck wirkt meist mehr mittelbar als unmittelbar. Er beeinflusst die Laienrichter weit stärker als die Berufsrichter. Aber auch diese letzteren würden sich selbst täuschen, wenn sie glaubten, sie könnten sich seinem Einfluss gänzlich entziehen.

Vermittler des Interessendrucks und der zersetzenden Einflüsse ist vor allem die Presse, deren stimmungsbildender Einfluss sich kaum überschätzen lässt. Er wird noch verstärkt durch das Entgegenkommen der Justizverwaltung, so durch die Einrichtung von Pressestellen, die dazu bestimmt sind, aufzuklären und Vertrauen zu wecken, aber natürlich den Kontrollanspruch der Presse noch ermutigen. Dieser Einfluss ist keineswegs beschränkt auf den unmittelbar politischen Bereich, sondern erfasst die ganze Strafrechtspflege. Abgesehen davon, dass fast jeder Strafprozess sich politisch betrachten lässt und unter Umständen so betrachtet wird, kommt die Presse dem in den Massen verbreiteten Interesse für Verbrechen und Strafjustiz schlechthin entgegen.

Auch für die Strafzumessung hat das große Bedeutung. Der Strafrichter wird die Kritik in der Regel am wenigsten dann herausfordern oder herauszufordern glauben, wenn er milde bestraft. Es kommt hinzu, dass die Berichterstattung in der Presse begreiflicherweise die menschliche Seite des Verbrechens stärker hervortreten lässt als die staatlichen Interessen, die den Leser weniger angehen. Die Hervorhebung der menschlichen Seite aber pflegt das Verständnis für den Täter zu wecken und damit Neigung zu milder Verurteilung zu stärken.

So ist also der Einfluss der Presse an sich schon für den Abbau der Strafjustiz günstig. Aber davon abgesehen, lässt sich nicht leugnen, dass es gerade die liberale und demokratische Presse ist, die ihren Standpunkt hier geltend zu machen versteht. In dieser Presse, die auch hier wieder einen ganz falschen Eindruck von den wirklich lebendigen politischen und geistigen Kräften vermittelt, wird immer wieder die auf den Abbau des Strafrechts hinstrebende Entwicklung als Ausdruck eines schlechthin fortschrittlichen Denkens, der konservative, das Staatsinteresse betonende Standpunkt hingegen als derjenige reaktionärer Rückständigkeit hingestellt. Die Berichterstattung ist dort im großen und ganzen geschickter, sie hat – gerade herausgesagt – mehr Niveau als die vieler anderer Blätter. Kennzeichnend für diese Haltung war die Berichterstattung eines Sling, der den gänzlichen Mangel an Verständnis für staatliche Notwendigkeiten und das Fehlen eines tieferen Rechtsgefühls hinter amüsanten Pointen und psychologischen Analysen verbarg, der freilich auch durch seinen verdienstvollen Kampf gegen die „Meineidsseuche“ zeigte, wie selbst diese Art der Berichterstattung im einzelnen gelegentlich wertvoll sein kann. Die Presse der rechtsstehenden Parteien, bei der man an sich ein größeres Verständnis für eine entschlossene Strafrechtspflege erwarten sollte, behandelt diese Dinge – von Ausnahmen immer abgesehen – viel weniger wirksam. Im ganzen kommt es ihr weniger darauf an, am einzelnen Vorgang eine grundsätzliche Haltung zum Strafrecht zu verdeutlichen, als z.B. darauf, gewisse „Fälle“, wie den Barmat- oder den Sklarek-Skandal, mit dem „System“ in Verbindung zu bringen; oder man befasst sich mit einem engbegrenzten Kreis von Angelegenheiten, wie den Fememord-Fällen.

Zu diesem mehr mittelbaren, aber darum nicht minder wirksamen Druck die öffentliche Meinung und die Presse kommt nun weiter noch hinzu, dass sich in der Nachkriegszeit auch die Mitteilungen von unmittelbaren Eingriffen der Legislative und Exekutive in den Machtbereich der richterlichen Gewalt häufen.

Die Beseitigung der Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit der Richter gehört auch heute noch zu den Programmpunkten der radikalen Linken. Zwar wurde in der Nationalversammlung ein Antrag der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD), der die Einführung der Richterwahl zum Inhalt hatte, abgelehnt. Aber wenn auch das Unabhängigkeitsprinzip formal bestehen blieb, so ist doch eine wirksame materielle Garantie der Unabhängigkeit kaum möglich. Auf Umwegen und Hintertreppen können auch bei dem heutigen Rechtszustand die Träger der gesetzgebenden und exekutiven Gewalt stärksten Einfluss ausüben auf die Gestaltung der Rechtspflege. Unter diesen Eingriffsmöglichkeiten seien als die wichtigsten genannt: die Personalpolitik der Besetzung von Richterstellen, insbesondere auch die Besetzung hoher Richterposten durch Angehörige der Ministerialbürokratie; ferner die Einforderung von Akten und Berichten über einzelne Verfahren durch das Justizministerium; der Seitendruck, den das Ministerium durch die von ihm unmittelbar abhängige Staatsanwaltschaft auf den Strafrichter ausüben kann und endlich die Möglichkeit der Begnadigung, die sogar eine direkte Korrektur des richterlichen Urteils erlaubt. Da im parlamentarischen Staat der Justizminister, dem unmittelbar diese Eingriffsmöglichkeiten zustehen, seinerseits wieder abhängig ist vom Parlament, so wird mittelbar auch dem Träger der legislativen Gewalt eine Einflussnahme auf die Justiz ermöglicht.

Es besteht aller Anlass zu der Vermutung, dass in den letzten zehn Jahren von den geschilderten Eingriffsmöglichkeiten weitgehend Gebrauch gemacht worden ist. Noch lagert freilich über vielem ein Halbdunkel, das nur selten, so in manchen politischen Prozesse, schlaglichtartig erhellt wird und dem Unbefangenen ein klares Urteil erschwert. Manche Vorfälle, wie etwa diejenigen, die aus dem Soelling-Prozess bekannt wurden, legen zum mindesten die Vermutung nahe, dass der Einfluss von Parlamentsfraktionen oder andere unsachliche Rücksichten bei der Besetzung auch von Richterstellen maßgebend gewesen sind. Ferner weiß jeder Strafjurist, dass vor allem Preußen und besonders in politischen Fragen die Staatsanwaltschaft einen sehr starken Druck von oben und außen ausgesetzt ist, und dass sich notwendig dieser Druck auf die Strafgerichte selbst übertragen muss. Ebenso allgemein ist die Kritik an der außerordentlichen Zunahme der Begnadigungen, die oft genug und mit Recht von den Richtern als eine Desavouierung ihrer Entscheidungen empfunden wird, und welche die in der Strafzumessung zum Ausdruck kommende Tendenz zur Milde um jeden Preis noch steigert. Selbst ein kriminalpolitisch mehr linksstehender Mann wie der Kölner Psychiater Aschaffenburg wandte sich auf der Essener Tagung der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (1931) unter Hinweis auf bestimmte eigene Erfahrungen und unter dem stürmischen Beifall der Versammlung gegen den Missbrauch des Gnadenrechts und die unterirdischen parlamentarischen Einflüsse auf diesem Gebiete. Nach den Zahlen, die der Ministerialdirektor Huber vom Preußischen Justizministerium auf der gleichen Tagung mitteilte, wurden in den letzten Jahren nicht ganz 10 v.H. der Strafen (1925: 42.000) in Gnadenwege erlassen (meist im Wege der bedingten Aussetzung). Dazu kommen aber noch die teilweise sehr weitgehenden, besonders autoritätszersetzenden Amnestien, die sich vor allem in den ersten Jahren nach der Revolution jagten, und für die erst kürzlich die Anträge der Nationalsozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten im Preußischen Landtag ein erschreckendes Beispiel gegeben haben. Die Zahl der in der letzten Zeit vom Justizminister unmittelbar begnadigten Personen betrug in Preußen im Jahresdurchschnitt 3800. Bezeichnend ist, dass immer häufiger die Gnadengesuchsteller statt an die zuständigen Instanzen sich unmittelbar an einzelne Abgeordnete oder an den Rechtsausschuss des Landtages wenden, von denen sie eine schnellere und günstigere Erledigung ihres Wunsches erhoffen.

Zusammenfassend wird man aus den zuletzt geschilderten Erscheinungen den Schluss ziehen dürfen, dass nicht nur die Exekutive, sondern gerade auch das Parlament als Träger der legislativen Gewalt die Gewaltenteilung durchbrochen, die richterliche Gewalt zurückgedrängt und mittelbar oder unmittelbar ihren Einfluss auf die Strafjustiz verstärkt haben. Im Volk haben die Eingriffe in die Unabhängigkeit der Rechtspflege eine beträchtliche Beunruhigung hervorgerufen. Ein Symptom dafür ist die ungeheure Resonanz, die das Wort von der „Gefesselten Justiz“ in den beiden letzten Jahren gefunden hat.

V: Der Übergang

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Allen diesen Erscheinungen der sozialistisch-liberalen Strafrechtsperiode, so verschieden sie sind nach Art und Bedeutung, ist eines gemeinsam: Sie zeigen alle den Zerfall des Staatsgedankens im Strafrecht, seine fortschreitende Schwächung durch individualistische Gedanken, durch eine weitgehende Rücksichtnahme auf den Verbrecher. Zugleich wird eine zunehmende Auflösung überpersönlicher Wertungen und Maßstäbe zugunsten rationaler Gesichtspunkte deutlich. Erweichung der Verbrechensbekämpfung, Schwächung der Strafrechtspflege und Minderung der Staatsautorität sind die Ergebnisse dieser Entwicklung. Im Strafrecht spiegelt sich so der Zerfall der Kultur. Die Zerstörung der geistigen Überlieferung, die Relativierung der Werte, die Achtung der Autorität, das alles hat seine Spuren hinterlassen.

Aber schon sind Anzeigen eines Wandels erkennbar: Zwar ist es noch nicht an der Zeit, eine Vorhersage für die Zukunft zu wagen. Doch sind bereits deutlich Kräfte am Werke – gerade in der jüngeren Generation –, die eine geistige Wende erstreben. In der jungen Generation des Bürgertums wie des Proletariats – so verschiedene Kreise die Bezeichnung umspannen – ist die Einsicht im Wachsen, dass die fortschreitende Befreiung des Individuums, seine Loslösung aus natürlichen Ordnungen und Abhängigkeiten, zum Chaos führt. Überall wird das Verlangen nach neuen Lebensformen und Inhalten sichtbar. Unverkennbar ist der Wunsch nach festen Maßstäben, die Sehnsucht nach neuen Bindungen, nach Einfügung in Gemeinschaften und Wertsysteme. Zahllos sind die Anzeichen für ein Wiedererwachen des philosophischen Denkens und des religiösen Gefühls. Der Kulturdefaitismus der letzten Jahrzehnte beginnt einer neuen Sicherheit, einer Neigung zum Bekenntnis, dem Glauben an die Gültigkeit allgemeinverbindlicher Werte zu weichen. Diese Abkehr vom Individualismus und Rationalismus, geistgeschichtlich gesehen von Aufklärung und Liberalismus, wird auch im politischen Leben erkennbar. In den äußeren und seelischen Nöten der Nachkriegsjahre, unter dem Eindruck der Niederlage und der Auflösung des Staatsgedankens nach Beendigung des Krieges entsteht ein neues Nationalgefühl, eine lebendige Staatsgesinnung. Zugleich aber bildeten die Frontgemeinschaft, das gemeinsame Hungern in und nach dem Kriege, bildeten Jugendbewegung und die Bünde der Nachkriegszeit eine Generation heran, deren aktivste Teile die Idee der kameradschaftlichen Verbundenheit aller Volksgenossen nicht nur diskutierten, sondern von Kindheit an an sich selbst erlebten, für die der „soziale Gedanke“ nur deshalb nicht mehr so sehr Problem war, weil er ihnen selbstverständlich geworden war. Diese Generation stand dem Staatsideal von 1913 ebenso fern wie dem von 1918, und wenn sich ihr Kampf vor allem gegen das Ideal von 1918 richtete, so nur deshalb, weil dieses ihr Gegenwart, jenes aber schon Geschichte war.

Verlangen nach einer Neuordnung der Staatsgewalt, welches aus solchen Hintergründen erwuchs, musste notwendig den Wunsch nach einem neuen Kurs der Strafrechtsentwicklung im Gefolge haben, nach einem Kurs, der ohne reaktionär und antisozial zu sein, auf dem unbedingten Primat der Nation und der in ihr verkörperten traditionellen Werte gegenüber den Interessen des Individuums beruht.

Unverkennbar kommt die jüngste Entwicklung – man mag sie politisch beurteilen wie man will – diesen Wünschen entgegen. Viele Anzeichen deuten auf den Wandel der Staatsidee hin. Der blasse, relativistische und neutrale Staat, der unter dem Einfluss wechselnder Massenstimmungen und Parteiverbindungen immer wieder Gestalt und Farbe wechselt, macht dem autoritären Staate Platz, der sich in den Dienst eindeutig bestimmter nationaler und kultureller Ziele stellt. Dem entspricht die Entwicklung des Strafrechts in der jüngsten Vergangenheit, wenn auch keineswegs alle Erscheinungen auf diesem Gebiet den politischen Wandlungen der letzten Zeit ihren Ursprung verdanken. Auffällig und kein Zufall ist zunächst der Stillstand, vielleicht das Scheitern der Strafrechtsreform, die weitgehend von individualistischen Gedanken beherrscht, die Gefahr eines Missbrauchs und weiterer Auflösung mit sich gebracht hätte. Im Bereich der Strafrechtswissenschaft ist kennzeichnend die Zurückhaltung gerade der jüngeren Kriminalisten in der Annahme übergesetzlicher Strafaufschließungsgründe, die der Sorge um den Bestand einer wirksamen Strafrechtspflege entspringt. Eine neue Strafrechtsgesinnung kommt schließlich im Strafrecht der letzten Notverordnungen zum Ausdruck, in der Verschärfung der Strafsätze, in der ausgiebigen Androhung der Todesstrafe und der Heraufsetzung der Strafmindestmaße. Die gleiche Gesinnung hat zur Einschränkung der für den Bestand der Strafrechtspflege so gefährlichen Laienrechtspflege, zum Abbau der Rechtsschutzeinrichtungen im Verfahren geführt. Zugleich gegen den Gedanken des privilegierten Überzeugungsverbrechers wie gegen die Auswüchse des sozial-liberalen Strafvollzuges richtet sich die Neuregelung und Verschärfung des Vollzuges der Festungshaft. Das Strafrecht der Notverordnungen wird nicht für immer Bestand haben. Aus der Not des Augenblicks entstanden, wird und muss es in dieser Gestalt verschwinden, sobald die besonderen Anlässe zu dieser Gesetzgebung fortfallen. Denn darüber besteht wohl kein Zweifel, dass manche dieser Neuerungen mit den Bedürfnissen eines geordneten Rechtsstaats auf die Dauer nicht vereinbar sind. Über jede Eintagswirkung hinaus aber wird doch eine neue Haltung erkennbar, eine Bereitschaft zum Gebrauch der staatlichen Machtmittel, die für die Zukunft des Strafrechts Bedeutung hat.

VI: Das Strafrecht des autoritären Staates

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Kritik am Strafrecht der Gegenwart verpflichtet zu Vorschlägen für das Strafrecht der Zukunft. Die Richtlinien die im folgenden dargelegt werden, enthalten allerdings kein „Programm“ für ein neues Strafrecht. Die Dinge sind noch so sehr im Fluss, die grundsätzlichen Fragen noch so wenig geklärt, dass es zunächst einmal nötigt scheint, die Richtung zu zeigen, in der ein lebensfähiges Strafrecht sich fortbilden könnte. Die Folgerungen für Strafvollzug und Strafzumessung, für Wissenschaft und Praxis im einzelnen zu ziehen, ist es heute noch nicht an der Zeit. Dass es aber durchaus möglich ist, auf der Grundlage einer zugleich nationalistischen und totalen Staatsauffassung ein geschlossenes, alle kriminalpolitischen Bereiche umspannendes Strafrechtssystem zu entwickeln, zeigt das Beispiel des italienischen Faschismus.

Die überlieferte Ansicht betrachtet das Strafrecht unter rationalen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten nur als Mittel der Verbrechensbekämpfung. Das Strafrecht dient hiernach diesem einen praktischen Zweck und empfängt von dorther seine Gestalt. Es stellt somit innerhalb des staatlichen Lebens einen Sonderbezirk dar, der eigenen Gesetzen unterworfen ist, der durch keine Rücksichten auf Bedürfnisse jenseits der Verbrechensbekämpfung bestimmt wird. Eine mehr vom Staatsgedanken bestimmte Auffassung hingegen kann weder dem Strafrecht noch überhaupt einem Bezirk des öffentlichen Lebens ein Sonderdasein gestatten. Sie lässt autonome Einzelzwecke nicht gelten, sondern bewertet das Strafrecht zunächst und in erster Linie als Mittel zur Erhaltung und Bewährung der Staatsgewalt schlechthin. Im totalen Staat erhält jeder Bezirk des öffentlichen Lebens sein Gepräge durch die Bedeutung, die ihm für die Gesamtheit des staatlichen Lebens zukommt, durch den Eindruck, der nach außen entsteht. Denn das Strafrecht ist keine Insel, kein abgesonderter Raum mit undurchsichtigen Wänden, sondern ein öffentliches Schauspiel, dem die Gesamtheit der Rechtsgenossen beiwohnt. Und zwar nicht etwa mit dem leidenschaftslosen Interesse des unbeteiligten Zuschauers, sondern mit ganz bestimmten Erwartungen und Hoffnungen, mit der inneren Anteilnahme eines lebendigen Rechtsgefühls, mit der Bereitschaft, den Staat nach der Art der Verbrechensbekämpfung (wenn auch nicht danach allein) zu bewerten. Es bedarf keiner Worte darüber, dass das Strafrecht einen der sichtbaren und repräsentativsten Bereiche der Rechtsordnung darstellt. Darum hat das Strafrecht nicht nur den praktischen Bedürfnissen der Verbrechensbekämpfung zu dienen, sondern zugleich diese Fernwirkungen der Strafe, ihren Eindruck auf die Gesamtheit der Bürger, ihre Bedeutung für das Ansehen des Staates zu beachten.

Daraus ergeben sich weitgehende, bisher nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten für die Erziehung der Gesamtheit. Das liberale Denken hat den Erziehungsgedanken einseitig verstanden. Es hat die Vorstellung entwickelt, dass die Erziehung sich zuerst nach ihrem Gegenstande bestimme, sich – unter Verzicht auf Zwang und stärkeren Eingriff – dem zu Erziehenden anpassen müsse. Die allgemeine Erziehung wie die Erziehung im Strafvollzuge war in diesem Sinne Individualpädagogik. Die Erziehung im autoritären Staat wird in stärkerem Maße Erziehung der Gesamtheit sein. Die sozialpädagogischen Möglichkeiten des Strafrechts, ihre Wirkungen auf die Gesamtheit geben den Ausschlag. Das bedeutet: Durch die Einwirkung auf den Einzelnen sucht der Staat nicht nur in dem unmittelbar Erzogenen, sondern in der Gesamtheit ein Höchstmaß von Staatsgesinnung zu erzielen, seine Autorität soweit möglich zu steigern. So ist das Verbrechen nicht nur Grund, sondern Anlass der Strafe. Der Staat benutzt die Strafe, um seine Macht aller Welt sichtbar vor Augen zu führen. In der Strafe offenbart sich symbolisch die Würde des Staates, die Todesstrafe macht eindringlich sichtbar, dass der einzelne dem Staate preisgegeben werden darf.

Vor Übertreibungen dieses Gedankens, vor Überschätzung der an sich unbestreitbaren Fernwirkung des Strafrechts bewahrt eine zweifache Überlegung: Die Strafe kann ihre sozialpädagogische Aufgabe nur dann erfüllen, wenn sie den Zusammenhang mit Verbrechen und schuldhafter Gesinnung deutlich erkennen lässt. Ein brutales Zuschlagen ohne Rücksicht auf Schuld und Täterschaft wäre sinnlose Barbarei und würde nicht verstanden werden. Die übersteigerte Strafe erzieht niemand, weder den Einzelnen noch die Gesamtheit. Zweitens bleibt zu bedenken, dass die Staatsautorität niemals allein auf das Strafrecht gestützt werden kann. Kann ein völlig zerfallener Staat seine Macht nicht anders beweisen als durch Strafe und äußeren Zwang, so hat er keine Daseinsberechtigung mehr. Das Strafrecht kann immer nur eines unter vielen Mitteln der Autoritätswahrung sein. Erst wenn in allen Bezirken des öffentlichen Lebens – über alle Sonderzwecke hinaus – diese Rücksicht auf Fernwirkungen der einzelnen Maßnahmen und die Autorität und Totalität des Staates hervortritt –, erst dann und aus der Summe dieser Teilwirkungen entsteht ein Höchstmaß staatlicher Macht. Nur dann kann dieser Gesichtspunkt zurücktreten, wenn die Staatsautorität ohnehin nachhaltig geschützt ist. Gänzlich darf er niemals fehlen, und vollends nicht heute, in einer Zeit, in der die Staatsgewalt schwach ist.

Somit ist der Verbrechensbekämpfung von Anfang an eine Schranke gezogen. Die unmittelbaren Bedürfnisse der Verbrechensbekämpfung können niemals allein herrschen. Aber auch bei der Lösung dieser Sonderaufgabe, die neben der Stärkung des Staates an sich die vornehmste und selbstverständlichste Aufgabe der Rechtspflege bleibt, auch bei der Verbrechensbekämpfung gilt es, das richtige Verhältnis zu finden zwischen Einwirkungen auf den Einzelnen und auf die Gesamtheit, zwischen Erziehung, Unschädlichmachung und Abschreckung, zwischen Spezial- und Generalprävention. Damit scheint der Rücksichtnahme auf den Verbrecher von vornherein eine doppelte Grenze gezogen. Diese Rücksicht darf einmal nur so weit gehen, dass die Staatsautorität gewahrt bleibt, der Eindruck auf die Gesamtheit nicht verfehlt wird. Zweitens muss die Einwirkung auf den einzelnen so nachhaltig sein, dass außer dem Täter auch andere für die Zukunft abgeschreckt werden. Damit ist die Frage nach dem Wert und den Grenzen der Spezialprävention, der Einwirkung auf den einzelnen Täter gestellt. Die Spezialprävention im landläufigen Sinne stellt jeden Verbrecher vor die Wahl, ob er sich erziehen lassen oder sich der Unschädlichmachung durch staatliche Sicherung aussetzen will. In jedem Falle wäre somit nach der Erziehbarkeit, nach den Möglichkeiten der Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu fragen. Sodann wäre von diesem Standpunkt auch das Maß der Einwirkung im Einzelfalle durch individualpädagogische Gesichtspunkte bestimmt. Da es gilt, den Verbrecher für die Gesellschaft zurückzugewinnen, so darf der staatliche Eingriff nicht das Maß überschreiten, das für die Lösung dieser Aufgabe notwendig scheint.

Ist damit die zwiefach notwendige Rücksicht genommen, sind Staatsautorität und Generalprävention hinreichend gewürdigt? Diese Frage ist, so scheint uns, zu verneinen. Zwar wird die Begehung eines Verbrechens sehr oft darauf hindeuten, dass im Verhältnis zwischen Gesellschaft und Täter eine Unordnung besteht, dass es somit nachhaltiger Einwirkungen auf den Verbrecher bedarf, und so kann man sich zweifellos denken, dass die eindringliche spezialpräventive Einwirkung im Strafvollzuge oftmals als Nebenwirkung beides erzielt: einen nachhaltigen Eindruck auf die Gesamtheit und die Fernhaltung Gleichgesinnter vom Verbrechen. Auch die gerechte Vergeltung ist so oft zu erzielen, nämlich dort, wie die Notwendigkeit pädagogischer Einwirkungen sich mit dem Bedürfnis nach angemessener Sühne begegnet. Aber notwendig ist das nicht. Man braucht sich keineswegs in lebensferne Konstruktionen zu verlieren, um Fälle zu finden, in denen der Urheber eines Verbrechens aus einmaligen, nicht wiederkehrenden Ursachen gehandelt hat und nach menschlichem Ermessen das Gesetz nicht mehr verletzen wird, manche Affektverbrechen, gewisse Notdelikte usw. Soll in diesen Fällen von Strafe abgesehen werden, da eine Resozialisierung unnötig wäre? Oder soll eine geringfügige Einwirkung genügen, wo das schwere Verbrechen unter pädagogischen Gesichtspunkten nur einen „Denkzettel“, eine harmlose Maßnahme erfordert? Wer nur die Spezialprävention gelten lässt, muss sich mit dem Gedanken an den Mörder befreunden, der mit einer Verweise davonkommt, oder an den Sittlichkeitsverbrecher, dessen Strafe mit Bewährungsfrist ausgesetzt wird. Die Annahme einer auch nur in der Regel bestehenden „prästabilisierten Harmonie“ zwischen Spezialprävention und Generalprävention, Vergeltung und Autoritätsbewährung, wird der Wirklichkeit nicht gerecht. Durch die Bedürfnisse der Erziehung und den Gedanken der Spezialprävention werden oft nur Maßnahmen nahegelegt, die den Notwendigkeiten einer wirksamen Rechtspflege schlechterdings nicht genügen.

Daher ist die einseitige Spezialprävention abzulehnen. Es gibt Fälle, in denen die Frage nach der Erziehbarkeit überhaupt nicht gestellt werden darf. Ob Haarmann oder Kürten hätten geheilt und in die Gesellschaft zurückgeführt werden können, war vollständig gleichgültig. Auch dort aber, wo die Rücksicht auf die Erziehbarkeit des Verbrechers mit den Notwendigkeiten der autoritären Rechtspflege nicht von vornherein unvereinbar ist – und das ist natürlich die Regel –, auch dort findet die Resozialisierung ihre Grenzen. So ergibt sich für gewisse und namentlich für die schwersten Verbrechen die Forderung nach Bestrafung ohne jede Rücksicht auf die Besserungsfähigkeit des Täters, für die minder schweren die Notwendigkeit einer Begrenzung des Erziehungsraumes, etwa durch Einengung der Strafrahmen, durch Strafurteile, die – im Gegensatze zum völlig unbestimmten Strafurteil – nur beschränkten Spielraum lassen, durch eine vorsichtige Regelung des Strafvollzuges, der nicht von ausschließlich individualpädagogischen Gesichtspunkten beherrscht sein darf. Das autoritäre Strafrecht – dieser Gedanke darf uns nicht mehr erschrecken – wird so auch Besserungsfähige gelegentlich preisgeben. Aber das ist gerechtfertigt durch das Interesse und die höhere Würde des Staates, der nicht die Aufgabe hat, jede Seele zu retten. Wo die Wahl hat zwischen einer nachhaltigen Einwirkung auf die Gesamtheit durch rücksichtslosen Zugriff auf den Einzelnen und der Möglichkeit, den Einzelnen für die Gesellschaft zurückzugewinnen, doch nur unter stärkster Belastung des Rechtsgefühls, dort wird er sich für das erstere entscheiden.

So bleibt für die Spezialprävention nur ein begrenzter Bereich. Nicht immer und überall ist die Frage nach der Erziehbarkeit zu stellen, und auch dort, wo sie gestellt werden darf, sind die Möglichkeiten pädagogischer Einwirkungen beschränkt. In diesen Grenzen aber soll die Frage nach der Erziehbarkeit auch ernsthaft gestellt werden.

Es darf also nicht jeder Verbrecher zunächst und grundsätzlich als erziehbar gelten, sondern die Frage ist von Fall zu Fall zu prüfen. Die moderne Verebungsforschung hat uns in den letzten Jahrzehnten neue und früher ungeahnte Einsichten über die Bedeutung des Anlagefaktors unter den Verbrechensursachen eröffnet. Da Anlageeinflüsse im Charakterbild nicht durch Erziehung beseitigt werden können, so besteht wohl nach allen Erfahrungen der Wissenschaft und des Lebens heute kein Zweifel daran, dass die Möglichkeiten zur Erziehung erwachsener Menschen begrenzt sind. Mit dieser Erfahrung stünde eine Praxis in Widerspruch, die grundsätzlich jeden Verbrecher als erziehbar betrachtet, die ihre Kräfte in sinnlosen Besserungsversuchen verbraucht, die nur die eine Seite der Spezialprävention erfasst – eben den Erziehungsgedanken –, auf Sicherung und Unschädlichmachung aber verzichtet. Das Strafrecht des autoritären Staates wird das Gleichgewicht zwischen Erziehung und Sicherung, wird also die echte Spezialprävention wiederherstellen und die Sicherungsverwahrung durchsetzen müssen. Ja, es wäre denkbar, dass die ernsthafte Verwirklichung der Spezialprävention den Gedanken der Sicherung in den Vordergrund rückte. Natürlich besteht hier die Gefahr, dass – ähnlich wie das Gleichheitsprinzip des Sozialismus bei der kausalen Verbrechenserforschung zur Überbetonung der Milieueinflüsse und damit der Erziehbarkeit führte – umgekehrt das aristokratische „Führer“-Ideal des Konservativismus zur Überbetonung der Anlageeinflüsse und der Degenerationstheorie und damit wiederum zur Annahme allgemeiner Unerziehbarkeit führen könnte. Je klarer man sich von vornherein über diese Gefahr ist, desto eher wird man sie vermeiden können.

In den angedeuteten Grenzen wird nun auch der autoritäre Staat an der Forderung intensiver Erziehung im Strafvollzug festhalten müssen, und auch für ihn wird diejenige Erziehungsweise die angemessene sein, welche zu den besten Erfolgen führt. Indessen darf diese grundsätzliche Übereinstimmung nicht darüber hinwegtäuschen, dass wie das Strafrecht auch der Erziehungsstrafvollzug im autoritären Staat wesentlich anders aussehen wird als im sozial-liberalen Staat. Denn schon die Beantwortung der Frage, an Hand welcher Maßstäbe die Erziehbarkeit zu beurteilen ist, noch mehr an die weitere Frage, wie denn eigentlich, mit welchem Ziel und mit welchen Methoden die Erziehung im Strafvollzug praktisch zu leisten ist, setzen eine eindeutige Bestimmung des Inhalts dieser Erziehung voraus. Man hat freilich bisher gesagt: wie das Verbrechen ein Symptom für die antisoziale Gesinnung des Verbrecher, für seine Gesellschaftsgefährlichkeit ist, so ist das Ziel der Erziehung und das Urteil über die Erziehbarkeit bestimmt durch die Resozialisierung des Verbrechers, seine Wiedereinführung in die Gesellschaft. Aber mit einer solchen Antwort wäre wenig getan. Denn die Begriffe „antisozial“, „Gesellschaftsgefährlichkeit“ und „Resozialisierung“ sind Wertbegriffe, die eine verschiedene Gestalt annehmen je nach dem weltanschaulichen und politischen Standpunkt, den man bei ihrer Bestimmung unterstellt. Es ist also natürlich, dass die „Resozialisierung“ in der kommunistischen Gesellschaft anders aussehen muss als in einer kirchlich-katholischen oder in einer konservativ-nationalen Gesellschaft. Ebenso natürlich ist aber, dass in einer Zeit, die ihr Gepräge durch die Ideen des „neutralen Staats“, des erkenntniskritischen Relativismus und der „voraussetzungslosen Wissenschaft“ erhielt, auch in der Anstaltserziehung eine pädagogische Richtung zur Herrschaft gelangen musste, deren Parole die „pädagogische Autonomie“ war. Darunter ist zu verstehen eine in ihrer Methode angeblich nur durch objektive Gegebenheiten bestimmte, also weltanschaulich nicht gebundene Pädagogik, deren Ziel sich darauf beschränkt, den Zögling sich möglichst frei entwickeln zu lassen, seine inneren und äußeren Hemmungen zu lösen, ihn geistig „aufzuwecken“, um ihn dann die freie Wahl zwischen den verschiedenen denkbaren Weltanschauungen und letzten Werten zu ermöglichen. Wenn auch die konsequente Verwirklichung dieses pädagogischen Ideals bisher nur in wenigen Musteranstalten ernstlich in Angriff genommen wurde – und zwar auch hier häufiger in Fürsorgeerziehung und Jugendstrafvollzug als im Erwachsenenstrafvollzug –, so wirkte sich doch ganz allgemein jene relativistische Grundhaltung der Zeit dahin aus, dass man die Aufgabe der Erziehungsarbeit in der Anstalt lediglich in der Erziehung des Sträflings zur allgemeinen bürgerlichen Tüchtigkeit, zur Anständigkeit gegenüber den Mitmenschen, zur Ehrlichkeit, Sauberkeit und dergleichen sah und eine eindeutige weltanschauliche Zielsetzung bewusst vermied.

Indessen hat sich inzwischen in der modernen Pädagogik die gleiche Wandlung vollzogen, wie sie hier für das Strafrecht geschildert und gefordert wird. Sehr mit Recht hat man eingewendet, dass der Gedanke einer Pädagogik, die über den Weltanschauungen stehe, eine Selbsttäuschung enthalte, und dass jene in den letzten Jahrzehnten zur Herrschaft gelangte Richtung, welche in der Möglichkeit freier und eigengesetzlicher Entscheidung des Zöglings das Ziel der Erziehung sehe, nichts weiter als die pädagogische Ausdrucksform des relativistischen Liberalismus sei. In diesem Sinne ist die Stellung der „pädagogischen Autonomie“ gerade in neuester Zeit von den Weltanschauungen mit Absolutheitscharakter auf das heftigste berannt worden, und zwar sowohl von kirchlich-konfessioneller (Schröteler, Kleßmann) wie von sozialistischer (Jakobi) und vor allem von national-konservativer Seite (Krieck).

Die Berechtigung und Bedeutung dieser Angriffe wird noch unterstrichen durch die Überlegung, dass sich in der Praxis in stets wachsendem Maße die Krise der autonomen Pädagogik nicht nur beim Erzieher, sondern auch von der Seite der Zöglinge her bemerkbar machen muss. Denn auch diejenigen Menschen, welche als Objekte der Erziehung in den Strafvollzug oder in die Fürsorgeerziehung gelangen, sind heute ergriffen von der Erschütterung der alten Werte, von der allgemeinen Politisierung und dem Verlangen nach klarer weltanschaulicher Entscheidung. Menschen dieser Art wird ein Erziehungsideal, welches eine Antwort auf letzte Fragen weder geben kann noch will, niemals völlig gerecht werden können. Dieser Gedanke beruht keineswegs auf lebensferner Konstruktion. Erst kürzlich wurde in einem Aufsatz über die augenblickliche Situation der Fürsorgeerziehung sehr mit Recht gefragt, dass schon daraus, dass gerade in Zusammenhang mit den Revolten immer wieder von politischer Verhetzung gesprochen werde, sich die Forderung nach politischer Erziehung von selbst ergebe.

Aus allem folgt, dass heute mehr denn je die Erziehung nur Erfolg haben kann, wenn sie aus einem bestimmten „Geiste“ heraus erfolgt und damit in einer Atmosphäre sich vollzieht, die den Alltäglichkeiten der nüchternen Einzelarbeit erst die Grundlage gibt. Diese Forderung nach eindeutiger Festlegung des Erziehungszieles erfordert Bekenntnis und offene Wertung. Dreierlei scheint uns wesentlich: der Erziehungsinhalt muss einmal die autoritäre Staatsauffassung und den nationalen Gedanken widerspiegeln, die den Staat, wie wir glauben, in Zukunft gestalten. Der Strafvollzug muss ferner dazu benutzt werden, um in den Grenzen des Möglichen die Achtung und das Gefühl für die traditionellen Werte der deutschen Kultur zu erhalten oder solche Wertvorstellungen neu zu erzeugen. Endlich wird der Strafvollzug den Gedanken der Volksgemeinschaft, der über Standes-, Klassen- und Besitzunterschiede hinausreichenden Verbundenheit aller Deutschen in den Vordergrund stellen und den mit dieser Idee unvereinbaren Gedanken des Klassenkampfes bekämpfen müssen.

Das Erziehungsziel bestimmt zwar nicht ausschließlich, aber doch in starkem Maße die Methoden der Erziehung. Ebenso wie die herrschende Pädagogik der letzten 12 Jahre in ihrer Methode letztlich deshalb so sehr den Gedanken freier und hemmungsloser Entwicklung der Persönlichkeit betonte, weil ihr die Freiheit an sich ein höchster Wert war, und ebenso wie sie gleichzeitig deshalb die Parole der Gemeinschaftserziehung ausgab, weil darin die sozialistische Kompromisshälfte zum Ausdruck gelangte, ebenso wird auch in den Erziehungsmethoden der Zukunft sich auswirken müssen, dass die Anerkennung des Autoritätsgedankens an sich zu den Erziehungsaufgaben gehört. Das schließt eine weitgehende Übernahme der Erziehungsmethoden des modernen Strafvollzuges – von den Erfahrungen der neueren Psychologie, Psychiatrie und Soziologie über den Strafvollzug bis zu sinngemäßer Freizeitgestaltung – nicht aus. Dass Unterricht und Seelsorge in der Anstalt keinen Anlass zu billigen Moralisieren und zu Gesinnungsschnüffelei bieten dürfen, versteht sich ebenso von selbst, wie dass die moderne Erziehungsstrafanstalt keine Kaserne der Vorkriegszeit ist. Andererseits aber muss sich wie bei der Bestimmung des Erziehungsziels auch bei der Auswahl der Erziehungsmethoden des Strafvollzuges geltend machen, dass die zu erziehenden Menschen von 1932 nicht mehr die Menschen von 1913 oder 1920 sind. Damals mochte eine möglichst freie und den Zwang vermeidende Erziehungsweise nicht nur der liberalen Idee, sondern auch der inneren Haltung der Zöglinge entsprechen. In einer Zeit aber, in der sich viele Hunderttausende freiwillig militärischem Zwang unterwerfen und in der alle deutschen Parteien den vielleicht wirksamsten Teil ihrer politischen Erziehung durch militärähnliche Organisationen – von Rotfrontkämpferbund bis zu den nationalsozialistischen SA und SS – leisten, in einer solchen Zeit könnte nur ein Blinder die außerordentliche pädagogische Bedeutung militärischer Straffheit und Disziplin leugnen. So verstanden, trifft es auch für die moderne Strafvollzugspädagogik zu, wenn gesagt wird, dass jede Zeit die Erziehung hat, die sie verdient.

Die Beschränkung der Spezialprävention auf den Bereich, der nach Vor-Befriedigung staatlicher Mindestbedürfnisse übrigbleibt, erlaubt auch die Beibehaltung von Straftaten, die aus dem Gedanken der Spezialprävention allein schwer zu rechtfertigen wären. Das Strafrecht des autoritären Staates wird insbesondere nicht auf die Todesstrafe verzichten können, die im Volksbewusstsein noch durchaus lebendig ist, den Kulturanschauungen unserer Zeit in Wahrheit nicht widerspricht und geeignet scheint, den Autoritätsgedanken besonders stark zur Geltung zu bringen. Hinzu kommt die Eignung der Todesstrafe als Mittel der Unschädlichmachung und Abschreckung.

Aus der Ablehnung der schrankenlosen Spezialprävention, aus der Forderung nach Durchsetzung der Staatsautorität und nach Verwirklichung der Generalprävention ergeben sich die Richtlinien für die Strafzumessung. Zwar ist mit Entschiedenheit zu betonen, dass schon die Strafzumessung in den letzten Jahrzehnten den Bedürfnissen einer wirksamen Strafrechtspflege nicht mehr genügt hat, und das, obwohl die Gerichte an Vergeltung und Abschreckung grundsätzlich festhielten. Aber die Verwirklichung der ausschließlichen Spezialprävention und die zwangsläufig damit verbundene Erweiterung des richterlichen Ermessens würde dieses Versagen noch steigern. Die Herabsetzung der Strafmindestmaße, die Möglichkeiten des Absehens von Strafe und der Gewährung von Strafmilderungen etwa nach den Bestimmungen der jüngsten Entwürfe würden schrankenlos ausgenutzt werden und zur völligen Auflösung führen. Der Glaube, das der Richter, wenn man ihn nur auf die Spezialprävention hinweise und ihm freie Hand lasse, nun plötzlich Verständnis für die Notwendigkeiten einer kraftvollen Rechtspflege zeigen würde, diese Hoffnung scheint in nichts begründet. Vielmehr lassen die Erfahrungen auf dem Gebiete der Strafzumessung mit Sicherheit das Gegenteil erwarten. Nötig scheint daher eine Einschränkung des richterlichen Ermessens, eine Nachprüfung auch der Strafzumessungsgründe durch die Revisionsgerichte, die Heraufsetzung der Strafminima, unter Umständen die Androhung absoluter Strafen, kurz ein Zwang für den Richter zum Durchgreifen.

Das Strafrecht des autoritären Staates wird auch neue Wege in der Bewertung der Rechtsgüter gehen. Dem autoritären Staatsgedanken, der auf dem Glauben an absolute, transpersonale Werte beruht und den Staat in den Dienst einer sittlichen und allgemeinverbindlichen Werteordnung stellt, entspricht ein nachhaltiger Schutz eben dieser geistigen und sittlichen Werte. So wird einmal die Würde des Staates und die Ehre der Nation nachhaltig zu schützen sein, so wird der Staat die kulturellen und religiösen Werte der abendländischen Kultur zu verteidigen haben und sich keiner individualistischen Zeitströmung zuliebe von der Abwehr religionsfeindlicher Bestrebungen und anderer Zersetzungserscheinungen zurückhalten lassen. Der totale Staat wird nicht wieder dem Irrtum des Staates von 1914 verfallen, der die Nation geistig sich selbst überließ und so – schon vor dem Kriege – die Zerstörung seiner Grundlagen zuließ. Allerdings wird darauf Bedacht zu nehmen sein, dass nicht gerade bei der Aufstellung dieser Strafnormen und der Abgrenzung solcher Tatbestände die Mindesterfordernisse rechtsstaatlichen Denkens vernachlässigt werden und der Täter nicht völlig dem subjektiven Ermessen und der Willkür des Richters zum Opfer fällt.

Bei der Stellungnahme zur Frage der Gewaltenteilung ist davon auszugehen, dass der Staat selbst über die Handhabung der Strafrechtspflege wachen muss. Er kann weder dem Staatsinteresse schädliche Einflüsse von außen dulden noch die Ausführung des Staatsgedankens von innen her durch die Organe der Strafrechtspflege selbst. Daraus folgt: Erstens die Notwendigkeit einer Abwehr der von außerhalb des Strafrechts ausgehenden Einflüsse auf die Rechtspflege. Namentlich muss der Druck der Presse auf die Rechtspflege gelockert werden. Es darf nicht vorkommen, dass die Anklagebehörde in der Verfolgung des Verbrechens aus Furcht vor der Presse versagt. Es gilt, den Angstzirkel zu unterbrechen, der oft zu beobachten war: Der Staatsanwalt nimmt Rücksicht auf die vorgesetzte Behörde, die ihrerseits auf den Minister blickt, der wieder vom Parlament abhängig ist, das seinerseits durch die Angst vor Wählern und Presse gehemmt ist. Zwar bestehen keine Bedenken gegen die Unterrichtung der anständigen Presse durch die Justizverwaltung und gegen die Zulassung geeigneter Persönlichkeiten zu den Verhandlungen. Im ganzen aber scheint eine stärkere Zurückhaltung in dieser Richtung geboten, wie denn überhaupt die dringendere Notwendigkeit nicht die Ausdehnung der Pressefreiheit zu sein scheint (etwa durch Erweiterung des § 193 StGB), sondern der Schutz der Staatsorgane gegen unberechtigte Kritik und Hetze. Zweitens sind Sicherheiten dafür zu schaffen, dass der Richter das Strafrecht im Sinne der autoritären Staatsführung auch wirklich anwendet. Hier ergeben sich wichtige Aufgaben für die Gesetzgebung. Die Legislative muss den von der öffentlichen Meinung, von Presse und Verwaltung, von allen möglichen Interessenten und Interessierten ausgehenden Druck auf den Richter lockern, diesen Druck nach Möglichkeit abfangen, und verhindern, dass der Richter sein Ermessen einseitig zugunsten des Täters verwendet. Daraus ergibt sich die Forderung nach Einengung des richterlichen Ermessens wenigstens für eine gewisse Übergangszeit, in der der Richter sich auf das neue Strafrecht umzustellen hätte. Die Gesetzgebung wird auch darauf zu achten haben, wieweit die Gerichte bei Ausgestaltung und Neubildung übergesetzlicher Strafausschließungsgründe Zurückhaltung üben und nötigenfalls eingreifen müssen, wenn die Strafrechtspflege durch eine zu weitgehende Aufweichung des Gesetzes gefährdet wird. Die Laiengerichtsbarkeit wird einzuschränken, bei der Aburteilung solcher Verbrechen, bei denen die Wirkung der Strafe auf die Gesamtheit und die Generalprävention die maßgebenden Gesichtspunkte liefert, vielleicht sogar preiszugeben sein. Gerade hier weist das Notverordnungsstrafrecht die Richtung.

Somit ist Vorsicht geboten bei der nach dem Scheitern der Strafrechtsreform unvermeidlichen und in gewissen Grenzen wünschenswerten Auflockerung des Satzes nulla poena sine lege. Dieses Prinzip, der Satz, dass der Richter das Gesetz nicht überschreiten dürfe, wurde bisher im wesentlichen zugunsten des Täters gedeutet und der Entstehungsgeschichte dieser Regel entsprechend mit Recht auf liberalen Grundanschauungen gerechtfertigt. Eine gewisse Bindung des Richters entspricht aber zugleich der autoritären Staatsauffassung, die das Strafrecht als wesentlichen Bestandteil der Staatsgewalt ansieht und dem Staate die Handhabung dieses Machtmittels sichern will. Der Staat kann die Entscheidung über die Grenzen des strafbaren Unrechts nicht ganz dem Ermessen des Richters anheimgeben. Das gilt schon für normale Zeiten, aber noch mehr in einer Zeit, in der die Organe der Strafrechtspflege den staatlichen Notwendigkeiten nicht in vollem Umfange Rechnung zu tragen geneigt sind. In dem Wunsche nach Bindung des Richters treffen also in gewissem Maße liberales und rechtsstaatliches Denken auf der einen Seite und konservativ-autoritäre Anschauungen auf der anderen Seite zusammen.

VII: Die Zukunft des Strafrechts

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wie ist die Zukunft des Strafrechts zu denken, und welche Stellung ergibt sich vom Standpunkt des autoritären Strafrechts zur Strafrechtsreform?

Das heute geltende Strafgesetzbuch von 1871 ist zweifellos in manchen Teilen veraltet und befriedigt nicht mehr alle praktischen Bedürfnisse der Gegenwart. Trotzdem sind über das Verhältnis dieses Gesetzes zum Rechtsempfinden, zu den Kulturanschauungen und Bedürfnissen der Zeit falsche Vorstellungen im Umlauf. Es kann nicht zugegeben werden, dass das heute geltende Gesetz dem Rechtsempfinden unserer Zeit wesentlich ferner stünde als z.B. die Entwürfe von 1925 und 1927. Feststellungen in dieser Richtung sind überhaupt schwer zu treffen. In der Zeit des Überganges und der Kulturkrise, in der wir uns befinden, sind die „Kulturanschauungen“ vielgestaltig und in ständigem Wandel begriffen. Hier wirken sich die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, die politischen und weltanschaulichen Spannungen aus, die der Gegenwart das Gesicht geben, Gegensätze, die zu den natürlichen Verschiedenheiten von Stadt und Land, von Nord und Süd, von Bürgertum und Proletariat noch hinzukommen. So scheint es von vornherein gewagt, wenn man ein Gesetz als nicht mehr dem Volksempfinden entsprechend bezeichnet und die Volksüberzeugung, das moderne Rechtsgefühl oder dergleichen für die Reform in Anspruch nimmt. Man ist viel zu sehr geneigt, die „Volksanschauung“ mit den Anschauungen begrenzter Volksteile oder gar mit den Privatansichten kleiner, aber einflussreicher Gruppen zu verwechseln, etwa die Kreise zum Maßstab zu nehmen, die den technischen Apparat für die Beeinflussung der öffentlichen Meinung beherrschen und mit Hilfe einer geschickten und lauten Propaganda dem Volksempfinden Ausdruck zu geben behaupten. In Wahrheit sind z.B. auf dem Lande und in den kleineren Städten, aber auch in weiten Kreisen des großstädtischen Bürgertums und Proletariats noch konservative und bodenständige Kräfte lebendig, die nur nicht jene geistreichen und bestechenden Ausdrucksformen finden und von vornherein nicht so nach Äußerung drängen wie jene lärmende Kreise. So ergibt sich denn aus Presse, Film und Literatur ein Zerrbild des Volksempfindens und des Rechtsgefühls unserer Zeit. In Wahrheit ist keine Rede davon, dass der Vergeltungsgedanke als Rudiment „mittelalterlicher“ Vorstellungen nur noch in entlegenen Dörfer ein kümmerliches Dasein fristet. Es stimmt einfach nicht, dass die Todesstrafe vom „modernen Rechtsempfinden“ als „Kulturschande“ abgelehnt wird. In Wahrheit steht die Tendenz zur Auflösung des Strafrechts, die fortschreitende und sinnlose Erweichung der Strafrechtspflege im Widerspruch zum unverbildeten Rechtsgefühl.

Auf der anderen Seite hieße es den gleichen Irrtum zu begehen, wenn man das Strafrecht des autoritären Staates als dem Rechtsempfinden der Zeit entsprechend angeben wollte. Es gibt eben heute noch kein einheitliches Rechtsgefühl, keine „herrschende Meinung“, die einer großzügigen Reform den nötigen Rückhalt zu bieten vermöchte. Die Zeit des Übergangs und der Krise, eine Zeit, in der die verschiedenen geistigen Kräfte noch nicht beieinanderliegen und miteinander ringen - religiöse Inbrunst und straffer Materialismus, Autoritätsglaube und Anarchie, Nationalismus und Internationalismus, Staatsgesinnung und Individualismus -, eine solche Zeit ist nicht reif für die Strafrechtsreform. Die umfassende Reform des Strafrechts an Haupt und Gliedern darf erst dann versucht werden, wenn die Krise überwinden ist und das Rechtsgefühl sich in ruhigen Zeiten hat festigen können.

Diese Zurückhaltung gegenüber der Reform wird vollends dadurch gerechtfertigt, dass ja die Praxis der Rechtsanwendung Mittel und Handhaben bietet, mit deren Hilfe eine vorsichtige und organische Fortbildung des Rechts, seine Anpassung an die Bedürfnisse der Zeit auch heute schon möglich wird. Dem Bedürfnis nach Einführung der Sicherungsverwahrung, nach wirksamerer Gestaltung des Wirtschaftsstrafrechts und anderer Notwendigkeiten wäre etwa durch Novellengesetze abzuhelfen. Zugleich aber hat die Rechtsprechung Methoden der Gesetzesauflösung und zugleich der Neubindung des Richters, ein Typisierungsverfahren im gesetzesleeren Raum, entwickelt, das die Notwendigkeit eines gesetzgeberischen Eingriffs als nicht mehr dringend erscheinen lässt.

Diese Mittel scheinen zum mindesten für eine gewisse Übergangszeit ausreichend. Aber man darf überhaupt die Bedeutung der Strafrechtsreform nicht überschätzen. Im Grunde ist der Glaube, allein durch die Konstruktion einer Gesetzesreform lasse das Recht sich erneuern, ein rationalistischer Irrtum. Gerade die Gegenwart liefert überzeugende Beweise für die Richtigkeit und Tiefe der von der historischen Rechtsschule gewonnenen Einsichten. Ohne formale Änderung des Gesetzes hat die Praxis fast überall neue Wege gefunden, das Gesetz mit neuem Inhalt erfüllt. Man denke an den Umfang der Aufwertung, an das moderne Gesellschaftsrecht, das sich im wesentlichen außerhalb des Gesetzes entwickelt hat, namentlich an das Verfassungsrecht, das ohne förmliche Änderung der Verfassung völlig umgestaltet worden ist. Überall ist das Rechtsleben in der Bewegung begriffen, nur der Buchstabe des unveränderten Gesetzes ist geblieben. Sollte es im Strafrecht anders sein? Die praktische Arbeit des Strafvollzuges, die Entscheidungen des Höchsten Gerichts haben im letzten Jahrzehnt geradezu ein neues Strafrecht geschaffen. Allerdings bringt eine solche außergesetzliche Fortentwicklung des Rechts den Nachteil der Unübersichtlichkeit und Unsicherheit mit sich. Aber dieser Mangel würde nicht aufgehoben, sondern eher vergrößert werden, wenn durch ein neues Gesetz ein Staats- und Rechtsideal durchgesetzt würde, das sich schon mitten in der Auflösung und Krise befindet und durch neue Ideale abgelöst zu werden beginnt, und wenn diese neuen Ideen sich dann ihrerseits wiederum auf außergesetzlichem Wege Geltung verschaffen müssten.

In Wahrheit ist es also mit einem neuen Gesetz nicht getan. Wichtiger als das beste Gesetz ist der Geist, in dem es angewendet wird, ist die Stellung des Richters, des Strafvollzugspraktikers zum Staate. Darum scheint es uns die beste Reform, das dringendste Bedürfnis nicht ein neues Gesetz, sondern die Durchdringung der Rechtspflege mit einem neuen Geist und mit einer neuen Staats- und Strafrechtsgesinnung.