„Reichsfeinde“ – Versionsunterschied

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=== Deutung ===
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Die Funktion des bismarckschen Redens über angebliche Reichsfeinde wird in der Fachliteratur unterschiedlich angegeben. Laut dem Historiker [[Dieter Langewiesche]] ging es dabei um die Ausbildung einer [[nationale Identität|nationalen Identität]]: Durch die Markierung von Feinden habe man das [[Selbstbild]] festigen können. Die [[Integration (Soziologie)|Integrationskraft]] des [[Nationalismus]] sei bald stark genug gewesen, sodass viele binnennationale Differenzen hätten abgebaut werden können.<ref name="Langewiesche 53">Dieter Langewiesche: ''Nation, Nationalismus, Nationalstaat. In Deutschland und Europa'' (=&nbsp;''Beck’sche Reihe.'' Bd. 1399). C.H. Beck, München 2000, ISBN 3-406-45939-0, S. 53.</ref> Ähnlich argumentiert die Sprachwissenschaftlerin Szilvia Odenwald-Varga, die schreibt, dass die Beschwörungen von angeblichen Gefahren durch innere und äußere Reichsfeinde der „Integration des Staatskollektivs“ dienten: In wechselnden Koalitionen habe Bismarck mal mit den [[Deutschkonservative Partei|Konservativen]], dann wieder mit den Liberalen zusammengearbeitet, in den 1860er Jahren sogar eine Annäherung an [[Ferdinand Lassalle]] vom ADAV versucht. Er habe die „Reichsfeinde“ bekämpft und „dann wieder diese oder zumindest ihr Klientel bzw. Teile davon für sich zu gewinnen“ gesucht.<ref>Szilvia Odenwald-Varga: '',Volk‘ bei Otto von Bismarck. Eine historisch-semantische Analyse anhand von Bedeutungen, Konzepten und Topoi''. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2009, S. 193 und 464.</ref> Auch [[Hans-Ulrich Wehler]] nennt als Ziel des Reichsfeinde-Diskurses, die innere [[Homogenität (Soziologie)|Homogenität]] des jungen deutschen Staates zu erzwingen; zudem habe Bismarcks rücksichtsloser Kampf gegen die „Reichsfeinde“ aber der eigenen innenpolitischen Machtsicherung gedient. Es sei darum gegangen, Bismarcks Sonderstellung als [[Charismatische Herrschaft|charismatischer Herrscher]] zu stärken, ihn als Retter vor dem sinistren Ultramontanismus und dem sozialistischen Umsturz darzustellen.<ref>Hans-Ulrich Wehler: ''Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Zweiter Band: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/1849''. C.H. Beck, München 1987, S. 373 und 953.</ref> Der amerikanische Historiker [[Jonathan Steinberg]] deutet Bismarcks Willen zur Zerstörung von „Reichsfeinden“ [[Tiefenpsychologie|tiefenpsychologisch]] als Ergebnis fehlender [[Mutterliebe]] in der Kindheit.<ref>[[Ulrich Lappenküper]]: ''Einführung''. In: derselbe (Hrsg.): ''Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung. Biographische Perspektiven seit 1970''. Schöningh, Paderborn 2017, ISBN 978-3-506-78527-5, S. 7–40, hier S. 27 f.</ref>
Die Funktion des bismarckschen Redens über angebliche Reichsfeinde wird in der Fachliteratur unterschiedlich angegeben. Laut dem Historiker [[Dieter Langewiesche]] ging es dabei um die Ausbildung einer [[nationale Identität|nationalen Identität]]: Durch die Markierung von Feinden habe man das [[Selbstbild]] festigen können. Die [[Integration (Soziologie)|Integrationskraft]] des [[Nationalismus]] sei bald stark genug gewesen, sodass viele binnennationale Differenzen hätten abgebaut werden können.<ref name="Langewiesche 53">Dieter Langewiesche: ''Nation, Nationalismus, Nationalstaat. In Deutschland und Europa'' (=&nbsp;''Beck’sche Reihe.'' Bd. 1399). C.H. Beck, München 2000, ISBN 3-406-45939-0, S. 53.</ref> Ähnlich argumentiert die Sprachwissenschaftlerin Szilvia Odenwald-Varga, die schreibt, dass die Beschwörungen von angeblichen Gefahren durch innere und äußere Reichsfeinde der „Integration des Staatskollektivs“ dienten: In wechselnden Koalitionen habe Bismarck mal mit den [[Deutschkonservative Partei|Konservativen]], dann wieder mit den Liberalen zusammengearbeitet, in den 1860er Jahren sogar eine Annäherung an [[Ferdinand Lassalle]] vom ADAV versucht. Er habe die „Reichsfeinde“ bekämpft und „dann wieder diese oder zumindest ihr Klientel bzw. Teile davon für sich zu gewinnen“ gesucht.<ref>Szilvia Odenwald-Varga: '',Volk‘ bei Otto von Bismarck. Eine historisch-semantische Analyse anhand von Bedeutungen, Konzepten und Topoi''. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2009, S. 193 und 464.</ref> Auch [[Hans-Ulrich Wehler]] nennt als Ziel des Reichsfeinde-Diskurses, die innere [[Homogenität (Soziologie)|Homogenität]] des jungen deutschen Staates zu erzwingen; zudem habe Bismarcks rücksichtsloser Kampf gegen die „Reichsfeinde“ aber der eigenen innenpolitischen Machtsicherung gedient. Es sei darum gegangen, Bismarcks Sonderstellung als [[Charismatische Herrschaft|charismatischer Herrscher]] zu stärken, ihn als Retter vor dem sinistren Ultramontanismus und dem sozialistischen Umsturz darzustellen.<ref>Hans-Ulrich Wehler: ''Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Zweiter Band: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/1849''. C.H. Beck, München 1987, S. 373 und 953.</ref> Der amerikanische Historiker [[Jonathan Steinberg]] deutet Bismarcks Willen zur Zerstörung von „Reichsfeinden“ ebenso wie seine [[Misogynie]] und seine [[Völlerei]] [[Tiefenpsychologie|tiefenpsychologisch]] als Ergebnis fehlender [[Mutterliebe]] in der Kindheit.<ref>[[Ulrich Lappenküper]]: ''Einführung''. In: derselbe (Hrsg.): ''Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung. Biographische Perspektiven seit 1970''. Schöningh, Paderborn 2017, ISBN 978-3-506-78527-5, S. 7–40, hier S. 27 f.</ref>


=== Antisemitismus ===
=== Antisemitismus ===

Version vom 26. Mai 2023, 11:00 Uhr

Die abwertende Bezeichnung Reichsfeinde wurde im Deutschen Kaiserreich benutzt, um politische Gegner zu markieren, aus der Gemeinschaft der Reichsangehörigen auszuschließen und ihre Bekämpfung zu rechtfertigen. Reichskanzler Otto von Bismarck bezeichnete mit dem Begriff vor allem Sozialdemokraten und Katholiken, doch wurden auch andere Gruppen mit diesem Schimpfwort abgewertet. In der Zeit des Nationalsozialismus spielte es in der Diskriminierung und Vernichtung von Juden und anderen vermeintlich „fremdvölkischen“ Menschen eine Rolle.

Kaiserreich

Reichskanzler Otto von Bismarck (1877)

Das Deutsche Reich war 1871 im Krieg gegen Frankreich gegründet worden, das damit in der Tradition der angeblichen deutsch-französischen Erbfeindschaft als äußerer Feind markiert war. Ihm wurden die inneren Reichsfeinde gegenübergestellt: Als solche galten alle Kräfte, die in den kleindeutsch-protestantischen Nationalstaat nicht hineinpassten oder hineinpassen wollten. Neben den Katholiken und der Arbeiterbewegung galt das für nationale Minderheiten wie Dänen, Polen oder frankophone Elsässer, aber auch für die Anhänger der Welfen und sehr bald auch für die deutschen Juden. Als angebliche Reichsfeinde waren sie als undeutsch stigmatisiert: Ihnen wurde unterstellt, national unzuverlässig zu sein, die Einheit der Nation zu unterminieren und diese dadurch zu schwächen.[1] Damit war ein Großteil der Bevölkerung des Reiches aus der Staatsgemeinschaft ausgegrenzt,[2] bei der Reichstagswahl 1881 erhielten die von Bismarck als „Reichsfeinde“ gebrandmarkten Parteien eine Zweidrittelmehrheit.[3]

Im Mittelpunkt standen dabei einerseits der politische Katholizismus mit der Zentrumspartei und andererseits die Arbeiterbewegung, die 1875 aus dem reformistischen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und der marxistischen Sozialdemokratische Arbeiterpartei die Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) bildete. Den Katholiken wurde unterstellt, sie seien nicht in erster Linie dem neugegründeten Reich gegenüber loyal, sondern dem Papst (Ultramontanismus). Den Sozialdemokraten wurde ihre internationalistische Ausrichtung vorgeworfen, mit der Karl Marx im Manifest der Kommunistischen Partei aus dem Jahr 1848 festgestellt hatte: „Die Arbeiter haben kein Vaterland“. Deshalb wurden die Sozialdemokraten auch als „Vaterlandslose Gesellen“ bezeichnet. August Bebel bekannte sich im Mai 1871 auf der Bühne des Reichstags offen zur proletarischen Revolution und erklärte, die Pariser Kommune sei nur ein „Vorpostengefecht“ gewesen. Wegen entschiedener Opposition gegen die Annexion von Elsass-Lothringen, die als Hochverrat gewertet wurde, verurteilte ein Leipziger Gericht ihn und Wilhelm Liebknecht 1872 zu zwei Jahren Festungshaft.[4] Bismarck erklärte am 24. April 1873 in einer Rede vor dem Preußischen Herrenhaus, dass durch diese Parteien, die „die nationale Entwicklung in internationaler Weise“ bekämpfen würden, der Staat „in seinen Fundamenten bedroht“ sei:

„Gegen diese beiden Parteien müssen meines Erachtens alle diejenigen, denen die Kräftigung des staatlichen Elements, die Wehrhaftigkeit des Staats am Herzen liegen, gegen die, die ihn angreifen und bedrohen, zusammenscharen.“[5]

Kulturkampf

Der erste „innere Kriegsschauplatz“[6] dieses Konfliktes war der Kulturkampf. Dabei ging es um die Auseinandersetzung zwischen der katholischen Kirche und dem säkularen Staat, wie sie im 19. Jahrhundert in vielen Ländern Europas stattfand. Die Kirche setzte seit Mitte des Jahrhunderts in ihrer Auseinandersetzung mit Rationalisierung, Säkularisierung und anderen Aspekten der Modernisierung zunehmend auf einen monopolisierten Wahrheitsanspruch: Das Erste Vatikanische Konzil hatte 1870 das Infallibilitätsdogma verkündet, wonach der Papst, wenn er ex cathedra sprach, unfehlbar war. Hiergegen erhoben die Liberalen, die großenteils Bismarck unterstützten, wütende Proteste. Die Reichs- und die preußische Regierung erließen nun eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen, die die kirchliche Verkündigung einschränkten (Kanzelparagraph), Ausweisungen von Geistlichen ermöglichten, den Jesuitenorden aufhoben, die Zivilehe und die staatliche Schulaufsicht einführten u.v.a.m. Die nationalliberale National-Zeitung rechtfertigte diese Maßnahmen im Oktober 1876:

„Deutschland hat den Kampf gegen die schwarze Schar der vaterlandslosen Römlinge aufgenommen, wohl wissend, dass dieser Kampf schwerer und langwieriger sein würde als der gegen den Erbfeind jenseits des Rheins.“

Mitte der 1870er Jahre waren alle deutschen katholischen Bischöfe im Exil oder in Haft, doch die Macht des politischen Katholizismus war ungebrochen: Bei den Reichstagswahlen 1874 konnte das Zentrum seine Stimmen gegenüber 1871 verdoppeln. Ab 1880 ließ sich Bismarck von der Partei unterstützen, die Kulturkampfgesetze wurden abgemildert oder zurückgenommen. In so genannten Friedensgesetzen wurde der Konflikt 1886/87 beigelegt. Die kulturelle Kluft zwischen den Protestanten in Deutschland und der katholischen Minderheit aber blieb: Heinrich August Winkler bilanziert: „Sie waren der […] Reichsfeindschaft geziehen worden, und sie konnten sich keiner Täuschung darüber hingeben, dass Vorurteile langlebiger sind als Paragraphen.“[7]

Sozialistengesetz

Ende der 1870er Jahre startete Bismarck dann den Kampf gegen die Sozialdemokraten, die ihm wegen ihres offenen Bekenntnisses zur proletarischen Revolution ein Dorn im Auge waren: Nachdem 1874 und 1875 Versuche gescheitert waren, die freie Meinungsäußerung der „roten Reichsfeinde“ durch ein neues Pressegesetz bzw. die Einführung des Straftatbestands „Aufreizung zum Klassenhaß“ zu beschränken, boten zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. 1878 Gelegenheit, nach absichtsvoll herbeigeführten Neuwahlen das Sozialistengesetz durch den Reichstag zu bringen: Alle sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen Vereinigungen, Versammlungen und Veröffentlichungen wurden verboten, Agitatoren konnten ausgewiesen, in „gefährdeten Bezirken“ der Kleine Belagerungszustand verhängt werden. Insgesamt 330 sozialdemokratische Vereine wurde verboten, etwa 1000 Druckschriften beschlagnahmt, 1500 Jahre Strafhaft verhängt. Einzig die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten blieben aufgrund ihrer parlamentarischen Immunität weitgehend unbehelligt und konnten auch weiterhin gewählt werden. Doch auch dieser Kampf verfehlte sein Ziel: Die Sozialdemokraten organisierten sich in Tarnorganisationen wie Gesangvereinen oder Hilfskassen, sozialdemokratische Literatur wurde in der Schweiz gedruckt und ins Reich geschmuggelt, ab 1884 stiegen die Wahlergebnisse für die SAP, 1890 wurde sie gemessen an der Zahl der Stimmen mit 19,7 % stärkste Partei. Nach Bismarcks Entlassung wurde das fruchtlose Sozialistengesetz nicht mehr verlängert.[8]

Eine „Association von Reichsfeinden“

In den 1880er Jahren zeichnete Bismarck dann ein Zusammenwirken der angeblichen Reichsfeinde: Dem Zentrumspolitiker Ludwig Windthorst warf er 1881 vor, er stehe auch für Sozialdemokraten, Welfen, sowie die polnischen und die elsass-lothringischen Parteien. Auch behauptete er, das scharfe Vorgehen gegen den Katholizismus sei notwendig gewesen, weil dieser in der polnischen Bevölkerung „mit national-revolutionären Bestrebungen sozusagen chemisch verbunden“ sei. 1885 prognostizierte er, die Jesuiten würden schließlich die Führung der Sozialdemokratie übernehmen.[9] Später weitete er den Kreis der angeblichen Reichsfeinde noch aus und entfaltete dabei im Zusammenhang mit der Affäre um den Hamburger Publizisten Friedrich Heinrich Geffcken ein regelrechtes „Verschwörungsszenario“:[10] Am 3. Oktober 1888 wünschte er eine Presseberichterstattung in dem Sinne, dass dieser als „Welfischer Particularist“ „zu der Association von Reichsfeinden“ gehöre, zu der er neben Katholiken und nationalen Minderheiten nun auch die linksliberalen Freisinnigen und die Sozialdemokraten rechnete: „Die Aufgabe dieser Leute ist immer gewesen, das Bestehende zu zerstören. Sie richten ihre Bestrebungen gegen das evangelische preußische Kaiserthum“. Leute wie Geffcken hätten sich seinerzeit für eine Besetzung deutschen Gebiets durch französische Truppen ausgesprochen: „Alle Reichsfreunde müssen sich daher gegen diese Leute verbinden“.[11]

Völlig ernst zu nehmen waren Bismarcks Beschwörungen einer Bedrohung durch die angeblichen Reichsfeinde indes nicht: Dass etwa die Sozialdemokraten seiner Regierung gefährlich werden könnten, bezweifelte er, allein schon weil er ihre Ziele für utopisch hielt; die Sozialdemokraten seien daher „besser“ als die Liberalen der Fortschrittspartei.[12] Nach Bismarcks Entlassung ließen die Polemiken gegen katholische und sozialdemokratische Reichsfeinde nach. Einen Endpunkt dieses Diskurses markierte Kaiser Wilhelm II. in seiner Reichstagsrede vom 4. August 1914, in der er zu Beginn des Ersten Weltkriegs erklärte, er kenne keine Parteien mehr, er kenne „nur noch Deutsche“. Dies wurde als Angebot an die vormaligen „Reichsfeinde“ verstanden, sie künftig stärker an den politischen Entscheidungsprozessen partizipieren zu lassen.[13]

Deutung

Die Funktion des bismarckschen Redens über angebliche Reichsfeinde wird in der Fachliteratur unterschiedlich angegeben. Laut dem Historiker Dieter Langewiesche ging es dabei um die Ausbildung einer nationalen Identität: Durch die Markierung von Feinden habe man das Selbstbild festigen können. Die Integrationskraft des Nationalismus sei bald stark genug gewesen, sodass viele binnennationale Differenzen hätten abgebaut werden können.[14] Ähnlich argumentiert die Sprachwissenschaftlerin Szilvia Odenwald-Varga, die schreibt, dass die Beschwörungen von angeblichen Gefahren durch innere und äußere Reichsfeinde der „Integration des Staatskollektivs“ dienten: In wechselnden Koalitionen habe Bismarck mal mit den Konservativen, dann wieder mit den Liberalen zusammengearbeitet, in den 1860er Jahren sogar eine Annäherung an Ferdinand Lassalle vom ADAV versucht. Er habe die „Reichsfeinde“ bekämpft und „dann wieder diese oder zumindest ihr Klientel bzw. Teile davon für sich zu gewinnen“ gesucht.[15] Auch Hans-Ulrich Wehler nennt als Ziel des Reichsfeinde-Diskurses, die innere Homogenität des jungen deutschen Staates zu erzwingen; zudem habe Bismarcks rücksichtsloser Kampf gegen die „Reichsfeinde“ aber der eigenen innenpolitischen Machtsicherung gedient. Es sei darum gegangen, Bismarcks Sonderstellung als charismatischer Herrscher zu stärken, ihn als Retter vor dem sinistren Ultramontanismus und dem sozialistischen Umsturz darzustellen.[16] Der amerikanische Historiker Jonathan Steinberg deutet Bismarcks Willen zur Zerstörung von „Reichsfeinden“ ebenso wie seine Misogynie und seine Völlerei tiefenpsychologisch als Ergebnis fehlender Mutterliebe in der Kindheit.[17]

Antisemitismus

Die Ausgrenzung von Katholiken und Sozialdemokraten als Reichsfeinde ging ab 1890 zurück. Einzig der nationalistische Alldeutsche Verband hörte nicht auf, vor der angeblich existenziellen Gefahr durch innere Reichsfeinde (Sozialdemokraten, Juden, Katholiken und Vertreter nationaler Minderheiten) und äußerer Bedrohungen (Großbritannien, Frankreich, Russland) zu warnen: „Feinde ringsum!“ Bei diesen Angstvorstellungen beriefen sich die Alldeutschen immer wieder auf Bismarck.[18] Ethnisch definierte Gruppen, namentlich die Juden, wurden weiterhin als „Reichsfeinde“ gesellschaftlich stigmatisiert.[14] Der aufkommende Antisemitismus verstand das Deutsche Reich als Volksnation, als rassische Einheit, zu der Juden nicht gehören würden. Zudem wurden ihnen, ähnlich wie es Bismarck mit Sozialdemokraten und Katholiken gemacht hatte, konkurrierende Loyalitäten unterstellt, sei es religiös zum auserwählten Volk, sei es zum internationalen Kapital, das angeblich jüdisch dominiert war.[19] Der jüdische Industrielle und Politiker Walther Rathenau beklagte sich 1911, dass man bis zum Beweis des Gegenteils selbstverständlich an die Loyalität aller nationalen Minderheiten glaube; dagegen würden „die Juden ohne eine Spur eines Anhalts des Antinationalismus“ beschuldigt und hätten sich zu rechtfertigen:

„Der Jude soll durch Taufe den Nachweis der Loslösung erbringen; – Loslösung wovon? Von seiner Familie? Seiner Religion? Nein: von seiner Nation. Wo liegt die? […] Was würden wohl die deutschen Katholiken antworten, wenn man von ihnen verlangte, sie möchten durch Übertritt zur evangelischen Kirche den Nachweis ihrer Loslösung von ausländischen Religionsorganisationen erbringen?“[20]

Mehrere Antisemiten knüpften an den bismarckschen Diskurs an und nahmen eine „Trias der ‚Reichsfeinde‘“ an, die aus Sozialdemokraten, Katholiken und Juden bestehe.[21] Die Letztgenannten hatte Bismarck in Wahrheit nicht als Reichsfeinde bezeichnet, was der Publizist Otto Glagau in seiner Schrift Des Reiches Noth und der neue Culturkampf 1879 zu korrigieren versuchte: Protestanten und Katholiken sollten sich versöhnen und gegen die Juden als die „wahren ‚Reichsfeinde‘“ kämpfen.[22] Der antisemitische Publizist Max Bewer kritisierte nach Bismarcks Entlassung öffentlich Kaiser Wilhelm II. und den neuen Reichskanzler Leo von Caprivi, weil sie den „inneren Reichsfeinden“, insbesondere den Juden in die Hände spielen würden.[23]

Weimarer Republik

Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution wurden die vormaligen Reichsfeinde die staatstragenden Parteien der Weimarer Republik. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Zentrum und die linksliberale DDP bildeten die Weimarer Koalition der verfassungstreuen Parteien.[24] Just dies wurde ihnen oft in antisemitischer Aufladung, vorgeworfen. Die „Reichsfeinde“ wurden in der Dolchstoßlegende für die Kriegsniederlage verantwortlich gemacht – ein Topos der republikfeindlichen Agitation von rechts.[25]

Ansonsten spielte das Schlagwort nur noch einmal gegen Ende der Republik eine Rolle, als Reichspräsident Paul von Hindenburg es Reichskanzler Heinrich Brüning übelnahm, dass der im April 1932 seine Wiederwahl nur mit den Stimmen von SPD und Zentrum hatte ermöglichen können, also den ehemaligen Reichsfeinden Bismarcks. Kurz darauf ließ er Brüning fallen, die Monate der reinen Präsidialkabinette begann.[26]

Zeit des Nationalsozialismus

In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Vokabel Reichsfeinde benutzt, um Menschen zur Vertreibung oder Ermordung zu markieren. Dazu wurden unter anderem Anhänger der Arbeiterbewegung, politisierende, vor allem katholische Geistliche, Widerstandskämpfer, Sinti und Roma und nicht zuletzt Juden verstanden. Anders als Bismarck definierten sie Reichsfeinde nicht nur als echte oder vermeintliche Gegner der eigenen Politik, sondern benutzen rassisch-völkische Kriterien.[27] Reinhard Heydrich, der Leiter des Reichssicherheitshauptamts, bestimmte am Vorabend des deutschen Überfalls auf Polen 1939 als Aufgabe der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, die hinter der Wehrmacht vorrücken sollten, die „Bekämpfung aller reichs- und deutschfeindlichen Elemente in Feindesland rückwärts der fechtenden Truppe“. Vor dem Balkanfeldzug präzisierte er dann, unter Reichsfeinden seien Juden und Kommunisten zu verstehen.[28] Am 2. Juli 1940 legte er in einem Aktenvermerk fest, nach dem Überfall auf die Sowjetunion sollten die Einsatzgruppen „heftige Schläge gegen die reichsfeindlichen Elemente in der Welt aus dem Lager von Emigration, Freimaurerei, Judentum und politisch-kirchlichem Gegnertum sowie der 2. und 3. Internationale“ durchführen. In mündlichen Weisungen an die Einsatzgruppen wurde das Wort liquidieren benutzt. Es ging also darum, die Betroffenen zu töten.[29] Die Zahl der Menschen, die die Einsatzgruppen auf dem Gebiet der Sowjetunion umbrachten, wird auf eine halbe Million geschätzt.[30] Etwa genauso groß war die Zahl der deutschen Juden, die nach ihrer Deportation in den Ghettos oder Vernichtungslagern umkamen. Ihr Vermögen fiel laut dem Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Verwertung des eingezogenen Vermögens von Reichsfeinden vom 29. Mai 1941 an das Reich.[31]

Siehe auch

Literatur

  • Leonore Koschnick, Agnete von Specht: Innenansichten – „Gründer“ und „Reichsfeinde“. In: Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Bismarck – Preußen, Deutschland und Europa. Nicolai, Berlin, S. 383–414.

Einzelnachweise

  1. Eckart Conze: Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe. dtv, München 2020, ISBN 978-3-423-28256-7, S. 139.
  2. Szilvia Odenwald-Varga: ,Volk‘ bei Otto von Bismarck. Eine historisch-semantische Analyse anhand von Bedeutungen, Konzepten und Topoi. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2009, ISBN 978-3-11-021241-9, S. 116.
  3. Andrea Hopp: Zu diesem Band, In: Otto von Bismarck: Gesammelte Werke – Neue Friedrichsruher Ausgabe. Abteilung III, Bd. 4, Schöningh, Paderborn 2008, S. XIV.
  4. Michael Epkenhans: Die Reichsgründung 1870/71. C.H. Beck, München 2020, ISBN 978-3-406-75032-8, S. 88 ff.
  5. Otto v. Bismarck: Die gesammelten Werke, Bd. 11: Reden 1869–1878. Stollberg, Berlin 1929, S. 298, zitiert bei Heinz Hürten: Kurze Geschichte des deutschen Katholizismus 1800–1960. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 1986, ISBN 3-7867-1262-X, S. 152.
  6. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Zweiter Band: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/1849. C.H. Beck, München 1987, S. 902.
  7. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. C.H. Beck, München 2000, S. 222–226 (hier das zweite Zitat); Bastian Scholz: Die Kirchen und der deutsche Nationalstaat. Konfessionelle Beiträge zum Systembestand und Systemwechsel. Springer VS, Wiesbaden 2016, ISBN 978-3-658-11508-1, S. 183–190 (hier das erste Zitat, S. 186).
  8. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Zweiter Band: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/1849. C.H. Beck, München 1987, S. 902–906.
  9. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. C.H. Beck, München 2000, S. 223; Szilvia Odenwald-Varga: ,Volk‘ bei Otto von Bismarck. Eine historisch-semantische Analyse anhand von Bedeutungen, Konzepten und Topoi. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2009, S. 118 (hier das Zitat) und S. 369, Anm. 664.
  10. Andrea Hopp: Zu diesem Band. In: Otto von Bismarck. Gesammelte Werke – Neue Friedrichsruher Ausgabe. Abteilung III, Bd. 8, Schöningh, Paderborn 2014, S. XXIV.
  11. Otto von Bismarck: Gesammelte Werke – Neue Friedrichsruher Ausgabe. Abteilung III, Bd. 8. Bearbeitet von Andrea Hopp. Schöningh, Paderborn 2014, S. 236 f.
  12. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Zweiter Band: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/1849. C.H. Beck, München 1987, S. 907.
  13. Steffen Bruendel: Ideologien: Mobilmachungen und Desillusionierungen. In: Niels Werber, Stefan Kaufmann, Lars Koch (Hrsg.): Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Metzler, Stuttgart/Weimar 2014, ISBN 978-3-476-02445-9, S. 280–310, hier S. 280 und 285.
  14. a b Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat. In Deutschland und Europa (= Beck’sche Reihe. Bd. 1399). C.H. Beck, München 2000, ISBN 3-406-45939-0, S. 53.
  15. Szilvia Odenwald-Varga: ,Volk‘ bei Otto von Bismarck. Eine historisch-semantische Analyse anhand von Bedeutungen, Konzepten und Topoi. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2009, S. 193 und 464.
  16. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Zweiter Band: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/1849. C.H. Beck, München 1987, S. 373 und 953.
  17. Ulrich Lappenküper: Einführung. In: derselbe (Hrsg.): Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung. Biographische Perspektiven seit 1970. Schöningh, Paderborn 2017, ISBN 978-3-506-78527-5, S. 7–40, hier S. 27 f.
  18. Rainer Hering: „Dem besten Steuermann Deutschlands“. Der Politiker Otto von Bismarck und seine Deutung im radikalen Nationalismus zwischen Kaiserreich und „Drittem Reich“. In: Ulrich Lappenküper (Hrsg.): Otto von Bismarck und das „lange 19. Jahrhundert“. Lebendige Vergangenheit im Spiegel der „Friedrichsruher Beiträge“ 1996–2016. Schöningh, Paderborn 2016, ISBN 978-3-506-78697-5, S. 582–615, insbesondere S. 595.
  19. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Zweiter Band: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/1849. C.H. Beck, München 1987, S. 953 f.
  20. Ingo Haar: Jüdische Migration und Diversität in Wien und Berlin 1667/71– 1918. Von der Vertreibung der Juden Wiens und ihrer Wiederansiedlung in Berlin bis zum Zionismus. Wallstein, Göttingen 2022, ISBN 978-3-8353-4700-7, S. 380.
  21. Werner Bergmann: Haeckel, Ernst Heinrich Philipp August. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Band 2: Personen. De Gruyter Saur, Berlin 2009, ISBN 978-3-598-44159-2, S. 324.
  22. Matthew Lange: Der Kulturkämpfer (1880–1888). In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Band 6: Publikationen. De Gruyter Saur, Berlin 2013, ISBN 978-3-11-025872-1, S. 421.
  23. Werner Bergmann: Bewer, Max [auch: Maximilian, Franz, Xaver]. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus, Bd. 2: Personen. De Gruyter Saur, Berlin 2009, S. 81.
  24. Gerhard Schulz: Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarckschen Reichsaufbaus 1919–1930 (= Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik.). Walter de Gruyter, Berlin/Boston 1963, S. 38; Ulrich von Hehl: Bismarcks langer Schatten? Das Amt des Reichskanzlers und seine Inhaber in der Weimarer Republik. In: Ulrich Lappenküper (Hrsg.): Otto von Bismarck und das „lange 19. Jahrhundert“. Lebendige Vergangenheit im Spiegel der „Friedrichsruher Beiträge“ 1996–2016. Schöningh, Paderborn 2016, S. 523–534, hier S. 530.
  25. Detlef Lehnert: Propaganda des Bürgerkrieges? Politische Feindbilder in der Novemberrevolution als mentale Destabilisierung der Weimarer Demokratie. In: derselbe und Klaus Megerle (Hrsg.): Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik. Westdeutscher Verlag, Opladen 1990, ISBN 978-3-322-94187-9, S. 61–101, hier S. 69; Edgar Wolfrum: Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3-525-34028-1, S. 28.
  26. Henning Köhler: Deutschland auf dem Weg zu sich selbst. Eine Jahrhundertgeschichte. Hohenheim-Verlag, Stuttgart 2002, S. 249 f. und 259 f.
  27. Josephine Ulbricht: Das Vermögen der „Reichsfeinde“. Staatliche Finanzverwaltung und Gegnerverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2022, ISBN 978-3-11-076021-7, S. 14.
  28. Jürgen Matthäus: Einsatzgruppen. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Band 4: Ereignisse, Dekrete, Kontroversen. Berlin/Boston 2011, ISBN 978-3-598-24076-8, S. 95.
  29. Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2007, ISBN 978-3-11-092864-8, S. 172.
  30. Jürgen Matthäus: Einsatzgruppen. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Band 4: Ereignisse, Dekrete, Kontroversen. Berlin/Boston 2011, S. 96.
  31. Josephine Ulbricht: Das Vermögen der „Reichsfeinde“. Staatliche Finanzverwaltung und Gegnerverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2022, S. 16, 373 u.ö.