„Fortschritt“ – Versionsunterschied

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Der [[Philosophie|philosophisch]], [[Politik|politisch]], [[Technologie|technologisch]] und [[Wirtschaft|ökonomisch]] geprägte Begriff '''Fortschritt''' wird verwendet, um bedeutende Veränderungen bestehender Zustände oder Abläufe in menschlichen [[Gesellschaft (Soziologie)|Gesellschaften]] als grundlegende Verbesserungen zu kennzeichnen. Gegenbegriffe sind ''Rückschritt'' oder ''Stillstand''. Jeder Schritt setzt willentliche und gezielte Veränderungen voraus, die als [[Innovation]]en bezeichnet werden.
Der [[Philosophie|philosophisch]], [[Politik|politisch]], [[Technologie|technologisch]] und [[Wirtschaft|ökonomisch]] geprägte Begriff '''Fortschritt''' wird verwendet, um bedeutende Veränderungen bestehender Zustände oder Abläufe in menschlichen [[Gesellschaft (Soziologie)|Gesellschaften]] als grundlegende Verbesserungen zu kennzeichnen. Gegenbegriffe sind ''Rückschritt'' oder ''Stillstand''. Jeder Schritt setzt willentliche und gezielte Veränderungen voraus, die als [[Innovation]]en bezeichnet werden.


Während sich in der [[Natur]] jegliche Veränderung unweigerlich den funktionalen Zusammenhängen der übergeordneten [[Ökosystem]]e [[evolutionäre Anpassung|anpassen]] muss, um deren Erhaltung nicht zu gefährden, ist jede Entwicklung menschlicher [[Kultur]]en dem begrenzten, lückenhaften und fehlbaren Urteilsvermögen des [[Mensch]]en, sowie zumeist [[Anthropozentrismus|anthropozentrisch]] motivierten Entscheidungen unterworfen.<ref name="Goldsmith">[[Edward Goldsmith]]: ''Der Weg. Ein ökologisches Manifest.'' 1. Auflage, Bettendorf, München 1996, ISBN 3-88498-091-2.S. 16, 263ff, 412f.</ref> Daher sind die [[Werturteil|Bewertungen]] von Innovationen rein [[subjektiv]]: Bei angestrebten Neuerungen dient sie den betreibenden [[Interessengruppe]]n zur Rechtfertigung und Durchsetzung ihrer Ideen – unabhängig von ihrem tatsächlichen Nutzen. Werden Wirkungen solcher Veränderungen erkennbar, die von einem Großteil der Gesellschaft positiv bewertet werden (zumeist, weil sie spürbar die [[Lebensqualität]] verbessern), erfährt die Zuschreibung als Fortschritt breite Zustimmung. Nach diesem Muster haben sich vor allem die modernen [[Industriegesellschaft]]en entwickelt.
Die Bewertung von Innovationen ist [[anthropozentrisch]]: Bei angestrebten Neuerungen dient sie den betreibenden [[Interessengruppe]]n zur Rechtfertigung und Durchsetzung ihrer Ideen – unabhängig von ihrem tatsächlichen Nutzen. Werden Wirkungen solcher Veränderungen erkennbar, die von einem Großteil der Gesellschaft positiv bewertet werden (zumeist, weil sie spürbar die [[Lebensqualität]] verbessern), erfährt die Zuschreibung als Fortschritt breite Zustimmung. Nach diesem Muster haben sich vor allem die modernen [[Industriegesellschaft]]en entwickelt.


Die ''Fortschrittsidee'' entstand als eine der entscheidenden [[Leitkategorie]]n der [[Moderne]] während der [[Aufklärung]]szeit im 18. Jahrhundert. Im 19. und 20. Jahrhundert etablierte sich diese [[Idee]] im Rahmen des [[Paradigma|wissenschaftlichen Weltbildes]] der [[Industriegesellschaft]]en, das eine [[Soziokulturelle Evolution|stetige soziale und kulturelle Höherentwicklung]] des Menschen voraussetzt.
Die ''Fortschrittsidee'' entstand als eine der entscheidenden [[Leitkategorie]]n der [[Moderne]] während der [[Aufklärung]]szeit im 18. Jahrhundert. Im 19. und 20. Jahrhundert etablierte sich diese [[Idee]] im Rahmen des [[Paradigma|wissenschaftlichen Weltbildes]] der [[Industriegesellschaft]]en, das eine [[Soziokulturelle Evolution|stetige soziale und kulturelle Höherentwicklung]] des Menschen voraussetzt.
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Die (häufig [[Pejorativum|abwertende) Bezeichnung]] '''Fortschrittsglaube'''<ref>Beispielquellen: Ilse Tödt: ''Fortschrittsglaube und Wirklichkeit: Arbeiten zu einer Frage unserer Zeit.'' Kaiser, München 1983. / Bedrich Loewenstein: ''Der Fortschrittsglaube.'' WBG, Darmstadt 2015. / Wolfgang H. Lorig: ''Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika,'' Leske + Budrich, Opladen 1988, Abschnitt "Fortschrittsglaube und Kulturpessimismus", S. 25–27.</ref> wird von Kritikern verwendet, um deutlich zu machen, dass die Zuschreibung auf den [[Wertvorstellung]]en des Betrachters beruht oder um auf eine (angeblich) [[dogma]]tische Verwendung des Fortschrittsbegriffs hinzuweisen.
Die (häufig [[Pejorativum|abwertende) Bezeichnung]] '''Fortschrittsglaube'''<ref>Beispielquellen: Ilse Tödt: ''Fortschrittsglaube und Wirklichkeit: Arbeiten zu einer Frage unserer Zeit.'' Kaiser, München 1983. / Bedrich Loewenstein: ''Der Fortschrittsglaube.'' WBG, Darmstadt 2015. / Wolfgang H. Lorig: ''Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika,'' Leske + Budrich, Opladen 1988, Abschnitt "Fortschrittsglaube und Kulturpessimismus", S. 25–27.</ref> wird von Kritikern verwendet, um deutlich zu machen, dass die Zuschreibung auf den [[Wertvorstellung]]en des Betrachters beruht oder um auf eine (angeblich) [[dogma]]tische Verwendung des Fortschrittsbegriffs hinzuweisen.

== Begriff: Hintergrund und Bedeutungswandel ==
Während sich in der [[Natur]] jegliche Veränderung unweigerlich den funktionalen Zusammenhängen der übergeordneten [[Ökosystem]]e [[evolutionäre Anpassung|anpassen]] muss, um deren Erhaltung nicht zu gefährden, ist jede Entwicklung menschlicher [[Kultur]]en dem begrenzten, lückenhaften und fehlbaren Urteilsvermögen des [[Mensch]]en unterworfen.<ref name="Goldsmith">[[Edward Goldsmith]]: ''Der Weg. Ein ökologisches Manifest.'' 1. Auflage, Bettendorf, München 1996, ISBN 3-88498-091-2.S. 16, 263ff, 412f.</ref> Diese Erkenntnis führte bei den [[Chthonismus|mythisch-erdverbundenen]] [[Jäger und Sammler]]-Kulturen zu einer großen Skepsis gegenüber den menschlichen Fähigkeiten. Die Erfolge der [[Neolithische Revolution|neolithischen Revolution]] stärkten jedoch das Selbstvertrauen der [[Traditionelle Wirtschaftsform|Ackerbauern und Viehzüchter]], so dass eine sich stetig verstärkende Entwicklung einsetzte, die zu den heutigen Zivilisationen geführt hat. Widersprüche und Rückschläge in der Geschichte erinnerten den Menschen währenddessen nach wie vor an seine Fehlbarkeit.

Im Zuge der [[Europäische Expansion|europäischen Expansion]] und der [[Industrielle Revolution|industriellen Revolution]] hinterließ der Einfluss des Menschen auf die Erde immer deutlichere Spuren. ''Fortschritt'' wurde in diesem Zusammenhang zum [[Politisches Schlagwort|politischen Schlagwort]]:<ref>Heike Silvia Scheminski: ''Mensch und Technik: Beispiele antizipatorischer Texte im Vorfeld und während der industriellen Revolution in Frankreich'', Diplomica, Hamburg 2002, S. 10–12.</ref> Der Begriff ist sprachlich eine [[Substantivierung]] (von ''fortschreiten'') und ein positiv [[Konnotation|konnotiertes]] [[Kollektivsingular]] (Sammelbegriff in der Einzahl, obwohl es eine Mehrzahl gibt).<ref name="Mäder">Denis Mäder: ''Wider die Fortschrittskritik. Mit einem Appendix zum Fortschritt als Human Enhancement.'' in [[Momentum quarterly]], Vol. 3, No. 4 (2014), S. 190–194, 198–201.</ref> Solche Begriffe werden verwendet, um einem subjektiven Inhalt den Charakter von [[Objektivität]] zu verleihen, ihm größeres Gewicht zu geben und in ausschließlich positivem Licht erscheinen zu lassen. Auf diese Weise sollen [[wertfrei]]e [[Tatsache]]n schon vor einer gründlichen [[Analyse]] ihrer Bedeutung mit Hilfe des ''[[Totschlagargument]]es'' „im Namen des Fortschritts“ unkritisch positiv bewertet werden,<ref>Franz Josef Radermacher, Bert Beyers: ''Welt mit Zukunft: Die ökosoziale Perspektive'', Murmann Publishers, Hamburg 2011, ohne Seite: [https://books.google.co.uk/books?id=zFR3DwAAQBAJ&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q=Totschlagargument&f=false google-books-Link].</ref><ref>Patrick Masius: ''Umweltgeschichte und Umweltzukunft: zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin'', Universitätsverlag Göttingen 2009, S. 37.</ref> in dem sie mit [[Kant]]s Idee vom beständigen „Fortschreiten zur Vollkommenheit [...] vom Schlechteren zum Besseren“ geadelt werden. Nach Kants Vorstellung sei in der Geschichte ein „verborgener Plan der Natur“ erkennbar, der zu einem vollkommenen Staat führen würde, in dem sich der Mensch zur Vollkommenheit entwickeln kann.<ref name="Mäder" />

Im Rahmen dieser Idee wurde der Fortschrittsbegriff im 19. Jahrhundert von den [[Humanismus|Humanisten]] als gesellschaftliche Leitkategorie im Sinne des [[Glaube]]ns an eine zwangsläufige Perfektionierung („Perfektibilität“) des Menschen geprägt: Seine Vordenker vertraten die Annahme, das Fortschritt zunächst als Summe aller wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Neuerungen in Erscheinung treten würde, sofern diese die „Naturbeherrschung“ und den [[Lebensstandard]] vergrößern. Dies sahen sie durchaus nicht als stetigen Prozess, sondern als „turbulente“ Entwicklung mit etlichen Rückschritten und krassen Gegensätzen, wobei der Fortschritt jedoch im Endeffekt immer obsiegt. Erst auf der Grundlage des materiellen Fortschritts könne sich dann ein menschlicherer (gerechterer, moralischerer, kultivierterer) Umgang der Menschen miteinander – ein „wahrhaft menschlicher Fortschritt“ etablieren. [[Hegel]] sah die Entwicklung ebenfalls durchdrungen von vielen un[[moral]]ischen „Momenten“; Widersprüchen, Rückschlägen und Konflikten. Trotzdem empfahl er, diese Dinge nur als notwendige Begleiterscheinungen des Fortschritts zu betrachten. Würde man den Blick zu sehr auf das Negative richten, erschiene die Geschichte der Menschheit wie eine „Schlachtbank, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht werden“.<ref name="Mäder" />

Trotz der politisch gewollten Dominanz des Begriffes, ist die Fortschrittskategorie seit der Begriffsbildung umstritten. Bereits zu Beginn der [[Industrialisierung]] wurde Kritik laut. So mahnte etwa [[Friedrich Nietzsche]], dass der „Preis des Fortschritts“ zu hoch sei, weil ihm immer etwas geopfert werden müsse, das im Endeffekt schwerer wiegen würde als sein Nutzen.<ref>Friedrich Nietzsche: ''Zur Genealogie der Moral'', Werke. Kritische Gesamtausgabe, VI, 2. 1887, Berlin: Walter de Gruyter, 1968.</ref>

Die [[Philosophie|philosophische Betrachtung]] äußert sich spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich fortschrittskritisch. So werden bei den Entwicklungstrends heute vor allem die Schattenseiten diskutiert. Vor diesem Hintergrund erscheinen viele Trends, die von breiten Teilen der Bevölkerung als Fortschritt – als historische Verbesserung der Menschenwelt – betrachtet werden, in der philosophischen Literatur als Rückschritt, so dass der Begriff ad absurdum geführt wird.<ref Name="Mäder" />

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beklagte [[Albert Schweitzer]]:
{{Zitat
|Text= Der Wille zum Fortschritt hat Europa vor den anderen Erteilen groß gemacht. [...] Er bezog sich sowohl auf geistige als auch auf materielle Ziele. Heute wird das Gesicht eindeutiger, es verliert diese Spannung und verliert seine Würde. [...] Fortschritt wird nur noch im materiellen Sinne verstanden: mehr Kohle, mehr Öl, mehr Macht, mehr Gewinn. Fortschritt in der Qualität des Menschen, und darauf kommt es doch an, denn was nützen die Schätze der Erde, wenn der Mensch an innerem Wert verliert?
|Autor= [[Albert Schweitzer]]
|ref= <ref>Waldemar Augustiny: ''Albert Schweitzer und Du.'' Bertelsmann, Gütersloh 1959. S. 129, 146.</ref>
}}

[[Erich Fromm]] äußerte sich ganz ähnlich und sah in diesem veränderten Verständnis von Fortschritt eine Gefahr für die geistige Gesundheit der Menschen, die sich in einem krankhaften Antrieb zur Arbeit und zum sogenannten Vergnügen äußern würde.<ref>Erich Fromm, zitiert in Konrad Lorenz: ''Der Abbau des Menschlichen.'' 6. Auflage, Piper, München 1986. S. 164.</ref>

Seit der Entstehung der [[Umweltbewegung]] in den 1970er Jahren wird vor allem der Glaube an die Unbegrenztheit des (materiell-technlogischen) Fortschritts kritisiert, da er in direkter Verbindung mit der Produktionssteigerung steht, die aufgrund der [[Ressource]]nknappheit keine unbegrenzte Steigerung zulässt, sowie [[Globale Umweltveränderungen und Zukunftsszenarien|existenzbedrohende, globale Umweltveränderungen]] verursacht. Vor diesem Hintergrund sehen die Kritiker das mögliche Ende eines jeden Fortschritts<ref>[[Iring Fetscher]], zitiert in Heinz Abosch: ''Das Ende der großen Visionen.'' Junius, Hamburg 1993.S. 91.</ref> beziehungsweise die dringende Aufgabe, den Fortschrittsbegriff völlig neu zu definieren.<ref>[[Heinz Abosch]]: ''Das Ende der großen Visionen.'' Junius, Hamburg 1993.S. 108–109.</ref>

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts versucht etwa die Philosophin [[Denis Mäder]] den Fortschrittsbegriff „zeitgemäß“ umzudeuten und wieder positiv zu belegen. Sie möchte im Fortschritt die ''[[Ethik|ethisch]] vertretbare Entwicklung'' sehen, in dem sie vorschlägt, den Fortschrittsbegriff an die Wahl der Mittel zu koppeln:
{{Zitat
|Text= Fortschritt setzt voraus, dass uns die gewählten Mittel nicht wie die Darbietung von Opfern vorkommt; oder er setzt zumindest die Bereitschaft voraus, Opfer zu bringen und also einen Preis zu zahlen
|Autor= Denis Mäder
|ref= <ref name="Mäder" />
}}
Sie schlägt vor, den Fortschritt in diesem Sinne wieder mit seiner ursprünglichen Bedeutung – der Verbesserung – gleichzusetzen und anzuerkennen, dass es demgegenüber Entwicklungen gibt, die Rückschritte darstellen und positive Entwicklungen, die nur zeitlich und räumlich begrenzt vorkommen und nicht die gesamte Menschheit umfassen. Sie spricht dabei von „Fortschritt-im-Gegensatz“.<ref Name="Mäder" />


== Positiv bewerteter Fortschritt ==
== Positiv bewerteter Fortschritt ==

Version vom 25. Mai 2019, 09:16 Uhr

Sternstunde des Fortschritts oder zunehmende Distanz zu den irdischen Lebensgrundlagen?

Der philosophisch, politisch, technologisch und ökonomisch geprägte Begriff Fortschritt wird verwendet, um bedeutende Veränderungen bestehender Zustände oder Abläufe in menschlichen Gesellschaften als grundlegende Verbesserungen zu kennzeichnen. Gegenbegriffe sind Rückschritt oder Stillstand. Jeder Schritt setzt willentliche und gezielte Veränderungen voraus, die als Innovationen bezeichnet werden.

Die Bewertung von Innovationen ist anthropozentrisch: Bei angestrebten Neuerungen dient sie den betreibenden Interessengruppen zur Rechtfertigung und Durchsetzung ihrer Ideen – unabhängig von ihrem tatsächlichen Nutzen. Werden Wirkungen solcher Veränderungen erkennbar, die von einem Großteil der Gesellschaft positiv bewertet werden (zumeist, weil sie spürbar die Lebensqualität verbessern), erfährt die Zuschreibung als Fortschritt breite Zustimmung. Nach diesem Muster haben sich vor allem die modernen Industriegesellschaften entwickelt.

Die Fortschrittsidee entstand als eine der entscheidenden Leitkategorien der Moderne während der Aufklärungszeit im 18. Jahrhundert. Im 19. und 20. Jahrhundert etablierte sich diese Idee im Rahmen des wissenschaftlichen Weltbildes der Industriegesellschaften, das eine stetige soziale und kulturelle Höherentwicklung des Menschen voraussetzt. Fortschritt und Entwicklung gelten heute als entscheidender Antrieb des soziokulturellen Wandels.[1]

Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss erkannte zwei fundamental unterschiedliche Prinzipien menschlicher Gesellschaften, die er als „kalte und heiße Kulturen“ bezeichnete. Die „kalten“ Kulturen – die sich heute nur noch bei einigen wenigen naturnah lebenden Ethnien finden – beharren auf den bewährten Traditionen, da sie jeglichen menschlichen Eingriff in die kosmischen Zusammenhänge als potentielles Risiko betrachten. Die meisten modernen Zivilisationen und ihre historischen Vorläufer repräsentieren hingegen die „heißen“ Kulturen, die viel stärker der Erkenntnisfähigkeit und Kreativität des Menschen vertrauen und die nach Lévi-Strauss ein „gieriges Bedürfnis“ nach kulturellem Wandel haben.[2] Dies hat im Lauf der Geschichte eine zunehmende Distanz vom Naturzustand verursacht: Die Menschheit versucht mehr und mehr, die Natur ihren Bedürfnissen anzupassen. In diesem Sinn beruht der Fortschritt auf dem hoffnungsvollen Streben nach einer „Idealgesellschaft“.[3] Die sich daraus ergebenden Probleme und Risiken sind der vorrangige Ansatzpunkt für die vielfältige Kritik am Fortschritt (Kulturkritik), die es seit der Begriffsbildung gibt.

Die (häufig abwertende) Bezeichnung Fortschrittsglaube[4] wird von Kritikern verwendet, um deutlich zu machen, dass die Zuschreibung auf den Wertvorstellungen des Betrachters beruht oder um auf eine (angeblich) dogmatische Verwendung des Fortschrittsbegriffs hinzuweisen.

Begriff: Hintergrund und Bedeutungswandel

Während sich in der Natur jegliche Veränderung unweigerlich den funktionalen Zusammenhängen der übergeordneten Ökosysteme anpassen muss, um deren Erhaltung nicht zu gefährden, ist jede Entwicklung menschlicher Kulturen dem begrenzten, lückenhaften und fehlbaren Urteilsvermögen des Menschen unterworfen.[3] Diese Erkenntnis führte bei den mythisch-erdverbundenen Jäger und Sammler-Kulturen zu einer großen Skepsis gegenüber den menschlichen Fähigkeiten. Die Erfolge der neolithischen Revolution stärkten jedoch das Selbstvertrauen der Ackerbauern und Viehzüchter, so dass eine sich stetig verstärkende Entwicklung einsetzte, die zu den heutigen Zivilisationen geführt hat. Widersprüche und Rückschläge in der Geschichte erinnerten den Menschen währenddessen nach wie vor an seine Fehlbarkeit.

Im Zuge der europäischen Expansion und der industriellen Revolution hinterließ der Einfluss des Menschen auf die Erde immer deutlichere Spuren. Fortschritt wurde in diesem Zusammenhang zum politischen Schlagwort:[5] Der Begriff ist sprachlich eine Substantivierung (von fortschreiten) und ein positiv konnotiertes Kollektivsingular (Sammelbegriff in der Einzahl, obwohl es eine Mehrzahl gibt).[6] Solche Begriffe werden verwendet, um einem subjektiven Inhalt den Charakter von Objektivität zu verleihen, ihm größeres Gewicht zu geben und in ausschließlich positivem Licht erscheinen zu lassen. Auf diese Weise sollen wertfreie Tatsachen schon vor einer gründlichen Analyse ihrer Bedeutung mit Hilfe des Totschlagargumentes „im Namen des Fortschritts“ unkritisch positiv bewertet werden,[7][8] in dem sie mit Kants Idee vom beständigen „Fortschreiten zur Vollkommenheit [...] vom Schlechteren zum Besseren“ geadelt werden. Nach Kants Vorstellung sei in der Geschichte ein „verborgener Plan der Natur“ erkennbar, der zu einem vollkommenen Staat führen würde, in dem sich der Mensch zur Vollkommenheit entwickeln kann.[6]

Im Rahmen dieser Idee wurde der Fortschrittsbegriff im 19. Jahrhundert von den Humanisten als gesellschaftliche Leitkategorie im Sinne des Glaubens an eine zwangsläufige Perfektionierung („Perfektibilität“) des Menschen geprägt: Seine Vordenker vertraten die Annahme, das Fortschritt zunächst als Summe aller wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Neuerungen in Erscheinung treten würde, sofern diese die „Naturbeherrschung“ und den Lebensstandard vergrößern. Dies sahen sie durchaus nicht als stetigen Prozess, sondern als „turbulente“ Entwicklung mit etlichen Rückschritten und krassen Gegensätzen, wobei der Fortschritt jedoch im Endeffekt immer obsiegt. Erst auf der Grundlage des materiellen Fortschritts könne sich dann ein menschlicherer (gerechterer, moralischerer, kultivierterer) Umgang der Menschen miteinander – ein „wahrhaft menschlicher Fortschritt“ etablieren. Hegel sah die Entwicklung ebenfalls durchdrungen von vielen unmoralischen „Momenten“; Widersprüchen, Rückschlägen und Konflikten. Trotzdem empfahl er, diese Dinge nur als notwendige Begleiterscheinungen des Fortschritts zu betrachten. Würde man den Blick zu sehr auf das Negative richten, erschiene die Geschichte der Menschheit wie eine „Schlachtbank, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht werden“.[6]

Trotz der politisch gewollten Dominanz des Begriffes, ist die Fortschrittskategorie seit der Begriffsbildung umstritten. Bereits zu Beginn der Industrialisierung wurde Kritik laut. So mahnte etwa Friedrich Nietzsche, dass der „Preis des Fortschritts“ zu hoch sei, weil ihm immer etwas geopfert werden müsse, das im Endeffekt schwerer wiegen würde als sein Nutzen.[9]

Die philosophische Betrachtung äußert sich spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich fortschrittskritisch. So werden bei den Entwicklungstrends heute vor allem die Schattenseiten diskutiert. Vor diesem Hintergrund erscheinen viele Trends, die von breiten Teilen der Bevölkerung als Fortschritt – als historische Verbesserung der Menschenwelt – betrachtet werden, in der philosophischen Literatur als Rückschritt, so dass der Begriff ad absurdum geführt wird.[6]

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beklagte Albert Schweitzer:

„Der Wille zum Fortschritt hat Europa vor den anderen Erteilen groß gemacht. [...] Er bezog sich sowohl auf geistige als auch auf materielle Ziele. Heute wird das Gesicht eindeutiger, es verliert diese Spannung und verliert seine Würde. [...] Fortschritt wird nur noch im materiellen Sinne verstanden: mehr Kohle, mehr Öl, mehr Macht, mehr Gewinn. Fortschritt in der Qualität des Menschen, und darauf kommt es doch an, denn was nützen die Schätze der Erde, wenn der Mensch an innerem Wert verliert?“

Albert Schweitzer[10]

Erich Fromm äußerte sich ganz ähnlich und sah in diesem veränderten Verständnis von Fortschritt eine Gefahr für die geistige Gesundheit der Menschen, die sich in einem krankhaften Antrieb zur Arbeit und zum sogenannten Vergnügen äußern würde.[11]

Seit der Entstehung der Umweltbewegung in den 1970er Jahren wird vor allem der Glaube an die Unbegrenztheit des (materiell-technlogischen) Fortschritts kritisiert, da er in direkter Verbindung mit der Produktionssteigerung steht, die aufgrund der Ressourcenknappheit keine unbegrenzte Steigerung zulässt, sowie existenzbedrohende, globale Umweltveränderungen verursacht. Vor diesem Hintergrund sehen die Kritiker das mögliche Ende eines jeden Fortschritts[12] beziehungsweise die dringende Aufgabe, den Fortschrittsbegriff völlig neu zu definieren.[13]

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts versucht etwa die Philosophin Denis Mäder den Fortschrittsbegriff „zeitgemäß“ umzudeuten und wieder positiv zu belegen. Sie möchte im Fortschritt die ethisch vertretbare Entwicklung sehen, in dem sie vorschlägt, den Fortschrittsbegriff an die Wahl der Mittel zu koppeln:

„Fortschritt setzt voraus, dass uns die gewählten Mittel nicht wie die Darbietung von Opfern vorkommt; oder er setzt zumindest die Bereitschaft voraus, Opfer zu bringen und also einen Preis zu zahlen“

Denis Mäder[6]

Sie schlägt vor, den Fortschritt in diesem Sinne wieder mit seiner ursprünglichen Bedeutung – der Verbesserung – gleichzusetzen und anzuerkennen, dass es demgegenüber Entwicklungen gibt, die Rückschritte darstellen und positive Entwicklungen, die nur zeitlich und räumlich begrenzt vorkommen und nicht die gesamte Menschheit umfassen. Sie spricht dabei von „Fortschritt-im-Gegensatz“.[6]

Positiv bewerteter Fortschritt

Der US-amerikanisch-kanadische Psychologe Steven Pinker hält die Einschätzung von Fortschritt für objektivierbar, indem er die Entwicklung an universellen Wertvorstellungen misst, die unabhängig von kulturellen Prägungen überall gelten würden.[14]

„Die meisten Menschen stimmen darin überein, dass Leben besser ist als Tod. Gesundheit ist besser als Krankheit. Nahrung ist besser als Hunger. Wohlstand ist besser als Armut. Frieden ist besser als Krieg. Sicherheit ist besser als Gefahr. Freiheit ist besser als Tyrannei. Gleiche Rechte sind besser als Engstirnigkeit und Diskriminierung. Alphabetismus ist besser als Analphabetismus. Wissen ist besser als Ignoranz. Intelligenz ist besser als Dummheit. Glück ist besser als Leid. Gelegenheiten, Familie, Freunde, Kultur und Natur zu genießen, sind besser als Schufterei und Monotonie. Alle diese Dinge lassen sich messen. Haben sie im Laufe der Zeit zugenommen, so ist das Fortschritt“

Steven Pinker: „Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung.“

Pinker gilt als bedingungsloser Verfechter des Fortschritts. An seinem populärwissenschaftlichen Buch, aus dem das Zitat stammt, wird kritisiert, dass es einseitig geschrieben sei, Widersprüche nicht ernsthaft diskutieren würde und keine validen wissenschaftlichen Quellen verwende.[15]

Steigende Lebenserwartung

Die Lebenserwartung der Menschen hat sich in den vergangenen 150 Jahren mehr als verdoppelt. In Europa begann diese Entwicklung in den 1770er Jahren, die anderen Kontinente folgten ca. 100 Jahre später. Schlusslicht ist Afrika, wo die Lebenserwartung erst in den 1920er Jahren zu steigen anfing.[16]

Laut dem Wirtschaftshistoriker Johan Norberg neigen wir zu der Auffassung, dass „wir uns dem Tod mit jedem Jahr, das wir älter werden, um ein Jahr nähern, doch im 20. Jahrhundert näherte sich die Durchschnittsperson mit jedem Jahr, das sie älter wurde, dem Tod um nur sieben Monate“.[17]

„Zwischen 2003 und 2013 ist die Lebenserwartung in Kenia um fast zehn Jahre gestiegen“, schreibt Norberg. „Nach einem ganzen Jahrzehnt Leben, Lieben und Kämpfen hat die Durchschnittsperson in Kenia kein einziges Jahr der ihr verbliebenen Lebenszeit verloren. Jeder ist zehn Jahre älter geworden, aber dem Tod keinen Schritt näher gekommen.“[17]

Hier fehlt eine Grafik, die leider im Moment aus technischen Gründen nicht angezeigt werden kann. Wir arbeiten daran!

Sinkende Kindersterblichkeit

Zeigt den Anteil lebend geborener Kinder die starben, bevor sie fünf Jahre alt wurden

Seit dem Beginn der Aufklärung ist die Sterblichkeit von Kindern rapide gesunken. Die Kindersterblichkeit in den reichen Ländern liegt heute weit unter 1 %. Dies ist eine neue Entwicklung und wurde erst nach enormem Rückgang in diesen Ländern erreicht. In der frühen Neuzeit war die Kindersterblichkeit sehr hoch; In Schweden starb im 18. Jahrhundert jedes dritte Kind und in Deutschland im 19. Jahrhundert jedes zweite Kind.[18]

Mit dem Rückgang der Armut und zunehmendem Wissen und Angebot im Gesundheitswesen sank die Kindersterblichkeit weltweit sehr schnell: Von 18,2 % im Jahr 1960 auf 4,3 % im Jahr 2015; Während 4,3 % immer noch zu hoch sind, ist dies dennoch eine beachtliche Leistung.[18]

Ein Grund, warum wir in den Medien nicht hören, wie sich die globalen Lebensbedingungen verbessern, ist der langsame Prozess, der keine Schlagzeilen macht. Eine solche Schlagzeile, die im letzten Jahrhundert an jedem durchschnittlichen Tag hätte veröffentlicht werden können, wäre: "Die globale Kindersterblichkeit ist seit gestern um 0,0008 % gesunken".[18]

Kontrolle der Weltbevölkerung und des Bevölkerungswachstums

Weltbevölkerung und Wachstumsrate 1750 – 2100

Neben der Geburtenrate ist die weltweit steigende Lebenserwartung ein Faktor, der zu einer zunehmenden Weltbevölkerung beitragen kann. Aus einer biologischen Perspektive ist eine steigende Population für die betroffene Art ein Erfolg. Ist der Zuwachs jedoch zu groß, wird von einer Bevölkerungsexplosion gesprochen, die zur Überbevölkerung führen kann. Dies kann als das Gegenteil von Fortschritts — als Rückschritt — gesehen werden.

Für die Betrachtung, wie sich die Weltbevölkerung im Laufe der Zeit verändert, ist es sinnvoll, die Änderungsrate zu berücksichtigen, anstatt sich nur auf die Gesamtbevölkerung zu konzentrieren. Die folgende Grafik zeigt die jährliche Bevölkerungswachstumsrate, die der gesamten Weltbevölkerung für den Zeitraum 1750–2010 überlagert ist, sowie Prognosen bis 2100. In diesem Zeitraum hat sich das Bevölkerungswachstum am drastischsten verändert. Vor 1800 war die Wachstumsrate der Weltbevölkerung immer deutlich unter 1 %. Im Laufe der ersten fünfzig Jahre des 20. Jahrhunderts stieg das jährliche Wachstum jedoch auf bis zu 2,1 % - die höchste jährliche Wachstumsrate der Geschichte, die 1962 verzeichnet wurde. Seit diesem Höchststand ist die Wachstumsrate systematisch gesunken. Prognosen zufolge wird für 2100 eine jährliche Rate von 0,1 % erwartet.[19]

Dies bedeutet, dass sich die Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert vervierfacht hat, im 21. Jahrhundert jedoch nicht verdoppeln wird[19]. Dieses Ende des ungebremsten Wachstums Weltbevölkerung kann als Fortschritt betrachtet werden.

Zunehmender Wohlstand weltweit

Anzahl Personen pro Einkommen in den Jahren 1800, 1975 und 2018

Die Diagramme zeigen die Anzahl Personen mit dem auf der horizontalen Achse aufgetragenen täglichen Einkommen. Zur Vergleichbarkeit wurden die Beträge in die Kaufkraft des U.S. Dollars im Jahr 2011 in den USA, dem Internationalen Dollar, umgerechnet. Die gestrichelte senkrechte Linie markiert die Definition der Weltbank für Absolute Armut mit weniger als 1,90 $ pro Tag[20].

Die Einkommensverteilung ist zu drei Zeitpunkten dargestellt:

  • 1800. In nur wenigen Länder begann ein Wirtschaftswachstum. Über 80 % der Menschen lebten in extremer Armut.
  • 1975, 175 Jahre später, hatte sich die Welt verändert. Sie wurde sehr ungleich. Vor allem in Europa und Amerika wurden die Menschen zehn mal reicher, während Afrika und ein Großteil Asiens unverändert arm geblieben ist. Nur noch 50 % lagen unter der Grenze der extremen Armut.
  • 2018, vier Jahrzehnte später hat sich die Welt erneut dramatisch verändert. Europa, Amerika und Afrika verbesserten sich zwar deutlich, aber nicht fundamental. Asien holte jedoch drastisch auf. Nur noch 10 % leben in extremer Armut.[21]

Medizinischer Fortschritt

Zunehmende Alphabetisierung

Schätzungen des Bevölkerungsanteils der über 14-jährigen, der lesen und schreiben kann für den Zeitraum 1800–2014

Aus historischer Sicht ist der Alphabetisierungsgrad der Weltbevölkerung in den letzten Jahrhunderten drastisch gestiegen. Während 1820 nur 12 % der Menschen auf der Welt lesen und schreiben konnten, hat sich der Anteil heute umgekehrt: Nur 17 % der Weltbevölkerung sind noch Analphabeten. In den letzten 65 Jahren ist die weltweite Alphabetisierungsrate alle 5 Jahre um 4 % gestiegen – von 42 % im Jahr 1960 auf 86 % im Jahr 2015.[22]

Trotz erheblicher Verbesserungen beim Ausbau der Grundbildung und der kontinuierlichen Verringerung der Bildungsungleichheiten gibt es noch erhebliche Herausforderungen. In den ärmsten Ländern der Welt, in denen mangelnde Grundbildung ein Entwicklungshemmnis darstellt, sind immer noch sehr große Teile der Bevölkerung Analphabeten. In Niger zum Beispiel liegt die Alphabetisierungsrate der Jugendlichen (15–24 Jahre) nur bei 36,5 %.[22]

Während die frühesten Formen der schriftlichen Kommunikation auf etwa 3.500 bis 3.000 v. Chr. zurückgehen, blieb die Alphabetisierung über Jahrhunderte eine wenig verbreitete Fähigkeit, die eng mit der Ausübung von Macht verbunden war. Erst im Mittelalter nahm die Buchproduktion zu und die Alphabetisierung der allgemeinen Bevölkerung gewann in der westlichen Welt langsam an Bedeutung. Zwar war das Bestreben der allgemeinen Alphabetisierung in Europa eine grundlegende Reform, die aus der Aufklärung hervorging. Es brauchte jedoch Jahrhunderte, bis sie vollständig umgesetzt wurde. Erst im 19. und 20. Jahrhundert wurde die Alphabetisierung in den frühindustrialisierten Ländern zum Standard.[22]

Millenniums-Entwicklungsziele

Die Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen waren acht Entwicklungsziele für das Jahr 2015, die im Jahr 2000 formuliert wurden. Die Ergebnisse wurden von den Vereinten Nationen als voller Erfolg gewertet, während Kritiker etliche Einwände hatten. Der schwerwiegendste war der Vorwurf der Manipulation und geschönten Darstellung der Ergebnisse. So berichtete der Spiegel: „Von Forschern unterschiedlicher Fachrichtungen hagelt es Kritik, die Erfolge der Ziele würden größer dargestellt, als sie tatsächlich sind.“Anna Behrend: Uno-Nachhaltigkeitsziele: Die Rechentricks der Weltverbesserer. In: Spiegel online. 16. Juni 2016, abgerufen am 19. Mai 2019. Die Ziele waren[23]:

  • Ziel 1: Bekämpfung von extremer Armut und Hungers
  • Ziel 2: Verwirklichung der allgemeinen Grundschulbildung
  • Ziel 3: Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und Stärkung der Rolle der Frauen
  • Ziel 4: Senkung der Kindersterblichkeit
  • Ziel 5: Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Mütter
  • Ziel 6: Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen schweren Krankheiten
  • Ziel 7: Sicherung ökologischer Nachhaltigkeit
  • Ziel 8: Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung

Nach Abschluss dieses Programms wurden von den Vereinten Nationen 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung definiert. Sie traten am 1. Januar 2016 mit einer Laufzeit von 15 Jahren (bis 2030) in Kraft.

Zunehmende Sicherheit

Laut Steven Pinker sind Mord-Raten der verlässlichste Indikator für Gewaltkriminalität über lange Zeiträume und unterschiedliche Orte, weil ein toter Körper schwer zu übersehen ist und Mordraten mit anderen Raten der Gewaltkriminalität wie Raub, Körperverletzung und Vergewaltigung korrelieren.[24]

Als ein Indiz für die Entwicklung der Sicherheit in Europa können nun die bekannten Daten zu Morden in einigen Europäischen Ländern herangezogen werden. Cambridge-Professor Manuel Eisner veröffentlichte im Jahr 2003 eine entsprechende Studie.[25] Die unten dargestellte Grafik basiert im Wesentlichen auf Eisner's Zahlen. Darüber hinaus wurden von Our World in Data Ergänzungen und Fortschreibungen vorgenommen.[26] Die Werte sind pro 100.000 Einwohner pro Jahr angegeben ("Häufigkeitszahl").

Es zeigt sich eine dramatische Abnahme der Mord-Raten. Italien hatte historisch überdurchschnittliche hohe Zahlen. Heute liegen die Werte aber auf dem Niveau nordeuropäischer Länder.

Hier fehlt eine Grafik, die leider im Moment aus technischen Gründen nicht angezeigt werden kann. Wir arbeiten daran!

Weniger Kriege

Prozentsatz der Jahre, in denen „große Reiche“ untereinander Krieg führten, 1500–2015

Die Datensammlungen und -Aufbereitungen von Our World in Data legen nahe, dass wir gegenwärtig in der friedlichsten Zeit der Menschheitsgeschichte leben.

Die erste Grafik zeigt im Zeitraum der Jahre von 1500 bis 2015 den Prozentsatz der Jahre, in denen „große Reiche“ untereinander Krieg führten. Die Daten sind über Abschnitte von 25 Jahren aggregiert. Im Mittelalter war Krieg praktisch der Normalzustand. Seit Beginn des Zeitalters der Aufklärung um das Jahr 1700 gab es einen Rückgang. Seit einigen Jahrzehnten ist die Kurve bei Null[27].

Kriegstote pro Welt-Region seit 1946, die aus Staaten-verursachten Konflikten herrühren

Die Zahl der Kriegstoten sank nach dem Zweiten Weltkrieg. In manchen Jahren seither gab es dennoch ungefähr eine halbe Million Tote durch direkte Kriegseinwirkung. Im Jahr 2016 waren es nur noch 87.432.

In der zweiten Grafik ist der Rückgang der absoluten Todeszahl durch direkte Kriegseinwirkung pro Jahr und Region zwischen 1946 und 2016 dargestellt. In diesem Zeitraum gab es drei markante Häufungen: Der Koreakrieg in den frühen 1950er Jahren, der Vietnamkrieg um 1970, sowie den Irak-Iran- und die Afghanistan-Kriege in den 1980ern.

Die Region bezieht sich dabei nicht auf den Austragungsort der jeweiligen Schlacht, sondern auf den Ort des Staates der primär in den Konflikt involviert war. Es sind nur Konflikte aufgeführt, in denen mindestens eine Seite ein Staat war und in denen es mindestens 25 Kriegstote gab[27].

Kürzere Arbeitszeiten

Wöchentliche Arbeitsstunden

Die Forscher Michael Huberman und Chris Minns veröffentlichten Schätzungen der wöchentlichen Arbeitszeit bis zurück ins späte 19te Jahrhundert. Die Daten — dargestellt in der Grafik — zeigen, dass die Arbeitsstunden stark gefallen sind. Vollzeitkräfte arbeiten heute 20 oder sogar 30 Wochenstunden weniger als im 19ten Jahrhundert[28].

Technischer Fortschritt

Negative Folgen des Fortschritts

Es gibt weder ein Naturgesetz, das permanenten Fortschritt garantiert, noch handelt es sich bei der Vorstellung, was Fortschritt ist, um objektive Tatsachen. Im Folgenden werden einige Ereignisse aufgeführt, die zeigen, dass es bereits vielfache Rückschritte gab.

Phasen kulturellen Niedergangs

Mit dem Mittelalter gingen viele Errungenschaften der Antike verloren, bis sie 1000 Jahre später wiederentdeckt und weiterentwickelt wurden.

Das Alte Ägypten wird vereinfachend als eine 4000 Jahre andauernde Hochkultur angesehen, bis es vom — damals weiter entwickelten — Römischen Reich erobert wurde. Diese Blütezeit Ägyptens wurde jedoch drei mal von Jahrhunderte andauernden Zwischenzeiten des Niedergangs unterbrochen, der Erste Zwischenzeit, der Zweite Zwischenzeit und der Dritte Zwischenzeit. Die auf die Zwischenzeiten folgenden Zeiten Mittleres Reich, Neues Reich und Spätzeit standen Kulturell jedoch höher als die vorangegangenen Zeiten.

Die Maya, ein Volk Mittelamerikas, entwickelten eine beachtliche Hochkultur. Viele andere Kulturen in Amerika wurden im Zuge der Kolonialisierung durch Europäer — der weiterentwickelten Kultur — vernichtet. Die Mayakultur kollabierte jedoch bereits vor der Ankunft von Europäern. Einen wesentlichen Anteil am Niedergang dieser Hochkultur hatte ihre Schwächung durch ökologische Veränderungen, denen sie nicht ausreichend begegnen konnte.

In der Zeit des Nationalsozialismus gab es einen vielfachen kulturellen Niedergang. Politisch Andersdenkende und angehörige bestimmter ethnischer und religiöser Gruppen — vor allem Juden — wurden in riesigen Zahlen ermordet. Diese Zeit führte in den Zweiten Weltkrieg.

Seuchen

Durch das Bevölkerungswachstum und die verbesserte Mobilität konnten sich Epidemien ausbreiten. Als Beispiele können genannt werden Pest, Typhus, Cholera, Malaria, AIDS, Grippe. Im Rahmen des Columbian Exchange konnten auch Krankheitserreger zwischen den ehemals isolierte Kontinente Europa und Amerika ausgetauscht werden.

Durch Fortschritte in der Medizin und daraufhin Verbesserungen der Hygiene und die Entwicklung wirksamer Medikamente konnten diese Bedrohungen drastisch reduziert werden.

Umweltprobleme

Angesichts einer zunehmenden Weltbevölkerung und dem erfolgreichen Streben nach einem immer höheren Lebensstandard, stieg einerseits der Resourcenverbrauch und andererseits die Menge des produzierten Abfalls. Dieses Ungleichgewicht zeigt, dass in vielen Bereichen noch keine Nachhaltige Entwicklung erreicht ist.

Zu den größten Probleme zählen hier:

Geschichtsphilosophische Betrachtung

Der Fortschritt Amerikas (Progress of America), Domenico Tojetti, 1875, Oakland Museum of California

Die Deutung von Geschichte unter der Interpretation einer Fortschrittsentwicklung bezeichnet man als fortschrittstheoretische Geschichtsdeutung (zum Beispiel zahlreiche Vordenker der Aufklärung, Kritischer Rationalismus von Karl Popper), der gegensätzliche Ansatz wird als verfallstheoretischer Geschichtsdeutungsansatz bezeichnet (z. B. Goldenes Zeitalter, Ende der Geschichte).

Der vieldeutige Begriff hat erhebliche geschichts- und kulturphilosophische Auswirkungen und prägt in besonderer Weise das Weltbild der westlichen Moderne. Er wurde zuerst von den Stoikern als προκοπή (prokope) geprägt und ging später als progressus bzw. progressio in den lateinischen Wortschatz ein. Neben seiner philosophischen Bedeutung, u. a. bei Cicero, breitete er sich auch auf andere Gebiete aus, z. B. als militärischer Ausdruck für den Vormarsch einer Armee im Gegensatz zum re-gressus, dem Rückzug. Über das französische progrès hielt das Wort Anfang des 18. Jahrhunderts schließlich auch Einzug in die deutsche Sprache und galt ab 1830 als Schlagwort der Politik und Philosophie im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Menschheit. Exemplarisch sei hier Hegels berühmter Satz aus seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte genannt: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.“ Sprachwissenschaftlich gesehen handelt es sich beim Wort Fort-schritt um eine Lehnübersetzung aus dem lat. pro-gressus.

Das Fortschrittsdenken setzte sich in der Neuzeit in Europa und in Nordamerika durch. Im Zeitalter der Aufklärung bekam die Vorstellung eines ständigen Fortschritts der Menschheit einen erheblichen Schub. Ihre Verbreitung wurde auch durch die Verbreitung des Evolutionsgedankens als Alternative zu den traditionellen zyklischen Geschichtsbildern (altägyptische Vorstellungen, Thukydides) oder auf ein erlösendes Endziel zusteuernden Ende der Geschichte (Christentum, Augustinus) unterstützt. Vielen Menschen des westlichen Kulturraumes erscheint die Idee, dass es „Fortschritt“ gebe, so selbstverständlich, dass ihnen nicht bewusst ist, dass es auch völlig andere, dazu im Widerspruch stehende, weltanschauliche Axiome gibt.

Definition

Das Fortschrittsdenken beinhaltet folgende geschichtsphilosophischen Axiome:

  • Die geschichtliche Entwicklung verläuft linear.
  • Der allgemeine Zustand wird zunehmend besser, eventuell durch Rückschläge unterbrochen („Kulturoptimismus“).
  • Der natürliche Zustand wird zunehmend schlechter („Naturrealismus“).
  • Eventuell kommt noch die Vorstellung hinzu, dass die Veränderungen einem Ziel zusteuern („Teleologie“).
  • Oft ist mit dem Fortschrittsglauben die Vorstellung verbunden, dass sich Geschichte planvoll entwickle.

Das zugehörige Adjektiv fortschrittlich hat in innerkommunistischen Diskursen auch lobende Bedeutung für (z. B. ‚bürgerliche‘) Theoretiker, die keine Marxisten sind.

Linearität der geschichtlichen Veränderung

Durch die Vorstellung der Linearität werden grundlegende Begriffe unserer politischen Orientierung impliziert. So gilt als fortschrittlich oder progressiv, wer auf diesem (eindimensionalen!) Weg vorangeht, also den geschichtlichen Prozess gewissermaßen beschleunigt. Als konservativ in diesem Sinn gilt hingegen, wer den linearen Bewegungsablauf bremsen oder anhalten will, als reaktionär, wer ihn umkehren, also rückwärts gehen, will. Zu beachten ist, dass diese Begrifflichkeiten zum Aneinandervorbeireden führen, wenn der Gesprächspartner das Axiom einer linearen geschichtlichen Veränderung gar nicht akzeptiert, oder wenn er sie in eine andere Richtung verlaufen sieht.

Naturrealismus

Im Sinne des Naturrealismus bedeutet (technischer) Fortschritt immer ein Entfernen des Menschen von der Verbindung mit der Natur. Diesem voran steht der Glaube, der Mensch sei kein Teil der Natur, sondern wäre dieser überlegen und habe sie planvoll zu entwickeln. Dies entspricht der zentralen Motivation von modernen Zivilisationen, die von der Ethnologie auch als „heiße“ Gesellschaften bezeichnet werden. Demgegenüber stehen die „kalten“ Gesellschaften – die naturangepassten Gemeinschaften –, die vielfältige kulturelle Institutionen entwickelt haben, um den Fortschritt zu vermeiden und die bewährte Lebensweise zu bewahren → siehe dazu Kalte und heiße Kulturen oder Optionen.

Kulturoptimismus

Fortschritt zu Lasten der „Demokratie“ (Osttimor)

Der neuzeitlich-aufklärerische Fortschrittsoptimismus begann im 18. Jahrhundert mit Turgot, Voltaire und Condorcet.[29] Voltaire will die bislang vorherrschende Geschichtstheologie der christlichen Glaubenslehre durch eine auf Vernunft gründende, dem Fortschritt aufgeschlossene Geschichtsauffassung ablösen. Auguste Comte ergänzt im 19. Jahrhundert mit der Überzeugung, dass die Geschichte neben dem technischen Fortschritt einen ethischen Fortschritt (Lösung sozialer Probleme, allgemeine Zunahme von Humanität) mit sich bringt. Für Hegel ist Geschichte die ständige Zunahme von Vernunft durch einen dialektischen Prozess.

Der Kulturoptimismus unterstellt, dass Veränderung im Regelfall eine Verbesserung ist. Daraus resultiert eine positive Bewertung des „Neuen“ sowie eine negative Bewertung des „Alten“, also „Überholten“. Entsprechend diesem Denken wird unsere heutige Zivilisation als besser als frühere bewertet und es wird angenommen, dass zukünftige Zivilisationen besser als unsere heutige sind.

Das Fortschrittsdenken beinhaltet oft auch die Vorstellung, „Utopien“ (griech. ou tópos = kein Ort, Nirgendwo), etwa gesellschaftspolitischer Art, verwirklichen zu können. Noch nie Dagewesenes erscheint dem Kulturoptimisten als grundsätzlich erreichbar, ja geradezu als Inhalt des politischen Denkens.

Teleologie

Teleologie (altgriechisch τέλος télos, deutsch ‚‚Zweck, Ziel, Ende‘‘ und λόγος lógos ‚Lehre‘) ist die Lehre, dass Handlungen oder Entwicklungsprozesse an Zwecken orientiert sind und durchgängig zweckmäßig ablaufen.

Der Glaube an ein Endziel der geschichtlichen Veränderungen ist sehr alt und beruht in unserem Kulturkreis auf alten biblischen Vorstellungen. Die Vorstellungen, wie dieses Endziel aussehen werde (deskriptiv) oder auszusehen habe (normativ) gehen weit auseinander. Gleichwohl ist ein vom Ende her gedachter Zweck eine verbreitete Vorstellung. Religiös gibt es den Glauben an ein „Drittes Reich“ (nach dem ersten bis Jesus Christus und dem zweiten danach), das ewig („tausendjährig“) besteht. Adolf Hitler griff diese mythischen Vorstellungen auf und machte sie sich zunutze, indem er suggerierte, das von ihm geplante bzw. begonnene Reich sei ein Endziel und verfolge Endzwecke.

Auch der Kommunismus hat, auch unter dem Einfluss von Hegel, eine solche teleologische Vorstellung. Die klassenlose Gesellschaft der marxistischen Theorie, die letztendlich auch den Staat absterben lässt, ist eine Gesellschaft, in der jeder nach seinen Bedürfnissen leben kann. Wann dies zu erreichen ist und ob das gewissermaßen automatisch kommt, oder ob es durch Handlungen (Klassenkampf) herbeigeführt werden muss, darüber sind sich die verschiedenen Fraktionen marxistischer Weltanschauung uneinig.

Nicht immer ist mit dem Fortschrittsdenken ein teleologisches Konzept verbunden: Fortschritt kann auch ohne bestimmtes Ende, also ergebnisoffen, gedacht werden.

Entwicklung, Vorsehung

Ikonografie des biologischen Fortschritts.
Diese populäre Darstellung der Evolution des aufrechten Gangs kann den falschen Eindruck vermitteln, Evolution sei ein gerichteter Verbesserungsprozess.

Häufig ist mit dem Fortschrittsdenken die Vorstellung verbunden, dass der Lauf der Geschichte im Prinzip bereits feststehe. Wir könnten dann diesen Lauf entweder gar nicht oder nur geringfügig oder allenfalls im Tempo des Ablaufs beeinflussen. Das heute sehr verbreitete Wort von der Entwicklung kommt aus dieser Vorstellung: Danach ist der Ablauf der Geschichte bereits vorher z. B. von Gott „aufgewickelt“ worden. Diese bereits aufgewickelte Geschichte entwickelt sich jetzt. Wir können den Faden der Geschichte also nicht ändern (Präformationslehre). Wir können allenfalls etwas bremsen oder beschleunigen, was bereits unter dem Punkt Linearität beschrieben wurde. In einer religiös neutraleren Form wird nicht von Gott, sondern von der „Vorsehung“ gesprochen, also einer wie auch immer gedachten Institution, die den Lauf vorhersieht und – das steckt zwar nicht im Wort, aber in der üblichen Anwendung des Wortes – Entscheidungen so trifft, dass die Entwicklung planmäßig ablaufen kann.

Wo Philosophen, die dem Fortschrittsdenken verpflichtet sind, Vorhersagen für die Zukunft machen, sind diese als Extrapolationen aus der Vergangenheit gedacht. So beschreibt Karl Marx mit „ehernen Gesetzen“ der Geschichte nicht etwa eine Wiederholung oder ein Gleichbleiben des aus der Vergangenheit Bekannten, sondern eine Weiterentwicklung, deren Zielrichtung sich aber aus der Vergangenheit ermitteln lasse.

Alternative geschichtsphilosophische Konzepte

Kulturpessimismus

Dem Kulturoptimismus des (ständigen) Fortschritts der Menschheitszivilisation steht der Kulturpessimismus derer gegenüber, die einen ständigen Abstieg von einem als gut oder paradiesisch empfundenen Urzustand zu erkennen glauben. Kulturpessimisten gibt es aus christlicher Sicht (siehe Paradies) ebenso wie aus einer Hochachtung des „edlen Wilden“ („bon sauvage“) im Gegensatz zum „verdorbenen“ zivilisierten Menschen. „Zurück zur Natur“ ist im 18. Jahrhundert der Schlachtruf, der vielfach Rousseau zugeschrieben wird, in dessen Werk jedoch nicht nachweisbar ist.

Auch Bewunderer der Antike wie der dem Faschismus nahestehende Kulturphilosoph Julius Evola (Buchtitel „Inmitten von Ruinen“, womit die antiken Ruinen gemeint sind) zählen zu denen, die im „Zurück!“ eine moralische Verbesserung der Menschheit erhoffen (siehe auch Dekadenz; Goldenes Zeitalter), ebenso wie reaktionäre Vorstellungssysteme generell, wie der Nationalsozialismus, allgemein der Chauvinismus und der Sozialismus.

Gleichbleibende Verhältnisse

Eine andere geschichtsphilosophische Sicht glaubt, dass die Verhältnisse – zumindest mit einiger Abstraktion – immer gleich bleiben. Daraus folgt, dass die Vertreter dieser Sichtweise davon überzeugt sind, dass man aus der Geschichte empirisch allgemeine Gesetze ableiten kann, die zeitlos gültig sind. Einer der bekanntesten Denker dieser Richtung ist Niccolò Machiavelli.

Ende des 20. Jahrhunderts vertrat Francis Fukuyama zwischenzeitlich die Überzeugung, dass mit der weltweiten Einführung von liberalen Demokratien ein „Ende der Geschichte“ gekommen sei.

Viele empirische Sozialwissenschaftler gehen davon aus, dass zumindest Teile der untersuchten sozialen Strukturen und ihrer Gesetzmäßigkeiten auch für die Zukunft erhalten, also konstant, bleiben.

Zyklischer Verlauf der Geschichte

Samsara, das Rad des Lebens und der Wiedergeburt im tibetischen Buddhismus

Wiederum eine andere geschichtsphilosophische Vorstellung ist die vor allem in östlichen, d. h. von Indien beeinflussten, Ländern vorherrschende, Geschichte laufe zyklisch ab. Danach gibt es weder Fortschritt zum Guten noch ein Abgleiten ins Schlechte, aber auch keinen Stillstand, sondern eine kreisartige Bewegung. Geschichte verändert sich ständig, kommt aber wieder da heraus, wo sie begonnen hat.

Kritische Zeitenwende

Aus Erwägungen der Systemtheorie stammt der Begriff der Globalen Beschleunigungskrise, der von dem Physiker Peter Kafka geprägt wurde. Danach führt ein sich beschleunigender Fortschritt mit sehr schnellem und global vereinheitlichtem Strukturwandel zwangsläufig in eine instabile Gesamtlage der menschlichen Zivilisation und der menschenfreundlichen Biosphäre. Diese Sichtweise ist jedoch nicht kulturpessimistisch, weil die Krise nicht als unausweichlicher Niedergang und Untergang verstanden wird, sondern als ein singulärer Wendepunkt in der Geschichte des Fortschritts, an dem die „Anführer“ der Evolution – die Menschen – wahrscheinlich zu einer zukunftstauglicheren Neuorientierung in den Leitideen ihrer Zivilisation finden.

Dass Fortschritt auch in Zukunft noch immer möglich ist, davon geht Johano Strasser unter Bezugnahme auf Ulrich Beck[30] aus, wenn Bürger durchsetzen, dass z. B. seine wissenschaftlich-technische Dimension im gesellschaftlichen Maßstab legitimations- und begründungspflichtig ist.[31]

Siehe auch

Literatur

  • Steven Pinker: Enlightenment Now: The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress. Allen Lane, 2018
    • Übers. Martina Wiese: Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. Fischer, Frankfurt am Main 2018 ISBN 978-3-10-002205-9
  • Hans Rosling mit O. Rosling, A. Rosling Rönnlund: Factfulness: Ten Reasons We're Wrong About the World – and Why Things Are Better Than You Think. Flatiron 2018, ISBN 9781250123817.
    • dt.: Factfulness – wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Ullstein, Berlin 2018, ISBN 978-3-550-08182-8
  • Mark Blaug: Economic Theory in Retrospect. 5. Aufl., Cambridge 1997, S. 129 ff. ISBN 0-521-57701-2 (kritische Betrachtung der Auffassung Ricardos zum technischen Fortschritt).
  • John Brockman (Hrsg.): Welche wissenschaftliche Idee ist reif für den Ruhestand? Die führenden Köpfe unserer Zeit über Ideen, die uns am Fortschritt hindern. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2016, ISBN 978-3-596-03395-9
  • Hubert Cancik: Die Rechtfertigung Gottes durch den „Fortschritt der Zeiten“. Zur Differenz jüdisch-christlicher und hellenisch-römischer Zeit- und Geschichtsvorstellung [1983], in: ders., Antik – Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, hrsg. von Richard Faber, Barbara von Reibnitz und Jörg Rüpke, Stuttgart / Weimar 1998, S. 25–54.
  • Eric Robertson Dodds: The ancient concept of progress and other essays on Greek literature and belief. 1973.
  • Hans-Günter Funke: Zur Geschichte Utopias. Ansätze aufklärerischen Fortschrittsdenkens in der französischen Reiseutopie des 17. Jahrhunderts, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 2, Frankfurt am Main 1985, S. 299–319.
  • Peter Kafka: Gegen den Untergang. Schöpfungsprinzip und globale Beschleunigungskrise, München Wien 1994. ISBN 3-446-17834-1.
  • Wolfram Kinzig: Novitas Christiana. Die Idee des Fortschritts in der Alten Kirche bis Eusebius. Göttingen 1994 (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 58) (zur Entstehung der Fortschrittsvorstellung vor der Aufklärung).
  • Pauline Kleingeld: Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg 1995.
  • Helmut Kuhn, Franz Wiedmann (Hrsg.): Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München 1964 (= Verhandlungen des 7. Deutschen Kongresses für Philosophie, Münster 1962).
  • Till R. Kuhnle: Das Fortschrittstrauma. Vier Studien zur Pathogenese literarischer Diskurse, Tübingen 2005. ISBN 3-86057-162-1.
  • Heinz Maier-Leibnitz: Der geteilte Plato. Ein Atomphysiker zum Streit um den Fortschritt. Zürich 1981.
  • Rudolf W. Meyer (Hrsg.): Das Problem des Fortschrittes – heute. Darmstadt 1969.
  • Werner Mittelstaedt: Das Prinzip Fortschritt. Für ein neues Verständnis der Herausforderungen unserer Zeit, Frankfurt am Main 2008. ISBN 978-3-631-57527-7
  • Friedrich Rapp: Fortschritt. Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee, Darmstadt 1992.
  • Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006 (analysiert das Aufkommen der Fortschrittsidee in der Geschichtsphilosophie). ISBN 3-7965-2214-9.
  • Robert Spaemann: Unter welchen Umständen kann man noch von Fortschritt sprechen?, in: ders., Philosophische Essays. Erweiterte Ausgabe, Stuttgart 1994, S. 130–150.
  • Johano Strasser: Das Drama des Fortschritts. Bonn 2015. ISBN 978-3-8012-0477-8.
  • Ulrich van Suntum: Die unsichtbare Hand. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York 2000, S. 117 ff. ISBN 3-540-41003-1 (ökonomisch fundierte Betrachtung des Zusammenhangs zwischen technischem Fortschritt und Arbeitslosigkeit).
  • Pierre-André Taguieff: L’Effacement de l’avenir, Paris 2000. ISBN 2-7186-0498-0.
  • Pierre-André Taguieff: Du Progrès. Biographie d’une utopie moderne, Paris 2001. ISBN 2-290-30864-1.
  • Pierre-André Taguieff: Le Sens du progrès. Une approche historique et philosophique, Paris 2004. ISBN 2-08-210342-0.
  • Werner Thiede: Die digitale Fortschrittsfalle. Warum der Gigabit-Gesellschaft mit 5G-Mobilfunk freiheitliche und gesundheitliche Rückschritte drohen, Bergkamen 2018, ISBN 978-3-88515-297-2.
  • Eckart Voland: Die Fortschrittsillusion. In: Spektrum der Wissenschaft 4/07 vom April 2007 (Text und Diskussion siehe: [1] und [2])
Wiktionary: Fortschritt – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Daniel Speich Chassé: Fortschritt und Entwicklung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 21. September.2012, Online-Abruf am 13. Mai 2019.
  2. Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. 4. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt 1981, ISBN 3-518-07614-0, S. 270.
  3. a b Edward Goldsmith: Der Weg. Ein ökologisches Manifest. 1. Auflage, Bettendorf, München 1996, ISBN 3-88498-091-2.S. 16, 263ff, 412f.
  4. Beispielquellen: Ilse Tödt: Fortschrittsglaube und Wirklichkeit: Arbeiten zu einer Frage unserer Zeit. Kaiser, München 1983. / Bedrich Loewenstein: Der Fortschrittsglaube. WBG, Darmstadt 2015. / Wolfgang H. Lorig: Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika, Leske + Budrich, Opladen 1988, Abschnitt "Fortschrittsglaube und Kulturpessimismus", S. 25–27.
  5. Heike Silvia Scheminski: Mensch und Technik: Beispiele antizipatorischer Texte im Vorfeld und während der industriellen Revolution in Frankreich, Diplomica, Hamburg 2002, S. 10–12.
  6. a b c d e f Denis Mäder: Wider die Fortschrittskritik. Mit einem Appendix zum Fortschritt als Human Enhancement. in Momentum quarterly, Vol. 3, No. 4 (2014), S. 190–194, 198–201.
  7. Franz Josef Radermacher, Bert Beyers: Welt mit Zukunft: Die ökosoziale Perspektive, Murmann Publishers, Hamburg 2011, ohne Seite: google-books-Link.
  8. Patrick Masius: Umweltgeschichte und Umweltzukunft: zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin, Universitätsverlag Göttingen 2009, S. 37.
  9. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, Werke. Kritische Gesamtausgabe, VI, 2. 1887, Berlin: Walter de Gruyter, 1968.
  10. Waldemar Augustiny: Albert Schweitzer und Du. Bertelsmann, Gütersloh 1959. S. 129, 146.
  11. Erich Fromm, zitiert in Konrad Lorenz: Der Abbau des Menschlichen. 6. Auflage, Piper, München 1986. S. 164.
  12. Iring Fetscher, zitiert in Heinz Abosch: Das Ende der großen Visionen. Junius, Hamburg 1993.S. 91.
  13. Heinz Abosch: Das Ende der großen Visionen. Junius, Hamburg 1993.S. 108–109.
  14. Stephen Pinker: Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2018, ISBN 978-3-10-403068-5, Kapitel 4, Furcht vor dem Fortschritt.
  15. Jochen Stöckmann: Steven Pinker - Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung, WDR 3 Buchrezension vom 18. Januar 2019, abgerufen am 19. Mai 2019.
  16. Life Expectancy - Our World in Data, Lebenserwartung 1771–2015. Die Daten stehen unter der Lizenz Creative Commons BY license., abgerufen am 2. Mai 2019
  17. a b Stephen Pinker: Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2018, ISBN 978-3-10-403068-5, Kapitel 5, Leben.
  18. a b c Child Mortality - Our World in Data, Kindersterblichkeit, 1751–2013. Die Daten stehen unter der Lizenz Creative Commons BY license., abgerufen am 2. Mai 2019
  19. a b World Population Growth - Our World in Data, Weltbevölkerung, 1750–2015 und Vorhersagen bis 2100. Author: Max Rosner. Die Daten stehen unter der Lizenz Creative Commons BY license., abgerufen am 4. Mai 2019
  20. World Bank Forecasts Global Poverty to Fall Below 10% for First Time; Major Hurdles Remain in Goal to End Poverty by 2030. Abgerufen am 18. Mai 2019 (englisch).
  21. Global Economic Inequality - Our World in Data, Globale Einkommensungleichheit. Die Daten stehen unter der Lizenz Creative Commons BY license., abgerufen am 5. Mai 2019
  22. a b c Literacy - Our World in Data, Historische Entwicklung der Lesefähigkeit. Die Daten stehen unter der Lizenz Creative Commons BY license., abgerufen am 12. Mai 2019
  23. Bericht 2015. Vereinte Nationen, abgerufen am 18. Mai 2019. Abschnitt „Überblick“, S. 4 ff.
  24. Stephen Pinker: Enlightenment Now. The Case for Reason, Science Humanism, and Progress. Viking, New York 2018, ISBN 978-0-525-55902-3, S. 169, 175.
  25. Manuel Eisner: Long-Term Historical Trends in Violent Crime. The University of Chicago, 2003 (Download [PDF]).
  26. Homicides - Our World in Data Die Daten stehen unter der Lizenz Creative Commons BY license., abgerufen am 2. März 2019
  27. a b War and Peace - Our World in Data. Abgerufen am 18. Mai 2019 (englisch).
  28. Working Hours - Our World in Data. Abgerufen am 19. Mai 2019 (englisch).
  29. Angehrn, Emil 2012: Geschichtsphilosophie. Eine Einführung. Basel, Schwabe: 67–76.
  30. Ulrich Beck, Anthony Giddens, Scott Lash: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt/M. 1996.
  31. Johano Strasser: Das Drama des Fortschritts. Bonn 2015, ISBN 978-3-8012-0477-8.