„Deutschstunde“ – Versionsunterschied

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Der [[Roman]] '''Deutschstunde''' von [[Siegfried Lenz]] erschien 1968. Lenz bringt in diesem Werk das zentrale Thema der deutschen [[Nachkriegsliteratur]] auf den Punkt: Die Verquickung von Schuld und Pflicht in der [[Zeit des Nationalsozialismus]]. Die oft gehörte Entschuldigung, man habe ja nur „seine Pflicht getan“, wird hier kritisch durchleuchtet.
Der [[Roman]] '''Deutschstunde''' von [[Siegfried Lenz]] erschien 1968. Lenz bringt in diesem Werk das zentrale Thema der deutschen [[Nachkriegsliteratur]] auf den Punkt: Die Verquickung von Schuld und Pflicht in der [[Zeit des Nationalsozialismus]]. Die oft gehörte Entschuldigung, man habe ja nur „seine Pflicht getan“, wird hier kritisch durchleuchtet.

Formal ist der Roman in zwei verschiedene Zeitebenen strukturiert: Die erste Ebene ist die Gegenwart des Ich-Erzählers Siggi Jepsen, die zweite Ebene ist Siggis „Aufsatz“, in dem er in Rückblenden seine Geschichte erzählt. Hinzu kommen außerdem gelegentliche Perspektivwechsel durch psychologische Studien über Siggi, die von ihm gelesen und skeptisch kommentiert werden.


== Inhalt ==
== Inhalt ==
[[File:Bundesarchiv B 145 Bild-F030758-0018, Bonn, Landesvertretung Hamburg, Dichterlesung Lenz.jpg|thumb|mini|Siegfried Lenz liest in Bonn (1969)]]

Siggi Jepsen, Insasse einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche (angelehnt an die Jugendstrafanstalt [[Hahnöfersand]]), bekommt in einer Deutschstunde das Aufsatzthema „Die Freuden der Pflicht“ gestellt und scheitert daran: Er gibt ein leeres Heft ab. Der Grund für sein Scheitern liegt jedoch darin, dass er zu diesem Thema zu viel zu sagen hat – im Arrest, der von ihm freiwillig immer weiter verlängert wird, schreibt Siggi nun über seine Kindheit und Jugend, die gerade unter dem Zeichen der „Pflicht“ stand. Siggi Jepsens Vater war nämlich der „nördlichste Polizeiposten Deutschlands“ in dem schleswig-holsteinischen Dorf Rugbüll. Jens Ole Jepsen erhält 1943 von der nationalsozialistischen Obrigkeit den Auftrag, gegen den [[Expressionismus|expressionistischen]] Maler Max Ludwig Nansen (für diese Romanfigur diente [[Emil Nolde]] als Vorbild) ein Malverbot auszusprechen und dieses Verbot zu überwachen. Obwohl Jepsen seit seiner Jugend mit Nansen befreundet ist und dieser ihm sogar einmal das Leben gerettet hat, kommen ihm keinerlei Zweifel an seiner Pflicht, diese Anordnungen rigoros zu befolgen. Als er seinen zu dieser Zeit zehnjährigen Sohn Siggi dazu anstiften will, den Maler zu bespitzeln, bringt er ihn damit in einen Gewissenskonflikt, denn Nansens Atelier ist für Siggi wie ein zweites Zuhause. Er beschließt, seinem Vater nicht zu gehorchen, und hilft stattdessen Nansen beim Verstecken von Bildern.
[[Datei:Luftaufnahmen -Borsteler Binnenelbe und Großes Brack- 2012-05-by-RaBoe-554.jpg|miniatur|Elbinsel [[Hahnöfersand]], auf einer „Schwesterinsel“ befindet sich die Jugenderziehungsanstalt im Roman]]

Siggi Jepsen, Insasse einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche, bekommt in einer Deutschstunde das Aufsatzthema „Die Freuden der Pflicht“ gestellt und scheitert daran: Er gibt ein leeres Heft ab. Der Grund für sein Scheitern liegt jedoch darin, dass er zu diesem Thema zu viel zu sagen hat – im Arrest, der von ihm freiwillig immer weiter verlängert wird, schreibt Siggi nun über seine Kindheit und Jugend, die gerade unter dem Zeichen der „Pflicht“ stand. Siggi Jepsens Vater war nämlich der „nördlichste Polizeiposten Deutschlands“ in dem schleswig-holsteinischen Dorf Rugbüll. Jens Ole Jepsen erhält 1943 von der nationalsozialistischen Obrigkeit den Auftrag, gegen den [[Expressionismus|expressionistischen]] Maler Max Ludwig Nansen ein Malverbot auszusprechen und dieses Verbot zu überwachen. Obwohl Jepsen seit seiner Jugend mit Nansen befreundet ist und dieser ihm sogar einmal das Leben gerettet hat, kommen ihm keinerlei Zweifel an seiner Pflicht, diese Anordnungen rigoros zu befolgen. Als er seinen zu dieser Zeit zehnjährigen Sohn Siggi dazu anstiften will, den Maler zu bespitzeln, bringt er ihn damit in einen Gewissenskonflikt, denn Nansens Atelier ist für Siggi wie ein zweites Zuhause. Er beschließt, seinem Vater nicht zu gehorchen, und hilft stattdessen Nansen beim Verstecken von Bildern.


Siggis Vater ist von fanatischer Pflichterfüllung angetrieben, weniger von der nationalsozialistischen Ideologie, im Unterschied zu seiner Frau, die, wie gelegentlich zum Ausdruck kommt, vollkommen vom Nationalsozialismus überzeugt ist. Als Siggis Bruder Klaas sich selbst verstümmelt, um nicht weiter Kriegsdienst leisten zu müssen, wird er von seinen Eltern verstoßen – nur mit Glück und der Hilfe von Nansen kann er den Krieg überleben.
Siggis Vater ist von fanatischer Pflichterfüllung angetrieben, weniger von der nationalsozialistischen Ideologie, im Unterschied zu seiner Frau, die, wie gelegentlich zum Ausdruck kommt, vollkommen vom Nationalsozialismus überzeugt ist. Als Siggis Bruder Klaas sich selbst verstümmelt, um nicht weiter Kriegsdienst leisten zu müssen, wird er von seinen Eltern verstoßen – nur mit Glück und der Hilfe von Nansen kann er den Krieg überleben.


Selbst nach Kriegsende kommen Jepsen keine Zweifel, im Gegenteil, er beharrt auf der Überzeugung, dass es weiterhin seine Pflicht sei, Nansens Bilder zu vernichten. Hierbei kommen ihm gelegentliche Anflüge des „zweiten Gesichts“ zuhilfe. Als die alte Mühle, in der Siggi einige von Nansens Bildern untergebracht hat, in Flammen aufgeht, nimmt Siggi an, sein Vater habe das Bilderversteck entdeckt und in Brand gesetzt. Siggi steigert sich nun in den Wahn hinein, Nansens Bilder vor seinem Vater „retten“ zu müssen. Er wird so zum Kunstdieb, was schließlich zu seiner Verhaftung und der Einlieferung in die Besserungsanstalt führt.
Selbst nach Kriegsende kommen Jepsen keine Zweifel, im Gegenteil, er beharrt auf der Überzeugung, dass es weiterhin seine Pflicht sei, Nansens Bilder zu vernichten. Hierbei kommen ihm gelegentliche Anflüge des „zweiten Gesichts“ zuhilfe. Als die alte Mühle, in der Siggi einige von Nansens Bildern untergebracht hat, in Flammen aufgeht, nimmt Siggi an, sein Vater habe das Bilderversteck entdeckt und in Brand gesetzt. Siggi steigert sich nun in einen Wahn hinein, Nansens Bilder vor seinem Vater „retten“ zu müssen. Er wird so zum Kunstdieb, was schließlich zu seiner Verhaftung und der Einlieferung in die Besserungsanstalt führt.

== Form und Erzählperspektive ==

Siegfried Lenz’ Roman ''Deutschstunde'' ist eine [[Rahmenerzählung]]. Die Erzählgegenwart Siggi Jepsens im Erziehungsheim in den Jahren 1952 bis 1954 bildet den Rahmen, seine in [[Analepse|Rückblenden]] erinnerte Vergangenheit der Jahre 1943 bis 1945 die [[Binnenhandlung]].<ref>Wilhelm Große: ''Siegfried Lenz: Deutschstunde'', S. 34–35.</ref> Während sich sowohl [[Erzählzeit]] als auch erzählte Zeit über einen längeren Zeitraum erstrecken und das Verfließen der Zeit ein ständig präsentes Motiv ist (etwa durch die Blicke auf die Elbe), ist der Erzählort extrem eingeengt: in einem abgeschlossenen Zimmer einer Anstalt, die sich wiederum auf einer Insel befindet. Nur in der Erinnerung ist dem Protagonisten eine gedankliche Mobilität möglich. Sowohl die Erziehungsanstalt als auch das Dorf Rugbüll sind Modellorte. [[Winfried Freund]] bezeichnet das Dorf „im Abseits von Gesellschaft und Geschichte“ als „Provinz schlechthin“ und „Modell für akut verengtes Leben“.<ref>Winfried Freund: ''Siegfried Lenz: Deutschstunde'', S. 216–217, 222.</ref>

Der Roman wird in der [[Ich-Form]] berichtet. Er nimmt die Perspektive Siggi Jepsens ein und bedient sich Ausdrucksformen der [[Jugendsprache]], salopper Anreden und erkennbarer Übertreibungen. Lenz sprach selbst von [[Rollenprosa]]. Kontrastiert wird der jugendliche Ich-Erzähler durch den wissenschaftlich-trockenen [[Nominalstil]] und die Fachtermini der Diplomarbeit Mackenroths, die immer wieder in den Roman montiert ist. Ein weiteres Element von [[Multiperspektivität]] liegt in der Dopplung der Perspektive Siggi Jepsens vor, dem Kontrast zwischen der [[Froschperspektive]] des zehnjährigen Siggis in der Erzählvergangenheit und der kommentierenden [[Vogelperspektive]] des nahezu Volljährigen in der Erzählgegenwart. Der Vorgang des Erzählens bleibt dem Leser durch Einschübe des erzählenden Protagonisten stets präsent. Die Erinnerung selbst hingegen ist fragmentarisch, bruchstückhaft und häufig vom Zufall bestimmt, was sich laut Wilhelm Große auch „in der losen Fügung der einzelnen Kapitel widerspiegelt“.<ref>Wilhelm Große: ''Siegfried Lenz: Deutschstunde'', S. 62–64, 69–71, 75.</ref>

== Interpretation ==

=== Titel und Hintergrund ===

[[Datei:WP Emil Nolde.jpg|mini|hochkant|[[Emil Nolde]] auf einem Porträtfoto von 1929]]

Der Titel ''Deutschstunde'' verweist auf den Aufsatz, der Siggi Jepsen in der Erziehungsanstalt verordnet wird. Das Aufsatzthema „Die Freuden der Pflicht“ reicht über eine Funktion des [[Deutschunterricht]]s als Unterweisung in die deutsche Sprache und Literatur hinaus und will eine charakterliche Erziehung und Wertevermittlung erzielen. Solche Art von [[Besinnungsaufsatz|Besinnungsaufsätzen]] waren gerade in der [[Zeit des Nationalsozialismus]] ein beliebtes Mittel der ideologischen Unterweisung. Als so genannte freie [[Erörterung]]en haben sie jedoch auch nach 1945 ihren Platz im Schulunterricht behalten. Gleichzeitig ist die ''Deutschstunde'' jedoch auch eine [[Geschichtsunterricht|Geschichtsstunde]] über [[Geschichte Deutschlands|deutsche Geschichte]] und „typisch deutsche“ Eigenschaften wie etwa den hohen Stellenwert des ethischen Prinzips der [[Pflicht]]. So gehörte nicht zuletzt ein falsch verstandenes Pflichtbewusstsein zu jenen [[Preußische Tugenden|deutschen Tugenden]], die den Nationalsozialismus und seine Folgen erst möglich machten.<ref>Wilhelm Große: ''Siegfried Lenz: Deutschstunde'', S. 83–85.</ref>

Die Figur des Malers Max Ludwig Nansen ist dem [[Expressionismus|Expressionisten]] [[Emil Nolde]] nachempfunden, der mit Geburtsnamen „Hansen“ hieß und in [[Seebüll]] im Norden [[Schleswig-Holstein]]s lebte. Noldes Bilder wurden von den Nationalsozialisten als sogenannte „[[Entartete Kunst|entartete Kunst]]“ verfemt und beschlagnahmt. Nachdem er 1941 mit einem [[Berufsverbot (Deutschland)|Berufsverbot]] belegt worden war, entstanden heimlich seine sogenannten „[[Ungemalte Bilder|ungemalten Bilder]]“. Das Bild ''Der Mann im roten Mantel'', das im Roman eine zentrale Stellung in Nansens Werk einnimmt, erinnert an Noldes Bild ''Trio'', in dem ebenfalls ein Mann – allerdings in einem gelben Mantel – einen Handstand vorführt. Die Vornamen Max und Ludwig verweisen auf zwei weitere expressionistische Künstler, die im Dritten Reich verfolgt wurden: [[Max Beckmann]] und [[Ernst Ludwig Kirchner]].<ref>Winfried Freund: ''Siegfried Lenz: Deutschstunde'', S. 229, 232.</ref>

=== Pflicht ===

Im Mittelpunkt der ''Deutschstunde'', wie auch in anderen Werken Siegfried Lenz’, steht der [[Pflicht]]begriff, die Fragen nach den Grenzen der Pflicht und dem Widerspruch von Pflichterfüllung und individuellem [[Verantwortungsgefühl|Verantwortungsbewusstsein]], der in den beiden Antagonisten Jens Ole Jepsen und Max Ludwig Nansen einander gegenübergestellt wird. Der Polizist Jepsen ist der Prototyp des pflichtbewussten und gehorsamen, dabei demokratieunfähigen [[Kleinbürger]]s, der wesentlich zur Machtergreifung und -ausübung der Nationalsozialisten beigetragen hat. Er handelt nach den Maximen „Befehl ist Befehl“ und „Ich tue nur meine Pflicht“ und kennt in seiner Pflichterfüllung und Autoritätshörigkeit keine Grenzen, so dass er zum unmenschlichen Vollstrecker der Diktatur wird. Selbst nach Ende des Dritten Reiches ist er nicht in der Lage, die einmal anerkannte Pflicht zu korrigieren und bleibt ein unbelehrbarer Prinzipienreiter. Bestärkt wird er durch seine Frau Gudrun, die in ihrer Ablehnung alles Fremden und Neuen die typischen Eigenschaften eines [[Spießbürger]]s zeigt.

Im Gegensatz zu ihnen steht der Maler Nansen, der keine Autorität anerkennt und die Maxime seines Handelns ausschließlich aus seinen eigenen Überzeugungen und seinem Verantwortungsgefühl ableitet. Pflicht, wie Jepsen sie versteht, ist für ihn nur „blinde Anmaßung“, der Widerstand dagegen unvermeidlich, um seine individuelle künstlerische Selbstentfaltung zu gewährleisten. Siggi Jepsen, vor die Wahl zwischen diesen beiden Antipoden gestellt, entscheidet sich aus Sympathie für den Maler Nansen und entwickelt unter dem Eindruck des manisch-übersteigerten Pflichtbewusstseins seines Vaters bald sein eigenes Pflichtgefühl, das ihn zur Rettung der Bilder des Malers bewegt. Das ihm gestellte Aufsatzthema „Die Freuden der Pflicht“ zeigt, wie stark das vom Vater verkörperte Pflichtideal auch nach 1945 in der Gesellschaft verankert blieb.<ref>Wilhelm Große: ''Siegfried Lenz: Deutschstunde'', S. 86–92, 117–119.</ref>

=== Zeit-, Entwicklungs-, Künstlerroman ===

Durch die verschiedenen Zeitebenen verknüpft Lenz einen [[Zeitroman]], die Darstellung der ideologischen Verstrickungen in der Zeit des Nationalsozialismus, mit einem [[Bildungsroman|Bildungs]]- oder [[Entwicklungsroman]], der geistigen Entwicklung des jugendlichen Siggi Jepsens an der Schwelle seiner Volljährigkeit. Erst das Durchdringen der beiden Zeitebenen, die Gleichzeitigkeit von erlebter Geschichte und reflektierender Gegenwart im Sinne einer [[Erinnerungskultur|Erinnerungsarbeit]] ermöglicht die Bewältigung der Vergangenheit und den Aufbruch in die Zukunft. Winfried Freund formuliert: „Rückblickend schaut der Erzähler vorwärts. Aus den Fragen des Gestern entwickeln sich die Antworten für das Morgen. […] Verstehen der Vergangenheit ist die Bedingung für verständiges Handeln in der Zukunft.“ ''Deutschstunde'' erweist sich aber auch als ein moderner [[Künstlerroman]], der in der Figur Siggi Jepsens das Entstehen eines Schriftstellers aus der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zeigt. Den Kontrapunkt zu Siggi Jepsens persönlicher Erinnerungsarbeit bildet die Perspektive des Psychologen Wolfgang Mackenroth, dessen objektiv-wissenschaftlicher Untersuchung die persönliche Betroffenheit und das subjektive Erleben fehlt. Die Studie des Psychologen macht aus dem Jugendlichen ein bloßes „Demonstrationsobjekt“.

Der [[Schluss (Literatur)|offene Schluss]] steht im Gegensatz zur gebildeten Persönlichkeit im klassischen Bildungsroman. Es bleibt eine Skepsis gegen jegliche traditionelle Werte und Normen. An deren Stelle tritt die offene Annahme des „Wagnis des Lebens“, die [[Initiation]] des Eintritts in die Freiheit ohne vorgefertigte Antworten und Konzepte. Dennoch zeigt sich im Ende für Winfried Freund auch „der verhaltene [[Optimismus]] des [[Humanismus|humanen]] Realisten, der den Menschen wieder eine Chance gibt“, wenn sie Parteien und Programmen sowie pedantischer Pflichterfüllung misstrauen und sich gegenüber der Möglichkeit einer besseren Zukunft öffnen. So sieht Freund den Erfolg der ''Deutschstunde'' nicht zuletzt darin begründet, dass sie zu den wenigen Romanen der Gegenwart zählt, die einen hoffnungsvollen Ausblick in die Zukunft wagen, indem der Autor „Zeit- und Entwicklungsroman, geschichtliche Auseinandersetzung und persönlichen Lernprozeß miteinander verknüpft.“<ref>Winfried Freund: ''Siegfried Lenz: Deutschstunde'', S. 215–222, 236–237.</ref>

== Rezeption ==

[[Datei:Bundesarchiv B 145 Bild-F030758-0018, Bonn, Landesvertretung Hamburg, Dichterlesung Lenz.jpg|mini|[[Siegfried Lenz]] liest in Bonn (1969)]]
Siegfried Lenz’ Roman ''Deutschstunde'' wurde zu einem der größten belletristischen Verkaufserfolge in Deutschland nach 1945.<ref>Winfried Freund: ''Siegfried Lenz: Deutschstunde'', S. 213.</ref> Der Roman, an dem der Autor vier Jahre gearbeitet hatte, erschien 1968 zur [[Frankfurter Buchmesse]] und mitten in die Zeit der [[Westdeutsche Studentenbewegung der 1960er Jahre|Studentenunruhen 1968]] hinein, was ihm eine besondere Aufmerksamkeit verlieh. Innerhalb kurzer Zeit verkaufte der Verlag [[Hoffmann und Campe]] 250.000 Exemplare.<ref>Wilhelm Große: ''Siegfried Lenz: Deutschstunde'', S. 16–17.</ref> Am 16. Dezember 1968 erreichte der Roman Platz 1 der [[Bestsellerliste]] des ''[[Der Spiegel|Spiegel]]''<ref>{{Der Spiegel|ID=45865164|Titel=Belletristik, Sachbücher|Jahr=1968|Nr=51 |Seiten=158}}</ref>, auf der er sich die nächsten Monate hielt. Noch in der Jahresliste des Folgejahres belegte er mit großem Abstand den ersten Rang.<ref>{{Der Spiegel|ID=45226224|Titel=Bestseller 1969|Jahr=1970|Nr=1|Seiten=90}}</ref> Nachdem das Buch in mehr als 20 Sprachen übersetzt worden war, erhielt Lenz von seinem Verleger als Anerkennung ein [[Aquarell]] Emil Noldes.<ref>[[Jörg Magenau]]: ''Schmidt – Lenz. Geschichte einer Freundschaft''. Hoffmann und Campe, Hamburg 2014, ISBN 978-3-455-50314-2, S. 49.</ref>

Die Aufnahme in der Literaturkritik war wohlwollend, aber verhalten. Dem moralischen Engagement und handwerklichen Können des Autors wurde ein geringer künstlerischer Wert des Werks gegenübergestellt. Stimmen wie Günther Just, laut dem Lenz mit seinem Roman „zu weltliterarischem Rang aufrückte“, blieben in der Minderheit. [[Werner Weber (Journalist)|Werner Weber]] las ein „Meisterwerk […], dessen Ernst voller Trauer ist – wie es nur bei einem Beobachter sein mag, der Humor hat.“<ref>[[Werner Weber (Journalist)|Werner Weber]]: ''[http://www.zeit.de/1968/38/rugbuell-zum-beispiel/komplettansicht Rugbüll zum Beispiel]''. In: ''[[Die Zeit]]'' vom 20. September 1968.</ref> Peter Laemmle beschrieb den Roman in ''[[Kindlers Literatur Lexikon]]'' als „literarische [[Vergangenheitsbewältigung]]“, in der Lenz „mehr mit moralischen als mit politischen Kriterien“ hantiere, wobei er die epische Ausuferung und das „Schema von Gut und Böse“ kritisierte. Laut [[Harro Zimmermann]] im [[Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur|Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur]] dämonisierte Lenz „das Alltäglich-Banale am Faschismus eher zum Bösartigen, als dass er seine Entstehung erklären könnte.“ Er sah die Gefahr, die Mitläufer des Nationalsozialismus zu entlasten, indem Schuld lediglich „an pathologischen Fällen wie dem pflichtversessenen Polizisten Jepsen“ festgemacht werde. Hartmut Pätzold kritisierte ganz allgemein die „Privatisierung der dargestellten gesellschaftlichen Vorgänge“, während [[Hans Wagener (Germanist)|Hans Wagener]] gerade die „enge Verbindung von Provinzlertum und Ideologie des Dritten Reiches“ begrüßte, durch die Rugbüll zur „[[Metapher]] für Deutschland“ werde.<ref>Zitate nach: Wilhelm Große: ''Siegfried Lenz: Deutschstunde'', S. 101–107.</ref>

Durch die Taschenbuchausgabe fand der Roman bald den Weg in den Schulunterricht und etablierte sich laut Wilhelm Große „zum Schulklassiker des Deutschunterrichts“. Für Manfred Lauffs ist der Roman bereits durch seinen Titel prädestiniert für einen „‚Favoriten‘ der Schullektüre“, da er den Schulunterricht an sich thematisiere und in den Erlebnissen Siggi Jepsens „Identifikations-, Vergleichs- und Distanzierungsmöglichkeiten in großer Zahl“ anbiete. Zudem erteile die Lektüre in einer objektiv-darstellenden und didaktischen Form „eine Lektion über Deutschland, deutsche Geschichte, deutsche Pflichtauffassung, deutsche Verhängnisse und deutsche Schuld“.<ref>Zitiert nach: Wilhelm Große: ''Siegfried Lenz: Deutschstunde'', S. 16, 111–112.</ref>

Vor dem Hintergrund des Verhaltens Emil Noldes während des Dritten Reiches, seiner mehrfach geäußerten Bewunderung für den Nationalsozialismus und seines [[Antisemitismus]], entfachte [[Jochen Hieber]] 2014 eine Debatte in den Feuilletons über Lenz’ Roman, seine Authentizität und Wirkungsgeschichte. So habe etwa das gegen Nansen ausgesprochene „Malverbot“ im Roman auf eine Verklärung des realen Nolde ausgestrahlt, obwohl diesem nur der Verkauf seiner Arbeiten untersagt gewesen sei. Ebenso sei die biografische Skizze Mackenroths im Roman im Vergleich zum Vorbild Nolde deutlich „veredelt“ worden.<ref>[[Jochen Hieber]]: ''[http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/der-fall-emil-nolde-wir-haben-das-falsche-gelernt-12908490.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 Wir haben das Falsche gelernt]''. In: ''[[Frankfurter Allgemeine Zeitung]]'' vom 25. April 2014.</ref> [[Jutta Müller-Tamm]] unterstützte die Vorwürfe und erkannte im Roman „einen tendenziösen Umgang mit historischen Zusammenhängen“. [[Willi Winkler (Autor)|Willi Winkler]] hingegen spottete, dass „Literaturwissenschaftler Hieber schon mal vom Unterschied zwischen einer realen und einer fiktiven Figur gehört haben“ sollte.<ref>''[http://www.tagesspiegel.de/kultur/debatte-um-lenz-deutschstunde-entbrannt-ein-bisschen-katastrophal/9830832.html Ein bisschen katastrophal]''. In: ''[[Der Tagesspiegel]]'' vom 1. Mai 2014.</ref> Laut [[Ulrich Greiner]] werden Deutschlehrer ihre Schüler in Zukunft noch stärker auf den Unterschied zwischen Emil Nolde und Max Ludwig Nansen aufmerksam machen müssen, was jedoch nichts daran ändere, „dass die ‚Deutschstunde‘ zu den bedeutendsten Romanen der deutschen Literatur gehört.“<ref>[[Ulrich Greiner]]: ''[http://www.zeit.de/2014/19/siegfried-lenz-deutschstunde-emil-nolde-braune-vergangenheit Emil Nolde und Siegfried Lenz]''. In: ''[[Die Zeit]]'' vom 30. April 2014.</ref> Philipp Theisohn sieht immerhin die Möglichkeit einer geänderten Lektürehaltung, da dem Roman – ganz im Gegensatz zu den einschlägigen Lektürehilfen – „die Verwandlung des eigenen Deutungshorizonts, die damit einhergehende Veränderung des Lichteinfalls und das Erhellen wie Verdunkeln der Figuren so tief eingeschrieben“ sei wie wenig anderen Texten des 20. Jahrhunderts.<ref>Philipp Theisohn: ''[http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/verblendungen-1.18299495 Verblendungen]''. In: ''[[Neue Zürcher Zeitung]]'' vom 10. Mai 2014.</ref>

== Adaptionen und Nachlass ==

[[Peter Beauvais]] verarbeitete den Roman-Stoff 1971 zum zweiteiligen [[Fernsehfilm]] ''[[Deutschstunde (Film)|Deutschstunde]]''.


Der [[Hessischer Rundfunk|Hessische Rundfunk]] veranstaltete vom 9. bis 17. April 1999 eine öffentliche Lesung des Dichters in [[Frankfurt am Main]] in 19 Stunden.
Der [[Hessischer Rundfunk|Hessische Rundfunk]] veranstaltete vom 9. bis 17. April 1999 eine öffentliche Lesung des Dichters in [[Frankfurt am Main]] in 19 Stunden.

Die erste autorisierte Bühnenfassung von [[Stefan Zimmermann (Regisseur)|Stefan Zimmermann]] wurde am 4. November 2014 in [[Lahr/Schwarzwald|Lahr]] durch das [[A.gon Theaterproduktion|a.gon Theater München]] uraufgeführt. Florian Stohr spielte Siggi Jepsen, den Maler Max Ludwig Nansen stellte [[Max Volkert Martens]] dar.<ref>[http://www.a-gon.de/profil/index.php?pr=000001&id=375&katid=10&brid=102&nav=aktuell ''Deutschstunde''], a-gon.de, abgerufen am 15. Oktober 2014</ref>

Lenz’ [[Nachlass]] liegt im [[Deutsches Literaturarchiv Marbach|Deutschen Literaturarchiv Marbach]].<ref>[http://www.tagesspiegel.de/kultur/grosse-trauerfeier-fuer-siegfried-lenz-geplant-hamburg-verabschiedet-sich-von-seinem-ehrenbuerger/10811900.html Bericht im Tagesspiegel.]</ref> Teile davon sind im [[Literaturmuseum der Moderne]] in Marbach in der Dauerausstellung zu sehen, insbesondere das Manuskript zu ''Deutschstunde''.<ref>[http://www.dla-marbach.de/presse/pressefotos/neueroeffnung-der-dauerausstellung-die-seele/ Pressefotos der neuen Ausstellung.]</ref>


== Ausgaben ==
== Ausgaben ==

* Siegfried Lenz: ''Deutschstunde''. [[Hoffmann und Campe]], Hamburg, Erstausgabe 1968, ISBN 3-455-04211-2; NA: 2006, ISBN 978-3-455-40035-9 (= ''Die Bibliothek des Nordens'').
* Siegfried Lenz: ''Deutschstunde''. [[Hoffmann und Campe]], Hamburg, Erstausgabe 1968, ISBN 3-455-04211-2; NA: 2006, ISBN 978-3-455-40035-9 (= ''Die Bibliothek des Nordens'').
* Siegfried Lenz: ''Deutschstunde''. [[Deutscher Taschenbuch Verlag|dtv]], München 2006, ISBN 3-423-13411-9.
* Siegfried Lenz: ''Deutschstunde''. [[Deutscher Taschenbuch Verlag|dtv]], München 2006, ISBN 3-423-13411-9.
* Siegfried Lenz: ''Deutschstunde / So zärtlich war Suleyken''. [[Autorenlesung]], Universal Music, Berlin 2004, ISBN 3-8291-1424-9.
* Siegfried Lenz: ''Deutschstunde / So zärtlich war Suleyken''. [[Autorenlesung]], Universal Music, Berlin 2004, ISBN 3-8291-1424-9.

== Verfilmung ==
[[Peter Beauvais]] verarbeitete den Roman-Stoff 1971 zum zweiteiligen [[Fernsehfilm]] ''[[Deutschstunde (Film)|Deutschstunde]]''.

== Bühnenadaption ==
Erste autorisierte Bühnenfassung von [[Stefan Zimmermann (Regisseur)|Stefan Zimmermann]], Uraufführung am 4. November 2014 in [[Lahr/Schwarzwald|Lahr]] durch das [[a.gon Theater München]]. Florian Stohr ist Siggi Jepsen, den Maler Max Ludwig Nansen spielt [[Max Volkert Martens]].<ref>[http://www.a-gon.de/profil/index.php?pr=000001&id=375&katid=10&brid=102&nav=aktuell ''Deutschstunde''], a-gon.de, abgerufen am 15. Oktober 2014</ref>


== Sekundärliteratur ==
== Sekundärliteratur ==
* Wolfgang Beutin: ''"Deutschstunde" von Siegfried Lenz. Eine Kritik.'' Hartmut Lüdke Verlag, Hamburg 1970

* Wolfgang Beutin: ''„Deutschstunde“ von Siegfried Lenz. Eine Kritik.'' Hartmut Lüdke Verlag, Hamburg 1970.
* André Brandenburg: ''Siegfried Lenz, Deutschstunde.'' Beyer, Hollfeld 1997, ISBN 3-88805-512-1 (=&nbsp;Blickpunkt – Text im Unterricht; 512).
* André Brandenburg: ''Siegfried Lenz, Deutschstunde.'' Beyer, Hollfeld 1997, ISBN 3-88805-512-1 (=&nbsp;Blickpunkt – Text im Unterricht; 512).
* Theo Elm: ''Siegfried Lenz, Deutschstunde. Engagement und Realismus im Gegenwartsroman''. Fink, München 1974.
* Wilhelm Große: ''Siegfried Lenz: Deutschstunde.'' Königs Erläuterungen und Materialien, Bd.&nbsp;92. C.&nbsp;Bange Verlag, Hollfeld 2003, ISBN 978-3-8044-1757-1.
* Winfried Freund: ''Siegfried Lenz: Deutschstunde.'' In: ''Interpretationen. Romane des 20. Jahrhunderts. Band 2.'' Reclam, Stuttgart 1993, ISBN 3-15-008809-7, S. 212–240.
* Wilhelm Große: ''Siegfried Lenz: Deutschstunde.'' Königs Erläuterungen und Materialien, Bd.&nbsp;92. C.&nbsp;Bange Verlag, Hollfeld 2014, ISBN 978-3-8044-1933-9.
* Fred Müller: ''Siegfried Lenz, Deutschstunde. Interpretation.'' Oldenbourg, München 1996, ISBN 3-486-88679-7 (=&nbsp;Oldenbourg-Interpretationen; 80).
* Fred Müller: ''Siegfried Lenz, Deutschstunde. Interpretation.'' Oldenbourg, München 1996, ISBN 3-486-88679-7 (=&nbsp;Oldenbourg-Interpretationen; 80).
* Albrecht Weber: ''Siegfried Lenz, Deutschstunde. Interpretation''. Mit Beiträgen von Birgit Alt und Hendrik Rickling. Oldenbourg, München 1973
* Martin Neubauer: ''Siegfried Lenz, Deutschstunde.'' Mentor-Verl., München 2000, ISBN 3-580-63342-2 (=&nbsp;Mentor-Lektüre-Durchblick; 342).
* Vladimir Tumanov: ''[http://www.springerlink.com/content/3073813h7842248m/?p=00c7969943fa42e782e6637d9df638e4&pi=8#ContactOfAuthor1 Stanley Milgram and Siegfried Lenz: An Analysis of “Deutschstunde” in the Framework of Social Psychology.]'' Neophilologus: International Journal of Modern and Mediaeval Language and Literature 91 (1) 2007, S.&nbsp;135–148.
* Albrecht Weber: ''Siegfried Lenz, Deutschstunde : Interpretation''. Mit Beitr. von Birgit Alt und Hendrik Rickling. München : Oldenbourg 1973


== Weblinks ==
== Weblinks ==
*{{Wiktionary|Deutschstunde}}

*{{DNB-Portal|4252344-8|TYP=Literatur über|Siegfried Lenz: ''Deutschstunde''}}
*{{DNB-Portal|4252344-8|TYP=Literatur über|Siegfried Lenz: ''Deutschstunde''}}


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==

<references/>
<references/>


[[Kategorie:Werk von Siegfried Lenz]]
[[Kategorie:Literarisches Werk]]
[[Kategorie:Literarisches Werk]]
[[Kategorie:Literatur (20. Jahrhundert)]]
[[Kategorie:Literatur (20. Jahrhundert)]]
[[Kategorie:Literatur (Deutsch)]]
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[[Kategorie:Roman, Epik]]
[[Kategorie:Roman, Epik]]
[[Kategorie:Werk von Siegfried Lenz]]
[[Kategorie:Emil Nolde]]
[[Kategorie:Emil Nolde]]

Version vom 17. Juni 2016, 10:16 Uhr

Umschlag der Erstausgabe, 1968

Der Roman Deutschstunde von Siegfried Lenz erschien 1968. Lenz bringt in diesem Werk das zentrale Thema der deutschen Nachkriegsliteratur auf den Punkt: Die Verquickung von Schuld und Pflicht in der Zeit des Nationalsozialismus. Die oft gehörte Entschuldigung, man habe ja nur „seine Pflicht getan“, wird hier kritisch durchleuchtet.

Formal ist der Roman in zwei verschiedene Zeitebenen strukturiert: Die erste Ebene ist die Gegenwart des Ich-Erzählers Siggi Jepsen, die zweite Ebene ist Siggis „Aufsatz“, in dem er in Rückblenden seine Geschichte erzählt. Hinzu kommen außerdem gelegentliche Perspektivwechsel durch psychologische Studien über Siggi, die von ihm gelesen und skeptisch kommentiert werden.

Inhalt

Siegfried Lenz liest in Bonn (1969)

Siggi Jepsen, Insasse einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche (angelehnt an die Jugendstrafanstalt Hahnöfersand), bekommt in einer Deutschstunde das Aufsatzthema „Die Freuden der Pflicht“ gestellt und scheitert daran: Er gibt ein leeres Heft ab. Der Grund für sein Scheitern liegt jedoch darin, dass er zu diesem Thema zu viel zu sagen hat – im Arrest, der von ihm freiwillig immer weiter verlängert wird, schreibt Siggi nun über seine Kindheit und Jugend, die gerade unter dem Zeichen der „Pflicht“ stand. Siggi Jepsens Vater war nämlich der „nördlichste Polizeiposten Deutschlands“ in dem schleswig-holsteinischen Dorf Rugbüll. Jens Ole Jepsen erhält 1943 von der nationalsozialistischen Obrigkeit den Auftrag, gegen den expressionistischen Maler Max Ludwig Nansen (für diese Romanfigur diente Emil Nolde als Vorbild) ein Malverbot auszusprechen und dieses Verbot zu überwachen. Obwohl Jepsen seit seiner Jugend mit Nansen befreundet ist und dieser ihm sogar einmal das Leben gerettet hat, kommen ihm keinerlei Zweifel an seiner Pflicht, diese Anordnungen rigoros zu befolgen. Als er seinen zu dieser Zeit zehnjährigen Sohn Siggi dazu anstiften will, den Maler zu bespitzeln, bringt er ihn damit in einen Gewissenskonflikt, denn Nansens Atelier ist für Siggi wie ein zweites Zuhause. Er beschließt, seinem Vater nicht zu gehorchen, und hilft stattdessen Nansen beim Verstecken von Bildern.

Siggis Vater ist von fanatischer Pflichterfüllung angetrieben, weniger von der nationalsozialistischen Ideologie, im Unterschied zu seiner Frau, die, wie gelegentlich zum Ausdruck kommt, vollkommen vom Nationalsozialismus überzeugt ist. Als Siggis Bruder Klaas sich selbst verstümmelt, um nicht weiter Kriegsdienst leisten zu müssen, wird er von seinen Eltern verstoßen – nur mit Glück und der Hilfe von Nansen kann er den Krieg überleben.

Selbst nach Kriegsende kommen Jepsen keine Zweifel, im Gegenteil, er beharrt auf der Überzeugung, dass es weiterhin seine Pflicht sei, Nansens Bilder zu vernichten. Hierbei kommen ihm gelegentliche Anflüge des „zweiten Gesichts“ zuhilfe. Als die alte Mühle, in der Siggi einige von Nansens Bildern untergebracht hat, in Flammen aufgeht, nimmt Siggi an, sein Vater habe das Bilderversteck entdeckt und in Brand gesetzt. Siggi steigert sich nun in einen Wahn hinein, Nansens Bilder vor seinem Vater „retten“ zu müssen. Er wird so zum Kunstdieb, was schließlich zu seiner Verhaftung und der Einlieferung in die Besserungsanstalt führt.

Der Hessische Rundfunk veranstaltete vom 9. bis 17. April 1999 eine öffentliche Lesung des Dichters in Frankfurt am Main in 19 Stunden.

Ausgaben

Verfilmung

Peter Beauvais verarbeitete den Roman-Stoff 1971 zum zweiteiligen Fernsehfilm Deutschstunde.

Bühnenadaption

Erste autorisierte Bühnenfassung von Stefan Zimmermann, Uraufführung am 4. November 2014 in Lahr durch das a.gon Theater München. Florian Stohr ist Siggi Jepsen, den Maler Max Ludwig Nansen spielt Max Volkert Martens.[1]

Sekundärliteratur

  • Wolfgang Beutin: "Deutschstunde" von Siegfried Lenz. Eine Kritik. Hartmut Lüdke Verlag, Hamburg 1970
  • André Brandenburg: Siegfried Lenz, Deutschstunde. Beyer, Hollfeld 1997, ISBN 3-88805-512-1 (= Blickpunkt – Text im Unterricht; 512).
  • Wilhelm Große: Siegfried Lenz: Deutschstunde. Königs Erläuterungen und Materialien, Bd. 92. C. Bange Verlag, Hollfeld 2003, ISBN 978-3-8044-1757-1.
  • Fred Müller: Siegfried Lenz, Deutschstunde. Interpretation. Oldenbourg, München 1996, ISBN 3-486-88679-7 (= Oldenbourg-Interpretationen; 80).
  • Martin Neubauer: Siegfried Lenz, Deutschstunde. Mentor-Verl., München 2000, ISBN 3-580-63342-2 (= Mentor-Lektüre-Durchblick; 342).
  • Vladimir Tumanov: Stanley Milgram and Siegfried Lenz: An Analysis of “Deutschstunde” in the Framework of Social Psychology. Neophilologus: International Journal of Modern and Mediaeval Language and Literature 91 (1) 2007, S. 135–148.
  • Albrecht Weber: Siegfried Lenz, Deutschstunde : Interpretation. Mit Beitr. von Birgit Alt und Hendrik Rickling. München : Oldenbourg 1973

Einzelnachweise

  1. Deutschstunde, a-gon.de, abgerufen am 15. Oktober 2014