„Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ – Versionsunterschied

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Im Leben des Schriftstellers Jean Daragane bestehen eines Tages zwei ihm unbekannte junge Leute darauf, ihn persönlich kennenzulernen. Sie geben vor, im Restaurant des Bahnhofs von [[Lyon]]<ref name="franceculture">Alexandre Astier in: Alexandre Astier, Nathalie Crom (''Télérama'') und Laurent Nunez (''Marianne''), [http://www.franceculture.fr/emission-la-dispute-litterature-rien-que-la-vie-et-pour-que-tu-ne-te-perdes-pas-dans-le-quartier-201 Littérature : ''Rien que la vie'' et ''Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier''], ''franceculture.fr'', 3. Oktober 2014</ref> sein Adressbuch gefunden zu haben, was dazu führt, dass er sich mit ihnen in einem Café in der Nähe des Boulevard Haussmann trifft. Nahezu gegen seinen Willen wird er in deren Nachforschungen bezüglich eines gewissen Guy Torstel verwickelt.<ref name="franceculture">Alexandre Astier, Nathalie Crom (''Télérama'') und Laurent Nunez (''Marianne''), [http://www.franceculture.fr/emission-la-dispute-litterature-rien-que-la-vie-et-pour-que-tu-ne-te-perdes-pas-dans-le-quartier-201 Littérature : ''[[Liebes Leben|Rien que la vie]]'' et ''Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier''], ''franceculture.fr'', 3. Oktober 2014</ref> Dieser Name komme sowohl in ihren Unterlagen als auch in Daraganes Adressbuch vor, sagt Gilles Ottolini und will wissen, ob Daragane diesen Torstel kennt. Aber der erinnert sich nicht.<ref name="tdg" /> Ottolonis misteriöse<ref name="tdg" /> Gefährtin Chantal Grippay versucht den Schriftsteller dazu zu bringen, ihrem Freund dabei zu helfen, ein Buch zu schreiben, und trifft sich zu diesem Zweck heimlich mit ihm. Daragane vermutet, dass es nur angeblich heimlich ist, und findet heraus, dass es die Firma gar nicht gibt, bei der Ottolini laut Chantal arbeitet. Daragane stellt für sich fest, dass Chantal ihn an eine frühere Freundin gleichen Namens erinnert.
Im Leben des Schriftstellers Jean Daragane, der jahrelang sorgsam versucht hatte, sich von allem abzuschirmen<ref name="elle" />, bestehen eines Tages zwei ihm unbekannte junge Leute darauf, ihn persönlich kennenzulernen. Sie geben vor, im Restaurant des Bahnhofs von [[Lyon]]<ref name="franceculture">Alexandre Astier in: Alexandre Astier, Nathalie Crom (''Télérama'') und Laurent Nunez (''Marianne''), [http://www.franceculture.fr/emission-la-dispute-litterature-rien-que-la-vie-et-pour-que-tu-ne-te-perdes-pas-dans-le-quartier-201 Littérature : ''Rien que la vie'' et ''Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier''], ''franceculture.fr'', 3. Oktober 2014</ref> sein Adressbuch gefunden zu haben, was dazu führt, dass er sich mit ihnen in einem Café in der Nähe des Boulevard Haussmann trifft. Nahezu gegen seinen Willen wird er in deren Nachforschungen bezüglich eines gewissen Guy Torstel verwickelt.<ref name="franceculture">Alexandre Astier, Nathalie Crom (''Télérama'') und Laurent Nunez (''Marianne''), [http://www.franceculture.fr/emission-la-dispute-litterature-rien-que-la-vie-et-pour-que-tu-ne-te-perdes-pas-dans-le-quartier-201 Littérature : ''[[Liebes Leben|Rien que la vie]]'' et ''Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier''], ''franceculture.fr'', 3. Oktober 2014</ref> Dieser Name komme sowohl in ihren Unterlagen als auch in Daraganes Adressbuch vor, sagt Gilles Ottolini und will wissen, ob Daragane diesen Torstel kennt. Aber der erinnert sich nicht.<ref name="tdg" /> Ottolonis misteriöse<ref name="tdg" /> Gefährtin Chantal Grippay versucht den Schriftsteller dazu zu bringen, ihrem Freund dabei zu helfen, ein Buch zu schreiben, und trifft sich zu diesem Zweck heimlich mit ihm. Daragane vermutet, dass es nur angeblich heimlich ist, und findet heraus, dass es die Firma gar nicht gibt, bei der Ottolini laut Chantal arbeitet. Daragane stellt für sich fest, dass Chantal ihn an eine frühere Freundin gleichen Namens erinnert. Als er sich die von Gilles erstellte Akte nach dem Weggang von Chantal ansieht, fällt ein Foto von ihm als Kind heraus. Ansonsten besitzt er selbst noch Unterlagen in einem Koffer, zu dem er den Schlüssel verloren hat.<ref name="elle" />


Schnell tauchen weitere Namen auf, weitere Ereignisse und Lokalitäten aus der Vergangenheit. Sie bringen die Gegenwart ebenso durcheinander wie das Gemüt des Erzählers.<ref name="tdg">Pascal Gavillet, [http://www.tdg.ch/culture/prix-nobel-litterature-patrick-modiano-explore-oubli-dernier-roman/story/27441230 Prix Nobel de littérature, Patrick Modiano explore l’oubli dans son dernier roman], ''tdg.ch'', 9. Oktober 2014</ref> Es gibt viele falsche Fährten und das Ganze spielt sich in drei verschiedenen Zeiten ab: in der Kindheit des Schriftstellers, als er seinen ersten Roman schreibt und als er um die Mitte 60 ist.<ref name="franceculture"/> Zudem ist nicht leicht auszumachen, wann und in welcher Reihenfolge Daragane bestimmte Personen aus seiner Vergangenheit trifft wie alt er zu dem jeweiligen Zeitpunkt ist und ob im Traum oder nicht: Annie Astrand, Guy Torstel sowie den Arzt Louis Voustraat. [[Datei:Gare_de_Saint-Leu-la-Foret_01.jpg|mini|Blick auf das Bahnhofsgebäude in Saint-Leu-la-Forêt, April 2007]] Letzterer war in Saint-Leu-la-Forêt der direkteste Nachbar einer verruchten Gruppe von Erwachsenen, mit denen Daragane zeitweise aufgewachsen ist, ohne seine Mutter. Voustraat ahnt möglicherweise, wer Daragane ist, aber dieser will sich ihm nicht zu erkennen geben und nimmt seinen Zug. Chantal und Gilles, die er im Geiste inzwischen duzt, rufen ihn nicht mehr an und tauchen auch nicht wieder als Figuren auf.
Daragane lässt sich von den Ereignissen treiben wie eine Feder im Wind.<ref name="figaro" /> Schnell tauchen weitere Namen auf, weitere Ereignisse und Lokalitäten aus der Vergangenheit. Sie bringen die Gegenwart ebenso durcheinander wie das Gemüt des Erzählers.<ref name="tdg">Pascal Gavillet, [http://www.tdg.ch/culture/prix-nobel-litterature-patrick-modiano-explore-oubli-dernier-roman/story/27441230 Prix Nobel de littérature, Patrick Modiano explore l’oubli dans son dernier roman], ''tdg.ch'', 9. Oktober 2014</ref> Es gibt viele falsche Fährten und das Ganze spielt sich in drei verschiedenen Zeiten ab: in der Kindheit des Schriftstellers, als er seinen ersten Roman schreibt und als er um die Mitte 60 ist.<ref name="franceculture"/> <ref name="elle" /> Zudem ist nicht leicht auszumachen, wann und in welcher Reihenfolge Daragane bestimmte Personen aus seiner Vergangenheit trifft wie alt er zu dem jeweiligen Zeitpunkt ist und ob im Traum oder nicht: Annie Astrand, Guy Torstel sowie den Arzt Louis Voustraat. [[Datei:Gare_de_Saint-Leu-la-Foret_01.jpg|mini|Blick auf das Bahnhofsgebäude in Saint-Leu-la-Forêt, April 2007]] Letzterer war in Saint-Leu-la-Forêt der direkteste Nachbar einer verruchten Gruppe von Erwachsenen, mit denen Daragane zeitweise aufgewachsen ist, ohne seine Mutter. Voustraat ahnt möglicherweise, wer Daragane ist, aber dieser will sich ihm nicht zu erkennen geben und nimmt seinen Zug. Chantal und Gilles, die er im Geiste inzwischen duzt, rufen ihn nicht mehr an und tauchen auch als Figuren nicht wieder auf.


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In seiner Rezension für ''[[Tribune de Genève]]'' schreibt Pascal Gavillet: Die Architektur des Romans baut darauf auf, dass Fährten gestört werden. Unklar ist, wer an dem Suchspiel beteiligt ist und womit. Alles ist komplexer als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Die Reflexionen des Erzählers mischen sich im Laufe der Geschichte so stark mit den Nachforschungen, dass man sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Der erste Satz ist ohne Subjekt: „Nahezu nichts“, womit der Wille zu Abstraktion selbstsicher zum Ausdruck gebracht wird. Hier ist kein „ich“, aber dennoch ein allwissender Erzähler, der zeitgleich mit dem Leser die Puzzleteile einer Realität entdeckt. Alles dreht sich um einen Punkt, der außerhalb dieser Fiktion selbst liegt. Der Leser wird unablässig verwirrt und man weiß nicht, woher bei der Lektüre dieses Empfinden von Leere kommt, um nicht zu sagen Panik. Zentrale Figur ist die Erinnerung und deren Abwesenheit.<ref name="tdg" />
In seiner Rezension für ''[[Tribune de Genève]]'' schreibt Pascal Gavillet: Die Architektur des Romans baut darauf auf, dass Fährten gestört werden. Unklar ist, wer an dem Suchspiel beteiligt ist und womit. Alles ist komplexer als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Die Reflexionen des Erzählers mischen sich im Laufe der Geschichte so stark mit den Nachforschungen, dass man sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Der erste Satz ist ohne Subjekt: „Nahezu nichts“, womit der Wille zu Abstraktion selbstsicher zum Ausdruck gebracht wird. Hier ist kein „ich“, aber dennoch ein allwissender Erzähler, der zeitgleich mit dem Leser die Puzzleteile einer Realität entdeckt. Alles dreht sich um einen Punkt, der außerhalb dieser Fiktion selbst liegt. Der Leser wird unablässig verwirrt und man weiß nicht, woher bei der Lektüre dieses Empfinden von Leere kommt, um nicht zu sagen Panik. Zentrale Figur ist die Erinnerung und deren Abwesenheit.<ref name="tdg" />


In der Debatte bei ''[[France Culture]]'' am 3. Oktober 2014 ist Natalie Crom hingegen der Ansicht, dass Annie Astrand die zentrale Figur des Buches ist: eine unbestimmbare, komplexe Mutterfigur, ein Phantom. Und das, obwohl auf stilistischer Ebene eine große Klarheit herrsche, die sprachlich pur und ästhetisch ausbalanciert sei. Die Hauptfigur hangelt sich bei den Nachforschungen an einzelnen Namen entlang und dieser sei der wichtigste.<ref name="franceculture" /> Im selben Gespräch bei France Culture äußert sich Laurent Nunez dahingehend, dass es hier um [[Doppelgänger|Doubles]] gehe: Gilles und Jean, Chantal und Annie seien paarweise aufeinander beziehbar, es gibt Namensänderungen, gefälschte Ausweise, unrichtige Adressen und nicht zuletzt ist Geschriebenes nicht mehr da (der erste Teil des ersten Romans von Daragane) und es wird quasi eine Rekonstruktion versucht.<ref name="franceculture" />
Für Bruno Corti hingegen, in seiner Rezension für ''[[Le Figaro]]'', laufen die Fäden bei der Figur von Annie Astrand zusammen.<ref name="figaro" /> Auch Natalie Crom, in der Debatte bei ''[[France Culture]]'' am 3. Oktober 2014, ist der Ansicht, dass Annie Astrand die zentrale Figur des Buches ist: eine unbestimmbare, komplexe Mutterfigur, ein Phantom. Und das, obwohl auf stilistischer Ebene eine große Klarheit herrsche, die sprachlich pur und ästhetisch ausbalanciert sei. Die Hauptfigur hangelt sich bei den Nachforschungen an einzelnen Namen entlang und dieser sei der wichtigste.<ref name="franceculture" /> Im selben Gespräch bei France Culture äußert sich Laurent Nunez dahingehend, dass es hier um [[Doppelgänger|Doubles]] gehe: Gilles und Jean, Chantal und Annie seien paarweise aufeinander beziehbar, es gibt Namensänderungen, gefälschte Ausweise, unrichtige Adressen und nicht zuletzt ist Geschriebenes nicht mehr da (der erste Teil des ersten Romans von Daragane) und es wird quasi eine Rekonstruktion versucht.<ref name="franceculture" />


Dem Tenor der Fragen nach zu urteilen, die Modiano Anfang Oktober 2014 in einem Interview des Verlags [[Éditions Gallimard|Gallimard]] zu seinem neuesten Roman gestellt wurden, nimmt die Geschichte durch einen Verlust ihren Anfang, nicht durch etwas Wiedergefundenes. Verlust und Erinnerung stehen hier zueinander im Verhältnis: Je mehr der Erzähler mit dem Aufspüren seiner Kindheit weitermacht, desto weniger versteht er. Als ob es unabwendbar wäre, dass Sich-Erinnern zu mehr Unverständlichkeit führt anstatt zu mehr Klarheit. Der Protagonist Jean Daragane hat Schwierigkeiten damit, eine schlüssige Darstellung seiner eigenen Vergangenheit zu verfassen, was die Frage nahelegt, ob es unmöglich ist, eine Autobiografie zu verfertigen. Neben anderen Erinnerungen kommt Daragane auch einer seiner Jugendromane wieder in den Sinn, der wie eine Flaschenpost dazu dienen sollte, eine bestimmte Frau wiederzufinden, sozusagen ein Roman mit einer einzigen Leserin. Allem Anschein nach fabriziert der Protagonist vielmehr selbst Geheimnisse aus ziemlich alltäglichen Ereignissen. Will man so ein Geheimnis auflösen, gelangt man zu einer unvermeidlichen Enttäuschung.<ref>Modianos Anworten finden sich im Eintrag zu seiner Person zusammengefasst, im Abschnitt zu ''Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier''. Quelle: Interview mit Patrick Modiano, [http://www.gallimard.fr/Media/Gallimard/Entretien-ecrit/Entretien-Patrick-Modiano.-Pour-que-tu-ne-te-perdes-pas-dans-le-quartier Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier de Patrick Modiano], ''gallimard.fr'', 2. Oktober 2014</ref>
Dem Tenor der Fragen nach zu urteilen, die Modiano Anfang Oktober 2014 in einem Interview des Verlags [[Éditions Gallimard|Gallimard]] zu seinem neuesten Roman gestellt wurden, nimmt die Geschichte durch einen Verlust ihren Anfang, nicht durch etwas Wiedergefundenes. Verlust und Erinnerung stehen hier zueinander im Verhältnis: Je mehr der Erzähler mit dem Aufspüren seiner Kindheit weitermacht, desto weniger versteht er. Als ob es unabwendbar wäre, dass Sich-Erinnern zu mehr Unverständlichkeit führt anstatt zu mehr Klarheit. Der Protagonist Jean Daragane hat Schwierigkeiten damit, eine schlüssige Darstellung seiner eigenen Vergangenheit zu verfassen, was die Frage nahelegt, ob es unmöglich ist, eine Autobiografie zu verfertigen. Neben anderen Erinnerungen kommt Daragane auch einer seiner Jugendromane wieder in den Sinn, der wie eine Flaschenpost dazu dienen sollte, eine bestimmte Frau wiederzufinden, sozusagen ein Roman mit einer einzigen Leserin. Allem Anschein nach fabriziert der Protagonist vielmehr selbst Geheimnisse aus ziemlich alltäglichen Ereignissen. Will man so ein Geheimnis auflösen, gelangt man zu einer unvermeidlichen Enttäuschung.<ref>Modianos Anworten finden sich im Eintrag zu seiner Person zusammengefasst, im Abschnitt zu ''Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier''. Quelle: Interview mit Patrick Modiano, [http://www.gallimard.fr/Media/Gallimard/Entretien-ecrit/Entretien-Patrick-Modiano.-Pour-que-tu-ne-te-perdes-pas-dans-le-quartier Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier de Patrick Modiano], ''gallimard.fr'', 2. Oktober 2014</ref>

In ihrer Rezension für ''[[Elle (Zeitschrift)|Elle]]'' kommt Olivia de Lamberterie zum dem Ergebnis, dass man nach der Lektüre dieser Verweigerung einer Kindheit das Gefühl hat, dass Dinge, die weder ausgesprochen wurden noch aufgelöst worden sind, möglicherweise noch schlimmer sind als zu wissen, dass Annie Astrand Akrobatin war, eine gewisse Zeit im Gefängnis verbracht hat und dass Daragane anschließend mit ihr in Monmartre lebte, als sie ihm den Zettel mit der Adresse ihrer Wohnung zusteckte.<ref name="elle">Olivia de Lamberterie, [http://www.elle.fr/Loisirs/Livres/News/Le-roman-de-la-semaine-Pour-que-tu-ne-te-perdes-pas-dans-le-quartier-de-Patrick-Modiano-2846552 Le Roman de la semaine? « Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier » de Patrick Modiano], ''elle.fr'', 10. Oktober 2014</ref> Für Bruno Corty bleibt nach der Lektüre für erfahrene Modiano-Leser die Empfindung eines Fließens und einer merkwürdigen Atmosphäre in Vermischung mit dem Modergeruch einer problematischen Vergangenheit. Neuen Lesern im Universum von Patrick Modiano, das seinesgleichen suche, sagt Corty ein Gefühl des Verzaubertseins voraus.<ref name="figaro" />


== Bekannte Namen ==
== Bekannte Namen ==

Version vom 25. November 2014, 13:54 Uhr

Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier (2014, auf Deutsch etwa: Damit du dich nicht im Viertel verläufst[1]) ist der neueste der 28 Romane von Patrick Modiano, dem Literaturnobelpreisträger des Jahres 2014. Das Buch ist als „Schatten eines Zweifels“ bezeichnet worden.[2]

Titel und Motto

Die Worte des Titels, „Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier“, kehren gegen Ende des Werks auf einem viermal gefalteten Zettel wieder, als handgeschriebene Phrase in der großen, altertümlichen Schrift von Annie Astrand, einer Frau im Alter der Mutter des Erzählers. Später erinnert er sich, wie er als Junge allein in Paris herumgelaufen ist, nur mit diesem Zettel in der Tasche. Vor allem stand auf diesem Blatt Papier die aktuelle Wohnadresse von Annie und ihm. Im letzten Teil des Romans werden Begebenheiten aus der Jugendzeit mit weiteren „pour que“ („damit“)-Konstruktionen formuliert: „damit er sich (im Bahnhof) nicht in der Menge verliert“, „damit er nicht das Gleichgewicht verliert“, „damit er sich gut seinen neuen Namen würde merken können.“[3]

Das Motto „Ich kann nicht die Realität von Fakten, sondern nur deren Schatten präsentieren“[4] ist der Autobiografie von Stendhal, Leben des Henry Brulard (1890), entnommen.

Inhalt

Im Leben des Schriftstellers Jean Daragane, der jahrelang sorgsam versucht hatte, sich von allem abzuschirmen[5], bestehen eines Tages zwei ihm unbekannte junge Leute darauf, ihn persönlich kennenzulernen. Sie geben vor, im Restaurant des Bahnhofs von Lyon[6] sein Adressbuch gefunden zu haben, was dazu führt, dass er sich mit ihnen in einem Café in der Nähe des Boulevard Haussmann trifft. Nahezu gegen seinen Willen wird er in deren Nachforschungen bezüglich eines gewissen Guy Torstel verwickelt.[6] Dieser Name komme sowohl in ihren Unterlagen als auch in Daraganes Adressbuch vor, sagt Gilles Ottolini und will wissen, ob Daragane diesen Torstel kennt. Aber der erinnert sich nicht.[7] Ottolonis misteriöse[7] Gefährtin Chantal Grippay versucht den Schriftsteller dazu zu bringen, ihrem Freund dabei zu helfen, ein Buch zu schreiben, und trifft sich zu diesem Zweck heimlich mit ihm. Daragane vermutet, dass es nur angeblich heimlich ist, und findet heraus, dass es die Firma gar nicht gibt, bei der Ottolini laut Chantal arbeitet. Daragane stellt für sich fest, dass Chantal ihn an eine frühere Freundin gleichen Namens erinnert. Als er sich die von Gilles erstellte Akte nach dem Weggang von Chantal ansieht, fällt ein Foto von ihm als Kind heraus. Ansonsten besitzt er selbst noch Unterlagen in einem Koffer, zu dem er den Schlüssel verloren hat.[5]

Daragane lässt sich von den Ereignissen treiben wie eine Feder im Wind.[2] Schnell tauchen weitere Namen auf, weitere Ereignisse und Lokalitäten aus der Vergangenheit. Sie bringen die Gegenwart ebenso durcheinander wie das Gemüt des Erzählers.[7] Es gibt viele falsche Fährten und das Ganze spielt sich in drei verschiedenen Zeiten ab: in der Kindheit des Schriftstellers, als er seinen ersten Roman schreibt und als er um die Mitte 60 ist.[6] [5] Zudem ist nicht leicht auszumachen, wann und in welcher Reihenfolge Daragane bestimmte Personen aus seiner Vergangenheit trifft wie alt er zu dem jeweiligen Zeitpunkt ist und ob im Traum oder nicht: Annie Astrand, Guy Torstel sowie den Arzt Louis Voustraat.

Blick auf das Bahnhofsgebäude in Saint-Leu-la-Forêt, April 2007

Letzterer war in Saint-Leu-la-Forêt der direkteste Nachbar einer verruchten Gruppe von Erwachsenen, mit denen Daragane zeitweise aufgewachsen ist, ohne seine Mutter. Voustraat ahnt möglicherweise, wer Daragane ist, aber dieser will sich ihm nicht zu erkennen geben und nimmt seinen Zug. Chantal und Gilles, die er im Geiste inzwischen duzt, rufen ihn nicht mehr an und tauchen auch als Figuren nicht wieder auf.

Am Bahnhof Èze-sur-Mer im Jahr 2006
Haus in Èze

Die Geschichte endet damit, dass der Erzähler sich 20 Jahre später an einen Ort an der Côte d’Azur begibt, Èze-sur-Mer, dessen kleinen Bahnhof er wiederzuerkennen glaubt. Dort hatte er mit Annie nach einer langen Zugfahrt Station gemacht, als diese nach Rom unterwegs war, wo man sie nicht würde finden können. Er erinnert, wie man sich fühlt, wenn man nach einer unruhigen Nacht mit Telefonaten im Zimmer nebenan durch das Geräusch eines wegfahrenden Autos aufwacht und nach und nach gewahr wird, dass im Haus niemand mehr ist als man selbst.

Erzählweise und Interpretation

In seiner Rezension für Tribune de Genève schreibt Pascal Gavillet: Die Architektur des Romans baut darauf auf, dass Fährten gestört werden. Unklar ist, wer an dem Suchspiel beteiligt ist und womit. Alles ist komplexer als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Die Reflexionen des Erzählers mischen sich im Laufe der Geschichte so stark mit den Nachforschungen, dass man sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Der erste Satz ist ohne Subjekt: „Nahezu nichts“, womit der Wille zu Abstraktion selbstsicher zum Ausdruck gebracht wird. Hier ist kein „ich“, aber dennoch ein allwissender Erzähler, der zeitgleich mit dem Leser die Puzzleteile einer Realität entdeckt. Alles dreht sich um einen Punkt, der außerhalb dieser Fiktion selbst liegt. Der Leser wird unablässig verwirrt und man weiß nicht, woher bei der Lektüre dieses Empfinden von Leere kommt, um nicht zu sagen Panik. Zentrale Figur ist die Erinnerung und deren Abwesenheit.[7]

Für Bruno Corti hingegen, in seiner Rezension für Le Figaro, laufen die Fäden bei der Figur von Annie Astrand zusammen.[2] Auch Natalie Crom, in der Debatte bei France Culture am 3. Oktober 2014, ist der Ansicht, dass Annie Astrand die zentrale Figur des Buches ist: eine unbestimmbare, komplexe Mutterfigur, ein Phantom. Und das, obwohl auf stilistischer Ebene eine große Klarheit herrsche, die sprachlich pur und ästhetisch ausbalanciert sei. Die Hauptfigur hangelt sich bei den Nachforschungen an einzelnen Namen entlang und dieser sei der wichtigste.[6] Im selben Gespräch bei France Culture äußert sich Laurent Nunez dahingehend, dass es hier um Doubles gehe: Gilles und Jean, Chantal und Annie seien paarweise aufeinander beziehbar, es gibt Namensänderungen, gefälschte Ausweise, unrichtige Adressen und nicht zuletzt ist Geschriebenes nicht mehr da (der erste Teil des ersten Romans von Daragane) und es wird quasi eine Rekonstruktion versucht.[6]

Dem Tenor der Fragen nach zu urteilen, die Modiano Anfang Oktober 2014 in einem Interview des Verlags Gallimard zu seinem neuesten Roman gestellt wurden, nimmt die Geschichte durch einen Verlust ihren Anfang, nicht durch etwas Wiedergefundenes. Verlust und Erinnerung stehen hier zueinander im Verhältnis: Je mehr der Erzähler mit dem Aufspüren seiner Kindheit weitermacht, desto weniger versteht er. Als ob es unabwendbar wäre, dass Sich-Erinnern zu mehr Unverständlichkeit führt anstatt zu mehr Klarheit. Der Protagonist Jean Daragane hat Schwierigkeiten damit, eine schlüssige Darstellung seiner eigenen Vergangenheit zu verfassen, was die Frage nahelegt, ob es unmöglich ist, eine Autobiografie zu verfertigen. Neben anderen Erinnerungen kommt Daragane auch einer seiner Jugendromane wieder in den Sinn, der wie eine Flaschenpost dazu dienen sollte, eine bestimmte Frau wiederzufinden, sozusagen ein Roman mit einer einzigen Leserin. Allem Anschein nach fabriziert der Protagonist vielmehr selbst Geheimnisse aus ziemlich alltäglichen Ereignissen. Will man so ein Geheimnis auflösen, gelangt man zu einer unvermeidlichen Enttäuschung.[8]

In ihrer Rezension für Elle kommt Olivia de Lamberterie zum dem Ergebnis, dass man nach der Lektüre dieser Verweigerung einer Kindheit das Gefühl hat, dass Dinge, die weder ausgesprochen wurden noch aufgelöst worden sind, möglicherweise noch schlimmer sind als zu wissen, dass Annie Astrand Akrobatin war, eine gewisse Zeit im Gefängnis verbracht hat und dass Daragane anschließend mit ihr in Monmartre lebte, als sie ihm den Zettel mit der Adresse ihrer Wohnung zusteckte.[5] Für Bruno Corty bleibt nach der Lektüre für erfahrene Modiano-Leser die Empfindung eines Fließens und einer merkwürdigen Atmosphäre in Vermischung mit dem Modergeruch einer problematischen Vergangenheit. Neuen Lesern im Universum von Patrick Modiano, das seinesgleichen suche, sagt Corty ein Gefühl des Verzaubertseins voraus.[2]

Bekannte Namen

An bekannten Namen fallen im Gespräch zwischen Daragane und Louis Voustraat Wanda Landowska und Olivier Larronde. Auch könnte mit Roger Vincent diejenige Person gemeint sein, die unter diesem Namen als Schauspieler bekannt ist (und bürgerlichen Namens Henri Roger Sorin hieß).

Ausgaben

  • Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier. roman, Paris: Gallimard 2014, ISBN 9782070146932

Einzelnachweise

  1. Andreas Platthaus, Nobelpreisträger Patrick Modiano. Es gibt die Pflicht zur Erinnerung, faz.net, 9. Oktober 2014
  2. a b c d Bruno Corty, Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier de Modiano : l'ombre d'un doute, lefigaro.fr, 16. Oktober 2014, in französischer Sprache
  3. Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier. roman, Paris: Gallimard 2014, S. 141, 142, 144.
  4. Im Original: „Je ne puis pas donner la réalité des faits, je n'en puis présenter que l’ombre.“
  5. a b c d Olivia de Lamberterie, Le Roman de la semaine? « Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier » de Patrick Modiano, elle.fr, 10. Oktober 2014
  6. a b c d e Alexandre Astier in: Alexandre Astier, Nathalie Crom (Télérama) und Laurent Nunez (Marianne), Littérature : Rien que la vie et Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier, franceculture.fr, 3. Oktober 2014 Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag. Der Name „franceculture“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert.
  7. a b c d Pascal Gavillet, Prix Nobel de littérature, Patrick Modiano explore l’oubli dans son dernier roman, tdg.ch, 9. Oktober 2014
  8. Modianos Anworten finden sich im Eintrag zu seiner Person zusammengefasst, im Abschnitt zu Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier. Quelle: Interview mit Patrick Modiano, Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier de Patrick Modiano, gallimard.fr, 2. Oktober 2014
  9. „à l'occasion de la parution“