„Zerschlagen ist die alte Leier am Felsen, welcher Christus heißt“ – Versionsunterschied

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Version vom 24. November 2018, 11:40 Uhr

Hinweis auf [Bernhard] Martin Giese als Autor in der Allgemeinen Kirchenzeitung (1850)

Zerschlagen ist die alte Leier am Felsen, welcher Christus heißt! lauten die ersten beiden Zeilen eines Gedichtes, das auf den Pfarrer und „Märzrevolutionär“ Bernhard Martin Giese (1816–1873) zurückgeht. Es erschien zum ersten Mal am 25. Mai 1850 im konservativen Volksblatt für Stadt und Land zur Belehrung und Unterhaltung mit den Anfangszeilen Zerschlagen will ich meine Leier / Am Felsen, der da Christus heißt. Bekanntheit erlangte das Gedicht (allerdings in veränderter Fassung!) durch die vor allem in christlichen Kreisen und in christlicher Literatur aufgestellte Behauptung, Heinrich Heine (1797–1856) sei sein Autor und habe damit gegen Ende seines Lebens seine Bekehrung zu Christus dokumentiert. Diese Behauptung geht offensichtlich auf einen Artikel zurück, der im November 1907 unter der Überschrift „Heinrich Heine's Testamente“ in der Reformierten Kirchenzeitung erschien.

Autor, Text, Inhalt

In dem bereits erwähnten Volksblatt für Stadt und Land zur Belehrung und Unterhaltung, das im christlich-konservativen Verlag von Richard Mühlmann (Halle (Saale)) erschien, finden sich in verschiedenen Ausgaben des späten Frühjahrs 1850 vier „Gedichte eines Wiedergefundenen“.[1] Das erste Gedicht in diesem Zyklus trägt den Titel „Dichterbeichte“,[2] verfügt über fünf Strophen und beginnt mit den Zeilen „Zerschlagen will ich meine Leier / Am Felsen, der da Christus heißt“. Die drei weiteren Gedichte dieser Reihe sind mit „Passionsbuße“,[3] „Gefängnißfreude“[4] und „Weihnachtslied eines Gefangenen“[5] überschrieben. Der Zyklus „Gedichte eines Wiedergefundenen“ wurde zwar im Volksblatt für Stadt und Land [...] anonym veröffentlicht, jedoch alsbald in Nachdrucken und christlichen Hausbüchern für Bernhard Martin Giese als Autor belegt.[6][7]

Autor

Dorfkirche Arnsnesta
Magdeburger Zitadelle (um 1880)

Bernhard Martin Giese wurde am 8. September 1816 in Wittenberg als Sohn des Bürgermeisters Carl Gottfried Giese geboren.[8] Er studierte Evangelische Theologie an den Universitäten in Wittenberg, Berlin und Halle. 1839 absolvierte er sein erstes Examen in Berlin und 1841 sein zweites in Magdeburg. Giese war zunächst Hilfsprediger in Wittenberg und anschließend Pfarrer an der Dorfkirche in Arnsnesta (heute Stadtteil der Stadt Herzberg). Dort entwickelte er sich vom ehemals „glühend eifrigen Pietisten[9] zum radikalen Rationalisten. Er schloss sich dem Verein der Protestantischen Freunde (Lichtfreunde) an und veröffentlichte seine Bekenntnisse eines Freigewordenen [...], die 1846 in Altenburg erschienen und noch im selben Jahr zur Amtsenthebung Gieses führten.[10]

Giese verzog mit seiner Ehefrau und seinen beiden Kindern nach Halle und übernahm dort die Predigerstelle der neu gegründeten deutschkatholischen Freien vereinigten Gemeinde. Politisch verband er sich mit der demokratischen Bewegung der Märzrevolution, deren Ideen er vor allem durch selbstverfasste Gedichte und Lieder verbreitete. Sein Gedicht Sturmlied, das im November 1848 in der Halleschen demokratischen Zeitung erschien, führte dazu, dass er im Frühjahr 1849 wegen Majestätsbeleidigung und Anstiftung zum Aufruhr zu zweieinhalb (dreieinhalb?[11]) Jahren Festungshaft verurteilt wurde.[12]

Giese trat nach der Verurteilung seine Haftzeit in der Magdeburger Zitadelle an.[13] Schon in den ersten Monaten wandte er sich – wohl auch unter dem Einfluss seiner Ehefrau[14] – von seinen rationalistischen und revolutionären Anschauungen ab und wurde Ende Juli 1850 aufgrund eines positiv beschiedenen Gnadengesuchs aus der Haft entlassen. Bedingung war, zwei Jahre lang das Staatsgebiet Preußens zu meiden und für zwei Jahre Johann Hinrich Wichern bei seiner missionarisch-diakonischen Arbeit im Rauhen Haus bei Hamburg zu assistieren. Noch vor Gieses Entlassung aus dem Gefängnis wurde der bereits erwähnte Zyklus Gedichte eines Wiedergefundenen, darin enthalten die Dichterbeichte, die mit der Zeile Zerschlagen will ich meine Leier beginnt.

Giese konvertierte 1854 in Hamburg zur Römisch-katholischen Kirche und verzog noch im selben Jahr nach Münster 1854, wo er sich als Privatmann niederließ. Ab 1858 war er Mitarbeiter der von Kaspar Franz Krabbe herausgegebenen Schrift Monatsblatt für katholisches Unterrichts- und Erziehungswesen. Er verstarb 1873 in Münster. David August Rosenthal widmete ihm in seinen Convertitenbildern aus dem 19. Jahrhundert ein Kapitel.[15]

Textvergleich

Eine Variante des Giese-Textes tauchte – wie bereits erwähnt – 1907 in der Reformierten Kirchenzeitung auf. Der Titel dieser Veröffentlichung, in der neben dem Gedicht verschiedene Heine-Texte zitiert werden, lautet: „Heinrich Heine's Testament“. In der Einführung dazu heißt es, das Gedicht Zerschlagen ist die alte Leier sei in einem baltischen Pfarrhaus gefunden und mit dem Hinweis „Heinrich Heine's letzte Verse“ übermittelt worden.[16]

Der Vergleich der beiden Texte weist eine Reihe von formalen und inhaltlichen Unterschieden auf, zeigt aber deutlich auch die Abhängigkeit des Heinrich Heine zugeschriebenen Textes vom Giese-Gedicht.

Text 1850: „Dichterbeichte“ von B. M. Giese
(Volksblatt für Stadt und Land [...])
Text 1907, Heinrich Heine zugeschrieben
(Reformierte Kirchenzeitung)

Zerschlagen will ich meine Leier
Am Felsen, der da Christus heißt,
Die Leier, die zur bösen Feier
Beweget ward vom bösen Geist,
Die Leier, die zum Aufruhr klang,
Die Abfall, Spott und Zweifel sang!
O Herr, o Herr, ich knie nieder,
Vergieb, vergieb mir meine Lieder!

In wahnberauschtem Thatendrange
Hab ich manch Giftwort ausgestreuet;
Die Drachensaat, nicht währt’ es lange! –
Zur Erndt’ wuchs sie, die mich reut.
Erfüllt hat sich der alte Spruch:
Wer Wind sä’t erndtet Sturm genug
O Herr, o Herr, ich knie nieder,
Vergieb, vergieb mir meine Lieder!

Der Kirche ist mit ihrem Glauben
Manch Spottlied frevelhaft erschallt.
Es sollte Zucht und Wahrheit rauben
Durch weicher Töne Truggewalt.
Der Freien Rotte triumphirt:
Ich hab ihr Manchen zugeführt.
O Herr, schlag’ ich die Augen nieder;
Vergieb, vergieb mir meine Lieder!

Und als des Märzens Stürme kamen,
Bis zum November trüb und wild,
Da streut’ ich bittern Aufruhrsaamen
In süße Lieder eingehüllt.
So manches Herz hab ich betöhrt,
Des ew’gen Lebens Glück zerstört,
Gebeugten Hauptes ruf ich wieder:
O Herr, vergib mir meine Lieder!

Zerschlagen ist die alte Leier
Am Felsen, der da Christus heißt,
Doch Herr, gieb neues Dichterfeuer,
Das Dich in edlen Weisen preist.
Schenk’ eine Leier, rein und mild
Mit heil’gem Friedensklang erfüllt!
Ja, neige segnend dich hernieder
Und gieb mir neue, neue Lieder!

Zerschlagen ist die alte Leier
am Felsen, welcher Christus heißt!
Die Leier, die zur bösen Feier
bewegt ward von dem bösen Geist,
Die Leier, die zum Aufruhr klang,
die Zweifel, Spott und Abfall sang.
O Herr, o Herr, ich kniee nieder,
vergib, vergib mir meine Lieder!

(Die zweite Strophe fehlt.)








Der Kirche ist und ihrem Glauben
manch Spottlied frevelhaft erschallt;
Es sollte Zucht und Ordnung rauben
durch weicher Töne Truggewalt.
Die freie Rotte triumphieret!
Ich hab ihr manchen zugeführet.
O Herr ich schlag die Augen nieder;
vergib, vergib mir meine Lieder!

Und als des Märzens Stürme kamen
bis zum November trüb und wild,
Da hab ich wilden Aufruhrsamen
in süße Lieder eingehüllt.
So manches Herz hab ich betöret,
des ew'gen Lebens Glück zerstöret.
Gebeugten Hauptes ruf ich wieder:
O Herr, vergib mir meine Lieder!

Zerschmettert ist die alte Leier
am Felsen, welcher Christus heißt!
Die Leier, die zur bösen Feier
bewegt ward von dem bösen Geist.
Ach schenk mir eine, neu und mild
von heil'gem Friedensklang erfüllt;
O, neige segnend Dich hernieder
und gib mir neue, neue Lieder!

Inhalt

Literatur

  • Nathanael Riemer: „Zerschlagen ist die alte Leier am Felsen, welcher Christus heißt“. Wie das Bußgedicht des Märzrevolutionärs Bernhard Martin Giese zum Beweis einer gewünschten »Bekehrung« Heinrich Heines avancierte. In: Heine-Jahrbuch 2017 (56. Jahrgang). Herausgegeben von Sabine Brenner-Wilczek (Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf). ISBN 978-3-476-04513-3, S. 131–148, doi:10.1007/978-3-476-04514-0_7.
  • Peter Walter: „Hat sich Heine am Ende seines Lebens bekehrt? Religionskritik und Altersreligiosität bei Heinrich Heine“. In: Zeitschrift factum 9/1987, S. 35–46; 10/1987, S. 28–37.
  • Bernhard Martin Giese: Bekenntnisse eines Freigewordenen, mit besonderer Beziehung auf Kämpfe's Beantwortung der Uhlich'schen Bekenntnisse. Altenburg 1846.

Einzelnachweise

  1. Nathanael Riemer: „Zerschlagen ist die alte Leier am Felsen, welcher Christus heißt“. Wie das Bußgedicht des Märzrevolutionärs Bernhard Martin Giese zum Beweis einer gewünschten »Bekehrung« Heinrich Heines avancierte. In: Heine-Jahrbuch 2017 (56. Jahrgang). Herausgegeben von Sabine Brenner-Wilczek (Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf). S. 137
  2. Richard Mühlmann (Hrsg.): Volksblatt für Stadt und Land zu Belehrung und Unterhaltung. Verlag von Richard Mühlmann: Halle an der Saale 1850. Ausgabe Nr. 42 vom 25. Mai 1850. Spalte 672
  3. Richard Mühlmann (Hrsg.): Volksblatt für Stadt und Land zu Belehrung und Unterhaltung. Verlag von Richard Mühlmann: Halle an der Saale 1850. Ausgabe Nr. 46 vom 8. Juni 1850. Spalten 735f
  4. Richard Mühlmann (Hrsg.): Volksblatt für Stadt und Land zu Belehrung und Unterhaltung. Verlag von Richard Mühlmann: Halle an der Saale 1850. Ausgabe Nr. 47 vom 12. Juni 1850. Spalten 750ff
  5. Richard Mühlmann (Hrsg.): Volksblatt für Stadt und Land zu Belehrung und Unterhaltung. Verlag von Richard Mühlmann: Halle an der Saale 1850. Ausgabe Nr. 48 vom 15. Juni 1850. Spalten 765f
  6. Nathanael Riemer: „Zerschlagen ist die alte Leier am Felsen, welcher Christus heißt“. Wie das Bußgedicht des Märzrevolutionärs Bernhard Martin Giese zum Beweis einer gewünschten »Bekehrung« Heinrich Heines avancierte. In: Heine-Jahrbuch 2017 (56. Jahrgang). Herausgegeben von Sabine Brenner-Wilczek (Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf). S. 139
  7. Zum Beispiel Allgemeine Kirchenzeitung. Ein Archiv für die neueste Geschichte und Statistik der christlichen Kirche (Hrsg. Karl Gottlieb Bretschneider, Karl Zimmermann). Erster Band des 29. Jahrganges. Karl Wilhelm Leske: Darmstadt 1850. S. 1088 (Kirchenchronik und Miscellen)
  8. Die hier genannten Daten und Fakten orientieren sich, wenn nicht anders angegeben, an den Angaben des Lexikons Westfälischer Autoren 1750–1950 (lwl.org: Bern(h)ard Martin Giese; eingesehen am 18. November 2018)
  9. Bernhard Martin Giese: Bekenntnisse eines Freigewordenen, mit besonderer Beziehung auf Kämpfe's Beantwortung der Uhlich'schen Bekenntnisse. Altenburg 1846. S. III
  10. Zu Einzelheiten der Amtsenthebung siehe Allgemeine Kirchenzeitung. Ein Archiv für die neueste Geschichte und Statistik der christlichen Kirche (Hrsg. Karl Gottlieb Bretschneider, Karl Zimmermann). Erster Band des 25. Jahrganges. Karl Wilhelm Leske: Darmstadt 1846. S. 534ff (Google books online)
  11. David August Rosenthal: Convertitenbillder aus dem 19. Jahrhundert. Band I,3. Schaffhausen 1872. S. 106; Lexikon Westfälischer Autoren 1750–1950 (lwl.org: Bern(h)ard Martin Giese; eingesehen am 20. November 2018)
  12. Anzeiger für die politische Polizei Deutschlands auf die Zeit vom 1. Januar 1848 bis zur Gegenwart. Ein Handbuch für jeden deutschen Polizeibeamten. Dresden 1855. S. 232
  13. Ernst Keil: Die Citadelle zu Magdeburg im Jahre 1850. Ein Beitrag zur Geschichte der Preußischen Conterrevolution. In: Der Leuchtthurm 9/1850. S. 170–175; hier: S. 175
  14. Nathanael Riemer: „Zerschlagen ist die alte Leier am Felsen, welcher Christus heißt“. Wie das Bußgedicht des Märzrevolutionärs Bernhard Martin Giese zum Beweis einer gewünschten »Bekehrung« Heinrich Heines avancierte. In: Heine-Jahrbuch 2017 (56. Jahrgang). Herausgegeben von Sabine Brenner-Wilczek (Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf). S. 137
  15. David August Rosenthal: Convertitenbillder aus dem 19. Jahrhundert. Band I,3. Schaffhausen 1872.
  16. Th. Lg. [=Theo Lang, Herausgeber der Reformierten Kirchenzeitung?]: Heinrich Heine's Testament. In: Reformierte Kirchenzeitung. Organ des Reformierten Bundes in Deutschland. Ausgabe Nr. 46 (17. November 1907). S. 365